Falzder, Ernst (2010): Freuds Briefwechsel als paralleles Oeuvre. Zeitschrift des SAP, Heft 17, August 2010, S. 8-19.

Falzder, Ernst (2010): Freuds Briefwechsel als paralleles Oeuvre. Zeitschrift des SAP, Heft 17, August 2010, S. 8-19.
 
Lassen Sie mich bitte gleich am Anfang die Erwartungen etwas dämpfen. In einer guten halben Stunde ist es unmöglich, einen auch nur halbwegs adäquaten Überblick über die Briefwechsel von Sigmund Freud und ihre Bedeutung als paralleles Werk zu geben. Ich kann bestenfalls eine Ahnung davon vermitteln, welch faszinierende Welt sich in diesen Briefen auftut, welch ein Reichtum an Informationen in ihnen verborgen ist, und wie viele Stellen es darin gibt, aus denen wir Freuds Werk, seine Theorie und seine Technik besser verstehen können, wie umgekehrt die Kenntnis seines Werkes dabei hilft, die Briefe mit Gewinn lesen zu können. Die Briefe können über weite Strecken als laufender Kommentar zum Werk und zur analytischen Arbeit Freuds gelesen werden. Ich behaupte sogar, dass man Freud und sein Werk nicht hinreichend verstehen kann, wenn man nicht auch seine Briefe – und da meine ich vor allem seine großen Schüler- und Freundeskorrespondenzen – gelesen hat.
Um Ihnen eine Vorstellung von den Dimensionen zu geben: Seriöse Schätzungen, aufgrund der erhaltenen Briefe, aber auch z.B. aufgrund von Listen, die Freud über seinen Briefverkehr geführt hat, gehen davon aus, dass er im Laufe seines Lebens 20.000 oder mehr Briefe geschrieben hat, von denen mindestens 10.000 erhalten sind (Fichtner, 1989, S. 810; eine Übersicht über erfolgte und geplante Veröffentlichungen von Freud-Briefen in Falzeder, 2007). Wenn wir bei einer Veröffentlichung realistischer Weise noch die Einleitungen, editorischen und textkritischen Fußnoten, Abbildungen, Literaturverzeichnisse, Anhänge, Indices usw. hinzunehmen, ergäbe eine Gesamtausgabe dieser 10.000 erhaltenen Briefe inklusive der Gegenbriefe etwa 60 dicke Bände à 500 Seiten! (FN 1) Rein quantitativ verblasst daneben sein wissenschaftliches Gesamtwerk, selbst wenn wir die nicht-psychoanalytischen Schriften dazu nehmen.
Freuds Briefe also. Ich gestehe, dass es mir in all den Jahrzehnten nie langweilig geworden ist, sie zu lesen. Um Ihnen von Freuds stilistischer Größe und seiner meisterhaften Sprachbeherrschung, seinem Witz und seiner beißenden Schärfe, seiner Beobachtungsgabe, aber auch seinen Schwächen einen ersten Eindruck zu geben, habe ich eine Art „Perlensammlung“ zusammengestellt. Das sind, chronologisch geordnet, einfach Zitate, die mir aus irgend einem Grund im Gedächtnis hängen geblieben sind, ohne irgendein Auswahlprinzip. Ich habe mich einfach hingesetzt und gewartet, welche Briefzitate mir in den Kopf kamen, und dann die Quelle gesucht und notiert. Das beginnt mit dem frühesten erhaltenen Freud-Brief überhaupt, der mir bekannt ist, geschrieben im Alter von sechs Jahren, und endet mit dem erstaunlichen Eingeständnis wenige Monate vor seinem Tod: „Wie unvollständig doch alle meine früheren Analysen waren!“ Da sind berühmt gewordene Zitate darunter, wie jenes über die packende Macht des König Ödipus (aus den Fließ-Briefen), aber auch Stellen aus Briefen, die noch nirgends veröffentlicht wurden, wie jene über den Effekt des Zusammentreffens von amerikanisch-demokratischem Sinn und jüdischer Chuzpe.
Eine sehr subjektive Auswahl aus den „Best of“, sicher, und natürlich hat Freud viel trockener geschrieben, wenn er etwa seinen Sohn Martin bat, gewisse Geldüberweisungen vorzunehmen. Aber selbst „noch der kleinste und unwichtigste Brief trägt“, um Gerhard Fichtner zu zitieren, „den Stempel seiner Sprache und seines Denkens“ (1989, S. 806), zeigt, wie man auch sagen könnte, die Pranke des Löwen. Selbst in ansonsten trockenen Nachrichten über geschäftliche und finanzielle Angelegenheiten usw. finden sich doch in fast jedem Brief kleine Perlen, überraschende Wendungen u.ä. Schon sein Gymnasiallehrer hatte Freud bescheinigt, er schreibe das, was Herder einen „idiotischen Stil“ nannte, also „einen Stil, der zugleich korrekt und charakteristisch ist“ (Freud, 1960, S. 6).
Als eine erste Auswahl von Freuds Briefen 1960 erschien, kommentierte Walter Jens: „unser Land ist um einen bedeutenden, endlich entdeckten Schriftsteller reicher geworden“ (in Fichtner, 1989, S. 804f.). Der Schriftsteller Arnold Zweig schrieb an Freud: „Sie wissen auch, daß ich der Meinung bin, Sie seien der Schlußpunkt der österreichischen Literatur, die immer als psychologische und schriftstellerisch meisterhafte Seelenzergliederung ihr Lebensrecht gehabt hat“ (Freud & A. Zweig, 1968, S. 73). Der Philosoph Walter Kaufmann nannte sechs Autoren, „die die beste deutsche Prosa nach Luther […] schrieben: Lessing und Goethe, Heine und Nietzsche, Freud und Kafka“ (1980, S. 15). (FN 2) Der Literaturwissenschaftler und -kritiker Harold Bloom bezeichnete Freud als „the greatest modern writer“ (Bloom, 1986). Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass selbst, wenn sich alle seine Ideen und Theorien als falsch herausstellen sollten – was ich überhaupt nicht glaube –, er trotzdem als einer der besten Schriftsteller deutscher Sprache im 20. Jahrhundert bestehen bleiben würde. Dies gilt nicht nur für seine Fallgeschichten, von denen Freud selbst schrieb, sie seien „wie Novellen zu lesen“ (Breuer & Freud, 1895d, S. 227), nicht nur für sein sonstiges publiziertes Werk, sondern auch, und in besonderem Maße, für seine Briefe.
Man sollte sich allerdings von der anscheinend mühelosen Leichtigkeit, mit der Freud schrieb, und von der angenehmen Lesbarkeit nicht täuschen lassen. Wie komplex, konnotationsreich und tiefgründig seine Sprache ist, zeigt sich spätestens dann, wenn man ihn übersetzt – wovon nicht zuletzt die notorischen Diskussionen und Konflikte um getreue Ausgaben seiner Werke in anderen Sprachen zeigen. (FN 3) Ich spreche da auch aus eigener Erfahrung, da ich auch als Übersetzer ins Englische arbeite und z.B. an der Übersetzung der Freud/Abraham-Briefe mitbeteiligt war.
Abgesehen von dem Lesevergnügen, das sie bereiten, sind Freuds Briefe eine einzigartige historische Quelle, und dies in mehrfacher Hinsicht. (FN 4) Zuerst einmal sind sie das wichtigste Primärmaterial für biographische Daten zu Freuds Leben. Mit Hilfe der Briefe können wir z.B. für verschiedene Epochen rekonstruieren, was er an welchen Tagen tat, teilweise so genau, als ob wir seinen Terminkalender vor uns liegen hätten. (So schrieb er etwa am 4. Januar 1924 Briefe an Abraham, Brill, Pfister und Wittels, zeichnete einen Rundbrief Ranks und erhielt einen Brief von Jones.) Andererseits gibt es Perioden, in denen wir nur wenige oder gar keine Briefe vorliegen haben, was eine entsprechende Lücke in der Biographik zur Folge hat. So liegt genau deswegen „[z]wischen dem Auslaufen der Fließ-Briefe und dem Beginn der Korrespondenz mit Jung 1906 … eine terra incognita in Freuds Erwachsenenleben“ (Schröter, 2006, S. 222).
Zweitens sind die Briefe eine hervorragende Quelle für die Geschichte der so genannten psychoanalytischen Bewegung. Freud stand mit deren Hauptrepräsentanten in ständigem brieflichem Kontakt, und jeder, der zu einem bestimmten Kapitel dieser Geschichte etwas wissen will, tut gut daran, den Niederschlag der Ereignisse in den verschiedenen Briefwechseln zu verfolgen. Es stellt sich nämlich heraus, dass Freud praktisch nie ein und dasselbe an verschiedene Adressaten schrieb, sondern dass er oft ganz unterschiedlich gefärbte, anders akzentuierte, ja teilweise sogar widersprüchliche Darstellungen gab – auch abhängig von der Art, der Intimität und Vertraulichkeit der Beziehung, die er zum Empfänger hatte, und die der Empfänger zu ihm hatte. Dies wurde schon öfter bewundernd hervorgehoben und als Beweis für Freuds Fähigkeit interpretiert, empathisch auf den jeweiligen Empfänger einzugehen. Dies ist schon richtig, doch sind derartige Unterschiede oft auch darauf zurückzuführen, dass Freud politisch-taktische Absichten verfolgte und dabei verschiedenen Adressaten ganz unterschiedliche Signale sendete. Besonders deutlich lässt sich das z.B. in Bezug auf Freuds Politik zeigen, die er zur Frage betrieb, wer jeweils nächster Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung werden sollte (Falzeder, in Vorb.).
Drittens sind die Briefe eine zentrale Quelle für die psychoanalytische Ideengeschichte. Das zeigt sich z.B. gut in den Konflikten in den Jahren 1923 und 1924, wo es um die neuen Ansichten von Ferenczi und Rank ging, und bei denen sich theoretische Differenzen mit persönlichen Sympathien und Antipathien, Eifersüchteleien, Kämpfen um die Kronprinzenrolle usw. heillos miteinander vermischten (vgl. Leitner, 1998). Daneben findet sich in den Briefen eine große Anzahl von Stellen, in denen Freud erstmals neue Ideen mitteilte, noch bevor er sie im Druck erwähnte. Oft können wir daraus auch den Zusammenhang erkennen, in dem Freud dazu kam, diese oder jene Idee zu entwickeln – ein unschätzbarer Vorteil, wenn man sich mit Ideengeschichte und dem so genannten Entstehungszusammenhang beschäftigt. Oft schickte er auch Entwürfe keimender Arbeiten an seine Schüler, und wir können nachvollziehen, wie er die Endfassung im Lichte ihrer Reaktionen modifizierte – oder auch nicht (zwei Beispiele, die ich wahllos herausgreife, wären die dicht gedrängten Gedanken, die er Ferenczi und Abraham über „Trauer und Melancholie“ zukommen ließ, oder sein Manuskript zur „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“, das er im Komitee zirkulieren ließ).
Ein besonders schönes Beispiel für die Briefe als Quelle für den Entstehungszusammenhang einer einflussreichen neuen Idee ist wohl die Fallgeschichte von Frau Elfriede Hirschfeld, die ich anhand der verstreuten Erwähnungen dieses Falles in Freuds Werken, aber vor allem in Briefen an verschiedenste Adressaten rekonstruierte. Es war dies jener entscheidende Fall, anhand dessen Freud sein Konzept einer prä-ödipalen, sadistisch-analen Phase entwickelte (vgl. Falzeder, 1995).
Viertens sind Freuds Briefe auch ein Medium, das er benützte, um die analytische Arbeit anderer zu supervidieren (oder gar andere zu analysieren, wie z.B. bei Eugen Bleuler; vgl. Falzeder, 2004). Freuds technische Ratschläge erschienen ja erst zwischen 1911 und 1915, zu einem Zeitpunkt also, wo viele seiner Schüler schon jahrelang analytisch gearbeitet hatten. Tatsächlich beginnt die „Geschichte von supervidierter praktischer Arbeit … mit Freuds zahllosen Briefen, die er in Antwort auf Kollegen schrieb, die ihn um seine Meinung zu psychoanalytischen Fällen fragten“ (Pomer, 1966, S. 55). Edoardo Weiss brachte seine Korrespondenz mit Freud unter dem bezeichnenden Titel Freud as a Consultant (1970; dt.: Briefe zur psychoanalytischen Praxis) heraus. Die Briefe zwischen Freud und Oskar Pfister (gekürzt 1963, vollständig im Freud-Archiv in der Library of Congress) handeln ausführlich von zwei wichtigen Fällen (einer davon ist Frau Hirschfeld) und von Behandlungsfragen. Ferenczi fragte Freud gleich nach seinem Antrittsbesuch in Wien über dessen Meinung zur Behandlung einer paranoiden Frau (Freud & Ferenczi, 1993, S. 52). Am Beginn der Freud/Jung-Korrespondenz steht Jungs Anfrage bezüglich einer schwierigen Analyse mit einer russischen Studentin – Sabina Spielrein (Freud & Jung, 1974, S. 7). Auch in diesem Briefwechsel spielt Frau Hirschfeld übrigens eine prominente Rolle. Abraham schrieb als angehender Analytiker, er habe einen Fall von Zwangsneurose in Analyse genommen; nach zwei Sitzungen „ohne allzugroße Widerstände“ stecke er nun aber fest (Freud & Abraham, 2009, S. 77). Freud antwortete postwendend: „Hauptregeln: [1.)] Zeit lassen, wie der Salzburger Wahlspruch lautet. Seelische Veränderungen vollziehen sich nie rasch, außer in Revolutionen (Psychosen). Nach zwei Stunden schon unzufrieden, daß man nicht alles weiß! 2.) Problem, wie finde ich weiter, darf es nicht geben. Der Pat. zeigt den Weg“ (ibid., S. 81f.).
Damit zusammenhängend, tauchen fünftens viele technische Konzepte erstmals in den Briefen auf. Ein bekanntes Beispiel ist jenes der Gegenübertragung, das erstmals – mit Bezug auf Jungs Grenzüberschreitungen mit Sabina Spielrein – in einem Brief an Jung erwähnt wird (Freud & Jung, 1974, S. 255). Wir können also die Entstehung von sowohl technischen wie theoretischen Konzepten in statu nascendi erleben.
In seinen Briefen ließ Freud Dampf ab, belehrte, tadelte, gab Anregungen, diskutierte, taktierte, betrieb Politik, blieb in Kontakt mit seiner großen Familie, seinen Schülern, Verehrern und auch Gegnern. Praktisch sein gesamter Verkehr mit anderen jenseits persönlicher Treffen lief über Briefe und Karten, interpunktiert von gelegentlichen Telegrammen oder Rohrpostbriefen, wenn es mal ganz dringend war. (FN 5) Es gab natürlich weder Handys noch Internet. Der Freudsche Haushalt war zwar einer der ersten in Wien mit einem Telephonanschluss, aber Freud hasste das Telephon und vermied, wann immer möglich, es zu benutzen (M. Freud, 1957, S. 38). (FN 6)
Anders als etwa bei Thomas Mann können wir auch davon ausgehen, dass Freud nicht mit einem Auge auf eine mögliche spätere Veröffentlichung schrieb. Noch zu seinen Lebzeiten stellte sich zwar heraus, dass seine Autographen wertvoll werden könnten, und er deutete einmal an, er könne seinen Enkeln so ein Einkommen sichern, aber er hat sich mehrmals emphatisch gegen eine Veröffentlichung seiner Privatbriefe ausgesprochen. Er hätte wohl einem seiner Lieblingsschriftsteller, Heinrich Heine, zugestimmt, der in seinen Memoiren geschrieben hatte: „[E]s ist eine unerlaubte und unsittliche Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftsteller zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind. Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer Felonie (FN 7) schuldig, die Verachtung verdient.“
Als ich 1986 die Freud/Ferenczi-Briefe das erste Mal las, (FN 8) war meine unmittelbare Reaktion eine Mischung aus einer immensen Faszination und einem Unbehagen, unerlaubt in eine Intimsphäre eingedrungen zu sein. Sollten diese Briefe tatsächlich in toto veröffentlicht werden? 1987 traf ich, über Vermittlung meines Mentors André Haynal, beim Kongress der europäischen psychoanalytischen Vereinigungen in Budapest Mark Paterson von S. Freud Copyrights, was den Anfang meiner Rolle als Mitherausgeber, dann Hauptherausgeber, dieser Briefe markierte. Ich habe dann der französischen Ausgabe dieses Korrespondenz das Heine-Zitat als Motto vorangestellt, nicht ohne hinzu zu fügen: „Die folgenden Briefe wurden nicht für das große Publikum geschrieben. Sie seien trotzdem gedruckt und verlegt, und zwar im Interesse der Psychoanalyse – die nicht von den Personen getrennt werden kann – und einer Annäherung an die historische Wahrheit“ (Freud & Ferenczi, 1992, S. VII).
Ich konnte dann eine weitere große Korrespondenz Freuds herausgeben, jene mit Karl Abraham, der in vielerlei Hinsicht ein Antipode zu Ferenczi war. Die Ausgabe erschien zuerst auf Englisch (2002). Für die deutsche Edition (2009) konnte ich Ludger Hermanns, ausgewiesenen Abraham-Spezialisten und Archivar der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, als Mitherausgeber gewinnen. Gemeinsam machten wir uns an eine gründliche Überarbeitung des Anmerkungsapparates, fügten auch textkritische Anmerkungen und einen Appendix hinzu, sodass die Qualität dieser Ausgabe noch einmal deutlich gesteigert werden konnte.
Wenn ich Sie dazu verführen konnte, sich über Heines Warnung hinwegzusetzen und in die Welt der Freud-Briefe einzutauchen – falls Sie es nicht ohnehin schon getan haben –, so bin ich davon überzeugt, dass Sie nicht enttäuscht sein werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
 
Fußnoten:
(FN1) Zum Vergleich: die 497 Briefe zwischen Freud und Abraham führten zu einer Edition (2009) von insgesamt 943 Seiten, die 821 Briefe zwischen Freud und Eitingon zu einer Ausgabe (2004) von 1049 Seiten, die 1247 Briefe zwischen Freud und Ferenczi zu 1889 Seiten (1993-2005). In Kürze – am 23. Mai 2010, um genau zu sein – erscheinen gut 400 Briefe und Karten Freuds an seine Kinder (Freud, 2010), die oft recht kurz gehalten sind. Selbst dieses Buch wird 680 Seiten haben. Inklusive der herausgeberischen Zusätze kann man also etwa eineinhalb Druckseiten pro Brief rechnen.
(FN 2) Für eine Diskussion über Freud als Schriftsteller siehe auch Mahony (1982).
(FN 3) Über Übersetzungen ins Englische gibt es mittlerweile eine ganze Literatur. Stellvertretend seien hier nur Bettelheim (1983) und Ornston (1992) genannt. Ähnliches gilt für Übersetzungen ins Französische und die Diskussionen über die für die Neuausgabe der Oeuvres Complètes teilweise neu geschaffene Kunstsprache (vgl. Bourgignon et al., 1989). – Kurz nachdem ich diesen Vortrag gehalten hatte, erschien im Standard ein Interview mit der Übersetzerin Johanna Borek, die zu dieser Frage Folgendes bemerkt: „Freud benützt zwei Ebenen der Begrifflichkeit, eine deutsche und eine lateinische. Freud wählt als Sprache seiner Terminologie ganz bewusst beide: Libido und Sublimation einerseits, Trieb, Verdrängung, Deutung andererseits. Er benützt deutsche Begriffe, mit denen ganz andere Konnotationen möglich sind. Wie ein Schriftsteller lässt er die Sprache selbst arbeiten und formuliert in einer Weise, die seine Texte nicht auf eine Aussage reduzierbar macht. Deshalb ist Freud so schwer zu übersetzen, und die alten Übersetzungen sind völlig ungenügend – aber sie haben die Freud-Rezeption in anderen Ländern geprägt“ (Der Standard, 5. Mai 2010, S. 14). Eine Konsequenz ist, dass diejenigen, die Freud nur aus Übersetzungen kennen, oft mit einem Freud arbeiten, den es im Deutschen gar nicht gibt.
(FN 4) Briefe als historische Quelle sind eine aussterbende Gattung. Zukünftige Historiker, die über unser Zeitalter von Email, Handy, SMS, Facebook, YouTube und Twitter schreiben werden, werden ohne diese einzigartige Informationsquelle auskommen müssen. Obwohl manche von uns ihre Emails im Internet oder in einer Abfolge von Laptops speichern mögen, so können zum einen solche Daten auch leicht verloren gehen, und zum andern unterscheidet sich diese Kommunikationsform ganz erheblich von klassischen Briefwechseln. Das Schreiben von Briefen war eine besondere Kunstform. Ein besonderes Charakteristikum von Briefen ist z.B. der zeitliche Abstand zwischen Mitteilung und Antwort, der umso größer war, je größer die geographische Entfernung zwischen den Korrespondenten war. Eine weitere Informationsquelle, die mehr und mehr verschwindet, sind mit der Hand oder der Maschine geschriebene Manuskripte, mit all ihren Verschreibern oder Tippfehlern, ihren Schichten von Korrekturen und Einfügungen usw.
(FN 5) Das damalige Postsystem war erstaunlich effizient. Briefe wurden mehrmals am Tag ausgetragen, sodass Freud in Wien z.B. noch am Abend desselben Tages auf einen Brief Ferenczis antworten konnte, der in Budapest am Morgen aufgegeben worden war. Darüber hinaus gab es die Möglichkeit von Telegrammen – auch eine Kommunikationsform, die heute praktisch nicht mehr existiert (die Österreichische Post hat ihren Telegrammdienst mit Ende 2005 eingestellt). In Wien gab es auch ein hocheffizientes Rohrpostsystem. Im Jahr 1913 waren auf diese Art bereits 53 Postämter mit einer Rohrlänge von 82,5 km miteinander verbunden. „In Spitzenzeiten flitzten täglich bis zu 20.000 Zylinder (Büchse) als Rohrpostzug zu je maximal 15 Büchsen durch die Rohre unter der Stadt. Dabei erreichten die Rohrpostzüge ein Tempo von fast 50 km/h. … Am 2. April 1956 stellte die Post aufgrund sinkender Transportzahlen und infolge der Zunahme der Telefonversorgung der Bevölkerung den Rohrpostbetrieb in Wien ein“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Rohrpost_in_Wien; 11.3.2010). Briefe nach Amerika allerdings reisten einige Wochen auf dem Schiff.
(FN 6) “[For Freud] conversation had to be a very personal thing. He looked one straight in the eye, and he could read one’s thoughts. … Father, aware of his power when looking at a person, felt he had lost it when looking at a dead telephone mouthpiece” (ibid., S. 39). – Im Gegensatz zu vielen seiner Schüler gab Freud z.B. auch nie seine Telephonnummer am vorgedruckten Kopf seiner Briefe an.
(FN 7) Nach dem Ausdruck für einen vorsätzlichen Bruch des Treueverhältnisses zwischen Lehnsherr und Lehnsmann (d. h. dem Lehnsträger).
(FN 8) Bei einem Studienaufenthalt im Balint-Archiv in Genf, wo eine von Michael Balint besorgte Transkription aufbewahrt wird.
 
Literatur:
Bettelheim, Bruno (1983). Freud and Man’s Soul. New York, NY: Knopf.
Bloom, Harold (1986). Freud, the greatest modern writer. New York Times Book Review, 23 March 1986.
Bourgignon, André; Pierre Cotet; Jean Laplanche & François Robert (1989). Traduire Freud. Paris: Presses Universitaires de France.
Breuer, Josef & Sigmund Freud (1895d). Studien über Hysterie. Freuds Beiträge in GW I, S. 75-312.
Falzeder, Ernst (1995). Meine Großpatientin, meine Hauptplage. Ein bisher unbekannter Fall Freuds und die Folgen. Jahrbuch  der Psychoanalyse, 34: S. 67-100.
Falzeder, Ernst (2004). Sigmund Freud und Eugen Bleuler. Die Geschichte einer ambivalenten Beziehung. Luzifer-Amor, Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 34: S. 85-104.
Falzeder, Ernst (2007). Is there still an unknown Freud? A note on the publications of Freud’s texts, and on unpublished documents. Psychoanalysis and History, 9(2), S. 201-232.
Falzeder, Ernst (in Vorb.). Freuds Rolle bei der Wahl der IPV-Präsidenten. Luzifer-Amor, Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse.
Fichtner, Gerhard (1989). Freuds Briefe als historische Quelle. Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 43: S. 803-829.
Freud, Martin (1957). Sigmund Freud – Man and Father. London: Angus and Robertson.
Freud, Sigmund (1960). Briefe 1873-1939. Hg. von Ernst und Lucie Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2., erw. Aufl. 1968.
Freud, Sigmund (2010). „Unterdeß halten wir zusammen“. Briefe an die Kinder. Hg. von Michael Schröter, unter Mitwirkung von Ingeborg Meyer-Palmedo und Ernst Falzeder. Berlin: Aufbau Verlag.
Freud, Sigmund & Karl Abraham (2002). The Complete Correspondence of Sigmund Freud and Karl Abraham 1907-1925. Completed Edition. Hg. von Ernst Falzeder. London: Karnac.
Freud, Sigmund & Karl Abraham (2009). Briefwechsel 1907-1925. Vollständige Ausgabe. Hg. von Ernst Falzeder und Ludger M. Hermanns. Wien: Turia + Kant.
Freud, Sigmund & Max Eitingon (2004). Briefwechsel 1906-1939. Hg. von Michael Schröter. Zwei Bände. Tübingen: edition diskord.
Freud, Sigmund & Sándor Ferenczi (1992). Correspondance, Tome I, 1908-1914. Hg. von Eva Brabant, Ernst Falzeder und Patrizia Giampieri-Deutsch. Paris: Calman-Lévy.
Freud, Sigmund & Sándor Ferenczi (1993-2005). Briefwechsel 1908-1933. Sechs Halbbände. Hg. von Ernst Falzeder und Eva Brabant. Wien: Böhlau.
Freud, Sigmund & Carl Gustav Jung (1974). Briefwechsel. Hg. von William McGuire und Wolfgang Sauerländer. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Freud, Sigmund & Oskar Pfister (1963). Briefe 1909-1939. Hg. von Ernst L. Freud und Heinrich Meng. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Freud, Sigmund & Edoardo Weiss (1970). Briefe zur psychoanalytischen Praxis. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1973.
Freud, Sigmund & Arnold Zweig (1968). Briefwechsel. Hg. von Ernst L. Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Kaufmann, Walter (1980). Freud, Adler, and Jung. Discovering the Mind, Vol. 3. New Brunswick, NJ: Transaction Publishers, exp. edition, 1992.
Leitner, Marina (1998). Freud, Rank und die Folgen. Ein Schlüsselkonflikt für die Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant.
Mahony, Patrick (1982). Freud as a Writer. New Haven: Yale University Press, exp. edition, 1987. Dt.: Der Schriftsteller Sigmund Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.
Ornston, Darius Gray (Hg.) (1992). Translating Freud. New Haven: Yale University Press.
Pomer, Sidney L. (1966). Max Eitingon, 1881-1943. The organization of psychoanalytic training. In Psychoanalytic Pioneers, hg. von F. Alexander et al. New York, NY: Basic Books, S. 51-62.
Schröter, Michael (2006). Briefe. In Freud-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, hg. von Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer. Stuttgart: Metzler.
Redaktion CD, 30.1.2012