Grete Bibring-Lehner: Biografie

Nichts Menschliches war ihr fremd.
Grete Bibring Lehner (1899- 1977)

Grete Bibring- Lehner kam am 11.Jänner 1899 als jüngstes Kind des sozialdemokratischen Fabrikanten Moritz Lehner und seiner Frau Victoria in Wien zur Welt. Sie wuchs mit ihren drei Geschwistern in einer wohlhabenden, gebildeten, jüdisch- intellektuellen Familie auf. Ihr Interesse für die Psychoanalyse begann bereits in der Schulzeit, wo sie der Psychologieunterricht mit 16 Jahren zum Studium von Freuds Schriften anregte.

Nach der Matura am humanistischen Gymnasium für Mädchen in Wien studierte sie von 1918 bis 1924 an der medizinischen Fakultät der Universität Wien und erhielt Ihre fachärztliche Ausbildung in Psychiatrie und Neurologie bei Julius Wagner- Jauregg und an der Neurologischen Klinik bei Emil Mattauschek .

Im 2. Studienjahr nahm sie auf Otto Fenichels Anregung am „Wiener Seminar für Sexologie“ teil, das sie gemeinsam mit ihren Studienkollegen Wilhelm Reich und ihrem späteren Mann Edward Bibring (Heirat 1921) organisierte. Dieses auf Initiative von jungen StudentInnen gegründete Seminar sollte durch sexualwissenschaftliche Forschungen „die schweren Lücken des medizinischen Lehrplans ausfüllen“ und war von Feber 1919 bis zum Sommer 1921 durch eine rege Vortragstätigkeit der StudentInnen geprägt. Grete Lehner sprach dort über Wilhelm Fliess und hielt Vorträge „Über den sexuellen Ursprung der Sprache“ und „Über traumatisch bedingtes Stottern“ (Fallend 1988, S. 28f).

Während des Studiums war sie bei Hermann Nunberg in Lehranalyse und wurde 1925 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Sie war unter den ersten 15 Kandidaten, die ihren Abschluss am neu gegründeten Lehrinstitut der WPV erlangten (Sterba, 1985).
Ende der 1920iger Jahre eröffnete sie eine Privatpraxis gemeinsam mit ihrem Mann im 7. Bezirk, war Mitarbeiterin im Ambulatorium der WPV und seit 1934 Mitglied im Lehrausschuss der WPV.
1927 wurde sie in das Propagandakomitee der WPV gewählt, das zur Aufgabe hatte die Psychoanalyse durch Vorträge, Referate, Veröffentlichungen in medizinischen Zeitschriften , aber auch durch sprachlich leicht verständliche Publikationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Mühlleitner, 1992).

1938 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich emigrierte sie mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen Georg und Thomas (damals 9 und 7 Jahre alt) und ihrer Mutter nach England. Kurze Zeit später holte sie ihre Geschwister nach. Sie arbeitete dort als Lehranalytikerin in der British Psychoanalytical Society.

Ab 1941 lebte die Familie in Amerika. Edward Bibring hatte eine Lehreinladung am Tufts Medical College in Boston erhalten. Grete Bibring wurde Mitglied der Bostoner psychoanalytischen Gesellschaft und widmete sich der psychoanalytischen Ausbildung als Lehranalytikerin.
Ihr berufliches Leben in Amerika war vielfältig und sehr erfolgreich: Neben wissenschaftlicher Tätigkeit und Lehrtätigkeit z.B. lehrte sie am Bostoner Simmons College, School of Social Work, analytische Psychologie, übernahm sie die Leitung der psychiatrischen Abteilung des Beth Israel Hospital (1946-1965) und erhielt 1961 als erste Frau eine Professur für Psychiatrie an der Harvard Medical School.
Sie war Präsidentin der Boston Psychoanalytic Society (1955), Vizepräsidentin der IPA (1959-1963) und auch Präsidentin der American Psychoanalytic Association (1962). Sie wurde mit dem Ehrentitel der Brandeis University bedacht und war unter anderem Mitglied der Amerikanischen Akademie für Kunst und Wissenschaften.

Das Interesse von Grete Bibring galt neben der Psychologie der Frau und der Entwicklung der Weiblichkeit auch der Vermittlung psychoanalytischer Erkenntnisse an andere Disziplinen, wie Medizin und Sozialarbeit.

In ihrer ersten psychoanalytischen Veröffentlichung „Über die phallische Phase und ihre Störungen beim Mädchen“ (1933) beschäftigte sie sich mit der psychosexuellen Entwicklung der Mädchen. Es ist eine Übersichtsarbeit, die die Forschungsergebnisse von 10 Jahren anhand verschiedener Autoren, wie Freud, Abraham, Deutsch, Fenichel, Horney, Klein und Riviere, darstellt. Bereits in dieser ersten wissenschaftlichen Arbeit fällt ihre Fähigkeit auf in einer klaren und verständlichen Sprache über psychoanalytische Begriffe zu schreiben.

Auch in ihren späteren Arbeiten beschäftigte sie sich mit der Psychologie der Frau. Sie war jedoch auch überzeugt davon, dass es notwendig sei die Ergebnisse psychoanalytischer Theorien in die Medizin zu integrieren und dass eine erfolgreiche medizinische Behandlung einen Arzt brauche, der die Persönlichkeit und die psychischen Bedürfnisse seiner Patienten verstehe. Dieses Interesse für die sozialen, psychischen und medizinischen Anliegen der Menschen, das wohl mit ihrer sozialdemokratischen familiären Herkunft und der Jugendzeit im roten Wien zusammenhängt, prägte ihre verschiedenen beruflichen Tätigkeiten.

In den Jahren 1957 bis 1962 arbeitete sie an einer wissenschaftlichen Studie über den Zusammenhang der psychologischen Bedeutung der Schwangerschaft und der frühen Mutter Kind Beziehung, auf die ich kurz näher eingehen möchte.

In den Gesprächen mit Frauen der Pränatalklinik, die zur psychiatrischen Begutachtung vorgestellt wurden, fanden sich gehäuft Inhalte, wie sie bei schweren psychiatrischen Krankheitsbildern beobachtet wurden, wie magisches Denken, unheilvolle Vorahnungen, depressive Symptome, primitive Ängste, introjektive und paranoide Mechanismen.
Eine Stichprobe von erstgebärenden Frauen wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten während der Schwangerschaft bis zur Geburt untersucht.

Das Ergebnis der Studie war, dass dieses Zustandsbild nicht Ausdruck der Neurose oder einer psychotischen Symptomatik sei, sondern Ausdruck der Schwangerschaft.  
Schwangerschaft wurde als eine Zeit der natürlichen Krise gesehen, als ein Reifungsprozess, in dem ähnlich wie in der Pubertät oder in den Wechseljahren ein neues inneres Gleichgewicht gefunden werden muss. Unter dem Druck des libidinösen Triebschubs dieser Lebensphasen kann es zur Wiederkehr ungelöster seelischer Konflikte aus früheren Entwicklungsphasen und zum Verlust von partiellen bzw. nicht ausreichenden Lösungen der Vergangenheit kommen. Diese Störung des seelischen Gleichgewichts führt zeitweise zu dem Bild einer schweren Desintegration. Der Ausgang dieser Krise ist von größter Bedeutung für die Bewältigung der dadurch eingeleiteten Phase (Reife in der Pubertät, Mutterschaft in der Schwangerschaft, Alter in den Wechseljahren).
Das Ziel dieser Studie war es zu einem besseren Verständnis der Krise der Schwangerschaft beizutragen, einer Krise, die jede Frau durchlaufe, die notwendig sei, um nicht nur physisch sondern auch psychisch Mutter zu werden.
Grete Bibring war überzeugt davon, dass es notwendig sei, präventive präpartale psychische Unterstützungsangebote für Frauen zu etablieren, um die frühe Mutter Kind Beziehung positiv zu beeinflussen.

Nach ihrer Pensionierung hielt sie in den 1970iger Jahren Seminare am Radcliffe College mit dem Titel „The Educated Woman“ über Probleme der weiblichen Erziehung und der beruflichen Karriere von Frauen. Grete Bibring galt als Mentorin für das Anliegen von Frauen, Beruf und Familie zu vereinbaren.

Zum Abschluss noch kurz einige Worte über die Wertschätzung, die Grete Bibring Lehner von ihrem beruflichen und privaten Umfeld zuteil wurde.

Richard Sterba beschreibt sie als „hochintelligente Frau und eine hervorragende Analytikerin mit einem ungewöhnlichen Instinkt für die innerpolitischen Vorgänge in der Vereinigung und in ihrer sozialen Umgebung“ (S. 149). Elke Mühlleitner nennt sie als eine der angesehensten Psychoanlytikerinnen, Lehranalytikerinnen und Supervisorinnen in der WPV und in der Bostoner Psychoanalytic Society; sie wird als eine engagierte Vortragende im Unterricht mit den StudentInnen beschrieben, die die Fähigkeit hatte Menschen für die Psychoanalyse zu begeistern.
Als sie sich von Harvard in den Ruhestand zurückzog, wurde sie in einem Zeitungsartikel mit dem Titel To Whom Nothing Human Has Been Foreign, für ihre Verdienste Menschen als soziale und psychophysische Lebewesen zu verstehen, gewürdigt.
Helen Tartakoff, beschreibt sie als eine Frau mit großem Einfallsreichtum, Mut und der Fähigkeit die Realität anzuerkennen.

Im Archiv der Bostoner Psychoanalytic Society gibt es übrigens neben ihrer beruflichen, familiären auch eine kulinarische Biographie. In den politisch unsicheren Zeiten der späten zwanziger und dreißiger Jahre begann sie, vielleicht um sich auf die bevorstehende Emigration vorzubereiten, kochen zu lernen. Sie lud regelmäßig ihre Freunde zum sonntäglichen Mittagessen ein. Ihre Aufzeichnungen über diese Zusammenkünfte sind ebenso klar und strukturiert, wie ihre wissenschaftlichen Arbeiten und geben Auskunft über Speisefolgen, Rezepte und Namen der Gäste. Die Unruhe und Anspannung dieser Zeit lässt sich an diesen Aufzeichnungen ablesen: ab den Dreißigerjahren finden sich wechselnde Gästelisten, eilig notierte Menüs; ab 1938 wurden die Vorspeisen einfacher und sogenannte „Trostspeisen“, wie die Grießnockerlsuppe standen häufiger auf ihrem Speisenplan.

Ihr Bemühen ein soziales Leben trotz steigender Bedrohung aufrechtzuerhalten, erscheint mir als kleines Zeichen des Widerstands: Sie ließ es sich nicht nehmen ihre Gewohnheiten weiterhin zu pflegen und Familie und Freunde mit Nahrung für die Seele, den Körper und den Geist zu stärken und zu trösten.
Grete Bibring Lehner hielt bis zu ihrem Tod engen Kontakt mit Kollegen und Freunden aus Wien, Briefe an Anni Reich und vor allem an ihre langjährige Vertraute Anna Freud sind erhalten geblieben. Anna Freud besuchte sie mehrere Male in Amerika. „Fragen und Sorgen. Der Briefwechsel über den Atlantik zwischen Grete Bibring und Anna Freud (1949-1975) „ wird 2014 in Buchform erscheinen.

Am 10. August 1977 starb Grete Bibring- Lehner im Alter von 78 Jahren an den Folgen einer schweren Gehirnblutung.

Text: Christa Felsberger
Redaktion: CD, 10.1.2014