Sokolnicka, Eugenia (1920): Analyse einer infantilen Zwangsneurose. IZP VI, 3, 228-241

Analyse einer infantilen Zwangsneurose.
Von Eugenia Sokolnicka, lic. ès sc. de la Sorbonne (Warschau).

Ein Arzt schickte mir im April 1919 einen zehneinhalbjährigen Knaben zur Analyse. Das Kind war für sein Alter klein, sehr abgemagert; es litt an mannigfaltigen Zwangszuständen. Er konnte nichts anrühren, so daß die. Mutter ihn anziehen und füttern mußte. Wenn jemand, vor allem die Mutter, etwas mit einer Hand anrührte, mußte der betreffende Gegenstand an dieselbe Stelle zurückgelegt werden, dann mußte dieselbe Handlung mit der zweiten, dann mit den beiden Händen ausgeführt werden. Besonders empfindlich war er, wenn man einen Gegenstand neben einen anderen gelegt hatte. Er selbst wollte absolut nichts anrühren; wenn es zufällig geschah, mußte die Mutter das Zeremoniell ausführen. Jede Handlung war demzufolge mit so vielen Zeremonien verbunden, daß sie oft viele Stunden in Anspruch nahm. Die Mutter bat mich, eine Nachmittagsstunde für sie zu reservieren, da sie bis 12 1 / 2 Uhr, wie wir es anfangs bestimmt hatten, nicht mit dem Anziehen des Knaben fertig sein konnte. Das Kind hungerte förmlich, weil es beim Essen jeden Bissen einige- oder mehreremal in die Hand der Mutter ausspuckte, da er „nicht richtig“ in den Mund hineingeschoben war. Vor dem Essen mußte er, ebenso wie die Mutter, eine bestimmte Stellung einnehmen; wenn ein Fuß sich etwas nach vorwärts schob, mußte ein Zeremoniell geschehen, bis die beiden vollkommen in einer Linie waren usw. Wenn etwas gegen den Zwang geschah, krümmte er sich förmlich vor Schmerz. Sehr oft wurde er dabei geistesabwesend, geriet dann in Wut, warf sich auf die Mutter, riß ihr die Kleider ab, verdrehte ihr so kräftig wie er nur konnte die Hände, oft biß er sie (als sie zum erstenmal zu mir kam, zeigte sie mir an der Wange eine Narbe nach seinem Bisse); dann bekam er Weinkrämpfe und ließ sich kraftlos in einen Sessel nieder. Auf Grund dieser Geistesabwesenheiten stellte einer der bekanntesten Neurologen in Warschau die Diagnose der Epilepsie. Wenn man ihm später erzählte, was er in diesen Zuständen mit der Mutter trieb, weinte der Kleine und bat um Verzeihung. Bei normalem Bewußtsein war er immer

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ein folgsames, artiges, eben zu artiges Kind. Außer den Zwangszuständen litt er fortwährend an starkem Kopfweh und beklagte sich, daß „in seiner Brust ein Stein liegt, der reibt“. Er rüttelte sich fortwährend, da der Stein ihn geniere, und hatte überhaupt keinen Moment der Ruhe. Das Kind besuchte vor der Krankheit ein Staatsgymnasium in Minsk, lernte sehr gut und zeigte sich sehr begabt. Ich bin kaum im stande, den Grad seiner Denkhemmung zu schildern, er konnte meist überhaupt nicht denken, da das Kopfweh ihn daran hinderte.
Die Krankheit brach während des Aufenthaltes in Minsk unter der bolschewistischen Regierung aus, wo die Bevölkerung, besonders die jüdische (auch seine Familie), starke Erschütterungen erlebte. Der Großvater ist vor der Einrückung der Bolschewiken durchgegangen; man hatte den Abwesenden zur Strafbezahlung von 100.000 Rubeln verurteilt, so daß der Vater des Knaben, um den Verfolgungen ebenso wie sein Vater zu entgehen, auch die Flucht aus der bolschewistischen Stadt ergreifen mußte. Die Großmutter wurde verhaftet, aber bald wieder auf freien Fuß gestellt. Die Familie hat einige rücksichtslose Hausdurchsuchungen erlebt ; kurz, man mußte fortwährend um das Leben zittern, was das empfindliche Kind stark erschüttert hatte.
Die Mutter erzählte mir, die Krankheit manifestierte sich zuerst dadurch, daß er auf der Straße fortwährend die beiden Füße abwechselnd aufhob und die Sohlen anschaute. (Im Laufe der Analyse kamen immer neue Zwangshandlungen zu stande. Ich kann nicht sagen, ob sie alle als „passagere Symptome“ auftraten oder ob die Mutter mir darüber anfangs zu berichten vergessen hatte.) Er und die Mutter waren durch die Krankheit gemartert; die Mutter mußte alle Zwangszeremonielle, also eigentlich, die Krankheit, mit ihm durchmachen, und so nahm er sie fast ausschließlich in Besitz. Auffällig war für die Eltern, daß er, der früher ganz lieb zum Vater war und vom Vater geliebt wurde, seit der Krankheit sieh nicht von ihm küssen ließ, nicht mit ihm ausgehen, nicht einmal mit ihm zu Hause bleiben wollte. Dagegen ließ er die Mutter nicht von sich weg.
Die Behandlung, die im ganzen sechs Wochen dauerte, war keine Psychoanalyse im strengen Sinne des Wortes. Der Patient träumte sehr wenig, die ersten Wochen überhaupt nicht, dann selten und bruchstückweise; während dieser sechs Wochen bekam ich bloß einige wohlgebildete Träume, wie man sie in anderen Fällen regelmäßig zu hören bekommt. Anfangs befaßte ich mich auch ausschließlich damit, den äußerst verschlossenen schweren Charakter des Knaben und seine Denkhemmung zu überwinden, um irgend

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einen Kontakt mit ihm zu erzwingen. Es war also eine halb analytische, halb pädagogische, aber auf das analytische Verständnis gegründete Einwirkung meinerseits.
Es fielen mir insbesondere zwei Details bei seinen Zwangshandungen auf: Erstens, warum es ihn am meisten reizte, wenn man einen Gegenstand über einen anderen legte, warum der Weg vor jedem Gegenstände, der geschoben werden sollte, frei sein mußte? Und zweitens, warum alles gleich mit beiden Händen angefaßt, sonst aber die Bewegung durch ein ganzes Zeremoniell gut gemacht werden mußte, wenn es irrtümlich nur mit einer Hand angerührt wurde? Ich bat ihn, mir dazu die Einfälle zu sagen, und ob er etwas über die Entstehung dieses sonderbaren Zwanges wisse. Er erzählte mir, daß er einmal, bevor er erkrankte, auf die Galerie, die um das Haus lief, durch das Fenster klettern wollte; die Kinderfrau der um vier Jahre jüngeren Schwester sagte ihm, das dürfe man nicht; wenn er es tue, wird ihn der liebe Gott damit bestrafen, daß er zu wachsen aufhört. Und er tat es doch. — „Was! ist es denn aber mit der Verlegung der Gegenstände neben ein Hindernis?“ —„Wenn man es tut, wird der betreffende Gegenstand nicht wachsen, die Hand, die es tut, wird kürzer. Da muß man den Gegenstand mit derselben Hand zurücklegen, mit der anderen Hand hin und zurück verlegen, dann erst mit beiden Händen die Handlung ausführen, dann wird wieder alles gut.“ — „Glaubst du denn, daß die Gegenstände wachsen?“ „Nein, jetzt nicht mehr, aber einst habe ich es geglaubt.“
(Da wurde es mir klar, daß es sich um die Durchbrechung eines Verbotes und Vorbeugung der Strafe des lieben Gottes handelt. Bald erfuhr ich, wie unerschüttert der Glaube des Kindes an seine Allmacht war, wie die ganze Krankheit und auch die Genesung in seiner und nicht in meiner Macht liegt.)
„Nun gut, wie kommst du aber dazu, die Mutter zu zwingen, dasselbe zu tun; die wächst ja nicht mehr?“ — Ich erinnere mich nicht genau an seine Antwort, weiß aber, daß es sich um Vorbeugung einer Krankheit bei der Mutter handelte.
Bald nach dem Anfang der Kur, etwa nach einer Woche, stieß ich auf ein unerwartetes Hindernis, nämlich auf ein Geheimnis, das zu verraten dem Knaben unmöglich war, auf ein förmliches Tabu. Interessant war, wie er betonte, daß, wenn es irgend jemand weiß, dann überhaupt kein Geheimnis: mehr ist, dann können es alle wissen. Das darf nicht einmal Mama wissen, der er sonst alles sagt. Er darf überhaupt nicht von diesem Thema reden, auch darüber nicht, warum er es niemandem sagen darf, auch nicht, wenn davon seine Gesundheit abhängig ist. Alle meine direkten wie indirekten Bemühungen blieben tagelang erfolglos. Da ließ ich die

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Sache stehen und lenkte meine Aufmerksamkeit in andere Richtung. Bis hieher hatten wir kein Wort über das Sexuelle gesprochen; meiner Versicherung, er dürfe alles fragen und er werde auf alles Antwort bekommen, folgten keine Fragen in dieser Richtung. Da dachte ich mir: Vielleicht komme ich auf diesem Wege irgendwie auf das Geheimnis. Bald darauf erwähnte der Kleine in einem Gespräche, das Dienstmädchen hätte geheiratet und demzufolge das Haus verlassen. — „Was heißt das „geheiratet‘“ Verstehst du es?“ — „Das darf ich nicht wissen, ich bin zu klein dazu.“ — „Hat dir das jemand eingeredet?“ — „Ich weiß das selbst.“ —  Nun erklärte ich ihm, wie falsch eine solche Meinung sei; in ihr sei schon ein Stück Wissen enthalten, doch bestimmt falsches Wissen. Nur die Menschen machen manche Dinge eben durch so ein falsches Wissen häßlich, Dinge, die es an sich nicht sind und nicht sein können, weil nichts in der Natur häßlich ist. Solche Beschränkungen, die er selbst gegenüber seinem eigenen Wissen stellt, übergehen dann auf die ganze Welt, auf sein Wissen überhaupt; deswegen könne er nicht lernen, und von der Bemühung, nicht zu denken, habe er solches Kopfweh. Ich schlug ihm vor, aus diesem häßlichen Thema naturwissenschaftliche Unterhaltungen zu machen, damit auch er erfahre, was andere Kinder in seinem Alter schon wissen. Einige Tage dauerte diese sexuelle Aufklärung, die ich anschaulich mit der Befruchtung der Blumen begann und wobei ich ihn selbständig Schlüsse zu ziehen bewog. Dann kehrte ich unmerklich zum Geheimnis zurück und sagte, ich helfe ihm, wie ich nur kann, aber jetzt weiß ich nichts mehr, was ihn noch quälen kann; bestimmt das Geheimnis, weil es Gründe haben muß, so verborgen zu bleiben; jetzt muß er mir helfen, damit ich ihm dann weiter helfen kann (er fühlte sich schon damals erleichtert); er soll mir also „das Geheimnis“ anvertrauen. Er wollte nicht versprechen, daß er es mir am nächsten Tage verraten wird; so groß war die Ehrlichkeit und die Wahrheitsliebe dieses Kindes, daß er nie etwas versprach ohne vollkommene Sicherheit, das Wort halten zu können; er blieb dabei, er werde sich die Sache bis morgen überlegen. Endlich bekam ich folgendes Geheimnis zu hören: Sein Freund in Minsk, namens Monja, erzählte, daß er gegen die Bolschewiken ein bewaffnetes Automobil besitze. Es war alles darin, was nur zur Beseitigung des Feindes und zum Durchgeben nötig sein könnte. Das Auto war mit der Wohnung Monjas elektrisch verbunden und werde sich melden, sobald die Gefahr da ist. Ein echtes „Tischlein, deck dich“ aus dem Märchen, nur mit den neuesten modernen Erfindungen ausgestattet. Mit dem Auto wollte Monja seine Familie und auch die des kleinen Patienten vor den Bolschewiken retten.

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Nichts Sexuelles also, dagegen ein Zauber, in den niemand eingeweiht sein durfte, sonst könnte er seine Kraft verlieren. Der Freund ist dabei der Starke, der große Zauberer. Ich muß sagen, das Wort „Zauberer“ übte auf meinen Patienten eine magische Wirkung aus. Er war davon entzückt, als ob er schon lange auf dieses Wort gewartet hätte. Bei der Deutung der Träume, an der er sich später eifrig mit mir zusammen beteiligte, konstatierte er immer mit Freude, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, er sei wieder einmal der Zauberer.
Seitdem erschien Monja spontan jeden Moment in unseren Gesprächen. Monja wußte vieles, was dem anderen unbekannt blieb, er weihte ihn (auf seine Art) in die sexuellen Geheimnisse ein: so erfuhr der Patient, daß die Kinder dadurch auf die Welt kommen, „daß der Mann sich auf das Weib hinlegt“. Monja war physisch stärker, dabei den Eltern gegenüber frech und unartig, wurde von ihnen oft beschimpft und geschlagen, auch in der Beziehung also dem schüchternen, immer artigen, von den Eltern äußerst verwöhnten Knaben überlegen, bis zum Moment, wo auch der Patient Lust bekam, frech und unartig zu sein, und es erst in den Geistesabwesenheiten erreichen konnte. Dabei entflammte Monja die Einbildungskraft des Kleinen in sadistischer Pachtung: er erzählte ihm die bekanntesten Detektivromane — er war in dieser Richtung sehr belesen — , auch von furchtbaren chirurgischen Operationen, die mit den großen, mit Sprungfedern ausgestatteten Messern ausgeführt wurden. Nach der sexuellen Aufklärung fragte mich der Kleine oft über die Geburtsoperation aus, über die Geburtszange usw. Einmal äußerte er dabei: „Ich kenne einen Herrn, der immer den Kopf nach oben halten muß ‚in den Himmel schauen‘ ; kommt das vielleicht davon, daß er mit der Zange aus dem Mutterleibe herausgeholt wurde?“
Jetzt werde ich zu beschreiben versuchen, wie allmählich die Symptome binnen der sechswöchigen Kur verschwanden. Ein Symptom hat das andere ersetzt und es meldeten sich immer neue. Viele waren eine Vereinfachung der verschwundenen, z. B. wenn man an ein Möbelstück mit dem Körper anstieß, mußte man es mit der anderen Seite des Körpers, berühren. Oder: beim Gehen auf der Straße rieb er mit dem Füße an den Schuh der Mutter und ging sofort an ihre andere Seite, um dort dasselbe zu tun. Eine Zeitlang machte er Bewegungen mit beiden Händen in der Gegend der Nase; so machte, wie mir die Mutter erzählt hat, ein Wahnsinniger in Minsk; der kommt auch in einem der Träume des Knaben vor.
Eine Zeitlang erlaubte er nicht, daß man an das Bett der Mutter, mit der er zusammen schlief, herantrete, da eine Seite des

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Bettes an die Wand stieß; tat es jemand doch, kletterte er quer über das Bett. — Zuletzt fügte er jeder affirmativen Aussage eine Verneinung zu, z. B.: gib mir Tee, gib mir nicht Tee; ich will, ich will nicht; ich verstehe, verstehe nicht usw.
Leider besitze ich sehr wenig Notizen über den Fall, die ersten beziehen sich auf einen Traum, einen Monat nach dem Beginn der Kur. Soweit ich mich erinnere, hat er bis dahin wenig geträumt, und ging die Analyse der Träume sehr schwer von statten. Im ganzem habe ich bloß drei Träume notiert. lch muß mich also mehr auf die allgemeinen Eindrücke und Erinnerungen, auf die pädagogischen Mittel, die ich angewandt habe, als auf das psychoanalytische Material stützen. Bald nach dem erwähnten Gespräche, worin er mir den Ursprung des Symptoms der Verlegung der Gegenstände verriet, verschwand es. Bei derselben Gelegenheit versuchte ich, ihm zu erklären, was der Stein in der Brust, der ihn so reibt, bedeutet; es sei eine Gewissensunruhe, eine bildliche Darstellung des Ausdrucks „ein Stein drückt mich am Herzen“. Auch dieses Symptom verschwand ziemlich rasch. Erst im späteren Verlauf der Kur gelang es mir, ihm die Geistesabwesenheiten auf folgende Weise abzugewöhnen: Sehr bald bemerkte ich, daß diese Zustände nur oberflächlich waren, und daß sie den einzigen Weg — außer dem symptomatischen, aber viel einfacher als dieser — darstellten, elterliche Verbote zu überschreiten. Es war einfach eine Unart, durch die Bewußtlosigkeit gedeckt, seine Rache an der Mutter, die ja so „unartig“ war, die Kinder mit dem Vater zu zeugen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, wie merkwürdig es war, daß bei ihm, einem sonst immer so artigen Buben, die bewußtlosen Zustände sich bloß dadurch manifestierten, daß er das tat, was die anderen Kinder in ihrer Unart gewöhnlich tun: er knirscht mit den Zähnen, beißt die Mutter, zerreißt ihr die Kleider usw. Da bat ich die Mutter vor ihm, sie möge ihm jedesmal trotz seiner Tränen alles erzählen, was er während der Geistesabwesenheit treibt. „Sei lieber bewußt unartig und gegen Mama wütend — scherzte ich — , ich verspreche dir, nach deiner Gesundung wirst du wieder einmal artig.“ Dann bemühte ich mich, ihm zu beweisen, daß diese Zustände fast reine Simulation sind. Einmal rief ich gelegentlich absichtlich einen solchen Zustand hervor, und als er sich auf die Mutter werfen wollte, faßte ich ihn kräftig an beiden Händen und ließ ihn auf einen Sessel sinken. Da schrie er wie besessen: „Mama, Mama,“ und ich ließ die Hände nicht los und wiederholte: „Du bist bewußtlos und rufst die Mama; wie so weißt du dann, daß nicht die Mama bei dir ist?“ Als ich dabei mit ihm scherzte, ihm die Nase kitzelte, wehrte er sich dagegen. Als wir schon ganz gute Freunde waren, und er

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sich wirklich davon überzeugte, daß ich mich ehrlich um seine Gesundheit bemühe und ihn von vielem schon befreit hatte, verlangte ich von ihm Opfer. Ich erklärte ihm, er habe eigentlich zwei Krankheiten: die eine echte, die man ärztlich behandeln muß, die andere scheinbare, dadurch entstanden, daß die Eltern einem kranken Kinde alles zuliebe machen, weil sie Angst vor seinen Tränen und vor seiner Geistesabwesenheit haben, und seine ungerechten Wünsche erfüllen, um jenen Zuständen vorzubeugen. Dieser Weg ist aber dem Kinde schädlich, es lernt aus der Krankheit Nutzen und Privilegien zu ziehen. Diese zweite, unechte Krankheit ist so weit gefährlich, als man der ersten so lange nicht Herr werden kann, bis der Kranke auf die Vorteile dieses Krankseins verzichtet. Man könne sich größere, auf Gesundheit gegründete Freuden schaffen, als die, bei denen man das wenige Vergnügen mit so vielen Quälereien bezahle. Das gescheite Kind verstand und glaubte mir. Ich schlug ihm vor: am besten wir gehen sofort zur Mama (die immer im Nebenzimmer auf ihn wartete) und du wirst sie selbst bitten, keinen deiner Wünsche zu erfüllen, wenn du durch die Absage geistesabwesend, also wütend wirst; du wirst auf das Privilegium der Krankheit verzichten. Es war rührend anzuschauen, wie er mit sich kämpfte und schließlich nachgab. Bald darauf verschwanden die Geistesabwesenheiten.
Ähnlich habe ich ihm die Zwangsduette mit der Mutter abgewöhnt. Am Anfang der Krankheit wurde die Mutter nur selten zu den Zwangszeremoniellen gezwungen, allmählich nahm das immer zu. Kurz vor dem Ende der Kur habe ich einfach verboten, daß die Mutter in dieser Hinsicht nachgebe, sie tue es aus Angst, ihm zu widersprechen, und habe damit, wie er schon weiß, manches in seiner Krankheit nur begünstigt. Er kann allein die Zwangshandlungen ausführen, und ‚diese werden wir schon zu heilen wissen, die Mutter aber will ich nicht behandeln, er muß sie also in Ruhe lassen. Meine Entschlossenheit, neben dem Interesse und der Sympathie, die sie ihm zeigte, hat, der Willfährigkeit der Eltern gegenübergestellt, auch diesmal triumphiert. Die drei Träume, die ich notiert habe, werde ich zitieren, da sie für die Krankheit charakteristisch sind. Der erste Traum beweist wieder einmal, wie die berühmte Unschuld der Kinder aussieht und wie diese im Grunde genommen doch alles, trotz der stärksten Verbote, in sich aufnehmen. Der Traum lautet: „In einem Kinderwagen saßen drei Mädchen mit weißen Schleiern auf den Köpfen. Ein Herr jagte Knaben davon.“ Während der Analyse des Traumes fügt er hinzu: ,.Der Wagen rollte von selbst.“

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Einfälle:
Eines von den Mädchen war der Kellnerin in einem Restaurant, an welchem er auf dem Wege zu mir vorbeigeht, ähnlich. Die Kellnerinnen machen „Lumpereien“.
Mama hat einmal dem Papa erzählt, sie ist auf der Straße dem jungen Manne, dem Sohne eines ihrer. Bekannten, einem großen Taugenichts, begegnet, der mit drei Mädchen zusammenging. Papa sagte: „So ein Lump.“ Er weiß, was der Papa dabei gedacht hat, der junge Mann macht „das“ mit den drei Mädchen.
Den Schleier trägt man zur Trauung. Auf dem Wege zu mir hat er am Tage der Himmelfahrt ein kleines Mädchen, weiß gekleidet, mit dem weißen Schleier (zur Prozession gehend) gesehen. Der Herr, der sie begleitete, war dem ähnlich, der die Buben im Traume wegjagte.
Einen Tag vorher träumte er auch vom Wagen und sagte dabei, er bitte eben Mama, einen zu kaufen, in dem er in der Sommerfrische sein um vier Jahre jüngeres Schwesterchen spazieren fahren
wird.
Er behauptete auch, der Wagen im Traume hatte bloß drei Räder, und daß es solche gibt, ein Rad vorn und zwei Räder hinten.
Der Traum ist ziemlich klar : Aus der Dreieinigkeit im Kinderwagen können wir gleich zwei Merkmale abstrahieren: 1. Das sind ja, die drei Mädchen, mit denen der junge „Lump“ verkehrte;  2. alle drei sind weiß gekleidet, wie das kleine Mädchen bei der Prozession, auch wie die Braut zur Hochzeit, was die Unschuld symbolisiert. Damit wissen wir, daß es sich um Hohn der „Unschuld“ handelt. Der Mittelpunkt der Verdichtung ist der Kinderwagen, der ihn an das kleine Schwesterchen erinnert, das ja durch die Mutter geboren wurde; sie ist der „große Lump“ = Kellnerin, die er am Wege zu mir sieht. So wissen wir, daß der Hohn sich auf die Unschuld der Mutter, auf das Geheimnis der Brauttracht, bezieht. Der Herr, der dem ähnlich ist, der .das Mädchen zur Prozession führte, ist niemand anderer als der, der mit den „unschuldigen“ Lumpenmädchen verkehrt, d. h. sein Vater, der ihn vom sexuellen Verkehr mit der Mutter fernhält; „die Knaben davonjagt“. Es handelt sich im Traume um Wut gegen die Eltern, die das Schwesterchen gezeugt haben.
Die Details der drei Räder und des „Selbstrolleins“ des Wagens (= Onanie?) wurden nicht aufgeklärt.
Der zweite Traum, der ungefähr zehn Tage vor dem Ende der Kur geträumt wurde, lautet:
„Jemand hat die Hand von Papa angerührt, und sie ist schon

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zusammengeschrumpft und lahm geblieben. Nein, nicht vom Papa; von jemandem; ja, es war Papa; ich weiß nicht, ob es Papa oder ein anderer war. Dann waren ich, Mama, Papa und die kleine Schwester aufgestellt (beschreibt genau wie) und ein Mann hat meine beiden Hände angerührt und die sollten ebenso zusammenschrumpfen und lahm bleiben. Papa sagte zu diesem Manne jüdisch: ,Da steht er wieder da.‘ Im großen Schmerze rief ich: ,Wie unglücklich bin
ich,‘ und fiel auf einen Sessel nieder.“ Er erwachte in solchem Schreck, daß er die Mama weckte und sie nicht weiter schlafen ließ. Dann setzte er hinzu : „Es scheint mir, ich habe noch etwas gedacht. Jemand, vielleicht war das der Großpapa, wollte einem Manne eine Kraft abschwindeln; das Gas, das Telephon, 100.000, das war die Kraft.“
Schon während der Analyse sagt er undeutlich: im Traume heilte der Papa auch durch ein Anrühren.
Einfälle: Er beginnt damit, er wisse schon, er sei wieder einmal ein Zauberer im Traume gewesen.
Der Mann, der seine beiden Hände anrührte, hatte einen Halbpelz an, wie er sich einen für den kommenden Winter wünscht, auch seine Mütze war der Form nach einer Gymnasialmütze gleich. Der Mann war bestimmt er selbst, da einmal der Großpapa im Scherze sagte: „Ein so großer Bub wie er, könnte schon seinen Eltern helfen.“ Da hat er sich im Traume im Ernst als Erwachsenen vorgestellt. Der Mann war auch einem Beamten ähnlich, der bei den Eltern seines Kollegen angestellt war; er wurde von Bolschewiken verhaftet und zu einem Jahre Gefängnis verurteilt, befreite sich aber vor der Frist. Die Bolschewiken haben den abwesenden Großpapa zu 100.000 Rubeln verurteilt. Dann haben sie die Großmama verhaftet, aber sofort auf freien Fuß. gesetzt. Der Papa mußte fliehen, weil man ihn anstatt seines Vaters verfolgt hätte. Dieselben Worte wie im Traume hat einmal Papa jüdisch zur Mama von ihm gesagt, als er sich fortwährend gerade so hinstellte, daß er dem Papa das Schreiben unmöglich machte.
In Minsk ging eine Wahnsinnige herum. Man sagte, wenn die jemandem die Hand anrührt oder bespuckt, wird man krank, so wie er und Papa im Traume. Er hat immer große Angst vor ihr gehabt, andere Kinder aber neckten sie.
„Ich bin so unglücklich,“ wiederholte er oft, wenn er sich so sehr während der Krankheit quälte. Er konnte auch im Traume gar nicht die Worte hervorstoßen, ganz so wie ein Stummer in Minsk, der schrie und doch nichts aussprechen konnte.
Den, der Papa anrührte, hat er gar nicht gesehen. Dagegen weiß er, wieso Papa geheilt wurde, auch durch Berührung.

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Als die Kinder mit Mama von Minsk zurückkehrten, wurde Papa sehr traurig bei der Nachricht von seiner Krankheit, und jetzt, da es ihm besser gehe, ist Papa wieder froher.
Dem Patienten habe ich nur ziemlich allgemein den Traum gedeutet. Er sei es, wie er sofort richtig erraten hat, der den Zauber ausübt. Wie aber und welchen? Der „Jemand“, der „Mann“, wie er selbst deutlich aus seinen Einfällen eingesehen hat, ist er selbst. Als solcher führt er zwei Handlungen aus. Erstens, verzaubert er den Vater und macht ihn zur selben Zeit krank, und in dieser Bolle stellt er sich als Erwachsener dar. Er identifiziert auch den Vater und den Großvater, da die beiden von Bolschewiken (der verhaftete Beamte) bedroht wurden. Zweitens verzaubert er sich selber, schon sehr wenig entstellt, er ist ja der unartige Bube, der den Vater absichtlich ärgert, indem er ihn nicht schreiben läßt. In seiner Rolle ist er dem Vater überlegen; von ihm hängt auch in Wirklichkeit, wie er mir erklärt hat, die Gesundheit des Vaters ab. Und dann kann er Zauberzeremonielle, wie er sie in der Krankheit übte und wie sie der Vater nicht kann. Es ist, als ob er dem Vater böse wäre, als ob er unter anderem krank wäre, um den Vater zu quälen. Woher aber dann die Wut, warum ist er so wütend, da er ja doch der Mächtige ist? Er hat eben die Ordnung der Dinge im Traume umgekehrt; einst war der Papa der Starke, der große Zauberer, der eine geheimnisvolle, uns schon bekannte, sexuelle Macht (im Penis) besaß. Damit hat er den Sohn, wie wir auch schon wissen, wütend gemacht. In meinen sehr kärglichen Notizen steht nichts davon, ob ich an dieser Stelle von der Onanie gesprochen habe, was aber höchst wahrscheinlich ist, da wir uns darüber in der Kur klar geworden sind, daß er in Minsk vor der Krankheit eine kurze Zeit onanierte, es aber auf die Drohung der Mutter hin, daß man davon krank, wird, aufgab. Soweit ich mich erinnern kann, war das schon die zweite Periode der Onanie; die erste hat er als kleines, ungefähr vierjähriges! Kind, durchgemacht, wobei ihm die Mutter sagte, man soll die Hände immer auf der Bettdecke halten. Wieviel und ob ich ihm deutlich die Kastrationsangst erklärte, und ob im Zusammenhange mit dem Traume, was eine vorzügliche Gelegenheit dazu gewesen wäre, erinnere ich mich nicht, was beweist, daß nicht viel davon die Rede war. Dieselbe Umkehrung wiederholt er mit dem Großpapa, der „jemandem“ die große Macht (Gas, Telephon, 100.000) abschwindeln will ; e r wollte sie einst dem mächtigen Erwachsenen abschwindeln. Nicht er, sondern der Großpapa besaß die 100.000 Rubel. Das aber, was er abgeschwindelt hat, ist sehr verdächtig. Die echte sexuelle Macht besitzen doch nur die Erwachsenen; sein Zauber (die Onanie), der aus dem Rachedurst, den

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bösen. „Wünschen, dem Papa und Großpapa gegenüber, entstand, hat ihn unglücklich gemacht, ihn wie den Wahnsinnigen gehemmt, und ihn, wie es der Stumme war, einfach krank gemacht.
Während der Deutung des Traumes, besonders, des zweiten Teiles, wurde er immer unruhiger, fast fortwährend geistesabwesend oder wiederholte „ja — nein“, auch, daß er aufs Land gehen möchte,
wann ich ihn entlasse? usw.
Da der Traum sehr charakteristisch für die Zwangshandlungen des Patienten ist, füge ich noch ein paar Bemerkungen dazu. Es handelt sich vor allem um Kastrationsangst. Die Kastrationsdrohungen hat er vielleicht vom Papa und vom Großpapa gehört, da sie in Minsk und auch vor dem Kriege beisammen gewohnt haben; oder aber handelt es sich bloß um den Vater und das Fragment mit dem Großvater, der ihm die Macht abschwindeln will, ist nur eine Andeutung, die am Anfang des Traumes schon notwendig wäre: warum er eigentlich den Vater verzaubert, d. h. krank machen will? Dabei aber macht er eine Verschiebung: „vielleicht war das der Großpapa“. Da macht er alles, besser als der Vater: er erfindet den Zauber, wobei er alles selbst macht (Onanie), dabei das Zeremoniell, das die Lähmung der Hände aufdeckt. Für den eventuell kastrierten Penis aber bekommt er zwei neue. (Im Traume verzaubert er dem Vater eine Hand, sich selber aber beide. Die Hand ist ja bloß ein Symbol des Penis.)
Und so viele, eben zwei Hände, eventuell zwei Seiten des Körpers, benützt er in allen Zwangszeremoniellen (FN1). Da ist, scheint es, nur die Wiederholung von Details im ersten Traum: Ein Rad, zwei Räder, das Selbstrollen.
Es entsteht noch die Frage: woher stammt der große Schreck im Traume, der ihn nicht mehr schlafen und die Mutter wecken läßt? Stammt er von einem tief im Unbewußten schlummernden Material? Nein, er kommt von der nahenden Erkenntnis, die sich auf den Mechanismus der Krankheit selbst bezieht und sich in den Traum Eingang verschafft. Das ganze war seinerseits kein echter Zauber, sondern ein mißlungener Sehwindel, der ihn unglücklich gemacht hat.
Zwei Tage später träumt er:
Papa ist in Minsk eingerückt, bekam aber vier Monate Urlaub. Mama und er liefen fortwährend die Stiegen auf und ab. In demselben Zimmer, wo man die Männer musterte, war eine Seihe aufgestellter Weiber.

(FN1) Analogie mit den symmetrischen Zwangshandlungen, von denen Dr. Ferenczi berichtete.

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Einfälle:
Der Vater ist in Minsk eingerückt, wurde aber wegen chronischen Schnupfens entlassen.
Ein mehr als dreimonatiger Urlaub existierte überhaupt nicht im russischen Heere, aber er hat sich gedacht: einen vierten hätte man doch vielleicht gegeben.
Die aufgestellten Weiber waren Frauen und Mütter, die auf ihre gemusterten Männer und Söhne warteten.
Deutung.
Ich erkläre ihm, was der viermonatige Urlaub bedeute; da man maximal drei Monate bekommen konnte, den‘ vierten wäre schon Papa an der Front gewesen. Und was passiert denn im Felde? Mehr oder weniger deutlich antwortet er, daß. man im Felde fallen kann. Und Mama war ja nicht unter den Frauen, die ihre Männer abwarteten, da sie mit ihm die Stiege auf und ab lief. Dabei erklärte ich ihm das Symbol „die Treppe steigen“. Er antwortet nichts, einen Moment später erzählt er alle Detektivgeschichten, die ihm der in dieser Richtung so belesene Monja erzählt hat : von Sherlock Holmes, Arsène Lupin und Pinkerton, und welchen starken Eindruck die Erzählungen auf ihn machten, und wie die Mutter von Monja ihren Sohn dafür schimpfte, und wie Monja für sie beide solche Samtmasken genäht hat, wie sie die Banditen in einer der Geschichten trügen.
Am nächsten Tag erklärte mir die Mutter, der Kleine war den ganzen Tag furchtbar nervös, beklagte sich, daß ich ihm einreden wollte, er möchte seinen Vater töten, oder daß er sich wünsche, daß man den Vater töte. Da fügte er energisch (schon bei mir) hinzu: „Ich lasse mich nie überzeugen, daß ich so was denke.“ So hat er Schlüsse gezogen, die erst angedeutet wurden.
Wie bereits gesagt, vertraten während der Behandlung immer neue Zwangshandlungen die verschwundenen. Ob vorübergehend geschaffen oder nur erinnert, waren sie bestimmt für die Etappen der Kur charakteristisch. Sie wurden immer einfacher und überhaupt waren die Zwangssymptome nur scheinbar kompliziert, im Grunde genommen aber einheitlich. Ihr Ausgangspunkt war die Überschreitung eines Verbotes (das Klettern durch das Fenster anstatt durch die Tür

(FN1). (Im letzten Grunde Onanie.) Das, Gemeinsame aller Zwangshandlungen war: 1. Das Anrühren; eine Verzauberung, die Überschreitung des Verbotes vermag (= Onanie, als Ersatz für den
(FN1) Dr. Géza Róheim hat mich aufmerksam gemacht, daß diese Handlung, ebenso wie das Überschreiten eines Körpers, im Folklore ein bekanntes Symbol des Koitus ist.

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sexuellen Verkehr). 2. Das Zeremoniell; eine Entzauberung, die Vorbeugung der Folgen des Anrührend (= Kastration und Krankheit infolge der Onanie) erzielte.
Interessant ist, daß sich als letzter Zwang die fortwährende Verneinung des Gesagten manifestierte (will, will nicht, Tisch, nicht Tisch usw.). Dies scheint der äußerste Ausdruck der Vereinfachung zu sein; der Kern der Ambivalenz selbst. Ein paar Tage vor der, Beendigung der Kur, d. h. vor seiner Abreise in die Sommerfrische, bat ich ihn, mir zu erklären, warum er dieses „nein“ zu allem schon Gesagten nachträglich hinzufügt. Da erklärte er: „Nehmen wir am, Mama vergißt mir den Tee zu geben, da bitte ich: Mama, gib mir Tee; und dann füge ich hinzu: gib mir nicht Tee. Es ist, als ob ich gar nichts gesagt hätte, und Mama weiß doch, daß sie mir Tee schenken soll.“ Ist diese Erklärung nicht ein schöner Beitrag zur Psychologie der Entstehung seiner Zwangshandlungen?
Am Tage vor der Abreise, nach einem ganz rührenden Abschied, bat ich ihn, mir zu versprechen, sich auf dem Lande selbst anzuziehen, also alles anzurühren. Er gab das Versprechen nicht — da es bei dem kleinen Ehrenmanne immer ein echtes Ehrenwort bedeutete — und sagte nur, er werde sich bemühen, meinen Wunsch zu erfüllen. Ein paar Wochen später besuchte mich die Mutter und erzählte, die Bemühungen glückten vollkommen. Übrigens sagte mir die Mutter, meine Autorität wäre so groß, daß man alles bei ihm mit Berufung auf meinen Namen erreichen könne, welchen Erfolg man, vor allem der Entlarvung seines Systems zuschreiben kann, die dabei ohne jede Spur von Beschämung vor sich ging. Wie mir auch die Mutter sagte, ging es meinem Patienten sehr gut. Es ließen sich noch manchmal Spuren der überstandenen Krankheit merken, sonst nichts. Er ist meistens sehr froh, wird ein immer größerer Spitzbube, sieht vorzüglich aus. Ein paar Wochen später hat mich die Mutter noch einmal, diesmal mit dem Knaben zusammen, besucht, ich war aber anläßlich der Sommerferien eben abgereist. Sie besuchten damals auch den Arzt, der sie zu mir geschickt hatte, und der ihn auch in vollkommen gutem Zustand befunden hat. Die Kur sollte nach den Sommerferien fortgesetzt werden, ich bin auch jetzt der vollkommenen, dauernden Heilung nicht sicher. loh habe ihn‘ aber nicht mehr gesehen, was entschieden dafür spricht, daß es ihm ganz gut geht, da die Eltern — wenig zivilisierte Juden — sonst Angst gehabt hätten, ich hätte sie ausnützen wollen, und darum auf der Fortsetzung der Analyse bestanden hätten.
Ich habe mich oft gefragt, wie soll man das rasche Verschwinden des scheinbar so argen Zustandes des Patienten erklären? Und ich

ψα Editorische Anmerkung: Seitenende IPV VI, 3, 240

bin zu folgenden Schlüssen gekommen: Die Zwangsneurose hat trotz der starken konstitutionellen Veranlagung des Kindes nicht Zeit genug gehabt, um sich zu einem tiefgreifenden System auszubilden: erstens, weil der Patient so jung war, zweitens, weil er rasch, ein halbes Jahr nach der Erkrankung, zur Behandlung gelangte. Alles übrige, was außer der Zwangsneurose die Krankheit bildete, war einfach eine Unart, die sich feig hinter die hysterische Komponente, die sich ja fast immer mehr oder weniger mit der Zwangsneurose vergesellschaftet, geflüchtet hatte.
Der Erfolg, den ich mehr dem pädagogisch-psychologischen Eingriff, wobei allerdings der psychoanalytisch geschärfte Blick behilflich war, als der methodischem Analyse verdanke, ließ mich verstehen, durch welche Mittel andere Psychotherapeuten außerhalb der Psychoanalyse parallele Erfolge erreichen.
Das Hauptmittel jeder erfolgreichen Seelenheilung und Pädagogik war immer die Übertragung, wenn sie auch von den Ärzten und Erziehern entweder unsystematisch oder unbewußt angewandt wurde. Die Psychoanalyse hat mit Hilfe der Systematisierung der Übertragung und der freien Assoziation die Bewußtmachung des Verdrängten ermöglicht. Wenn wir diesen Kurbehelfen die pädagogische Bekämpfung des sekundären Krankheitsgewinnes hinzufügen, haben wir nicht nur das Rüstzeug der psychoanalytischen Therapie bereichert, sondern wahrscheinlich alles, was an anderen Seelenheilmethoden brauchbar ist, auch für unsere Zwecke nutzbar gemacht.

ψα Editorische Anmerkung: Seitenende IPV VI, 3, 241

Sokolnicka, Eugeinia (1920): Analyse einer infantilen Zwangsneurose. IZP VI, 3, 228-241.

    Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse VI, 1920, Heft 3
    Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, Leipzig, Zürich

    Inhalt:
    193    Imre Hermann - Intelligenz und tiefer Gedanke   
    203    Theodor Reik - Über kollektives Vergessen
    216    Georg Groddeck - Wunscherfüllungen der irdischen und göttlichen Strafen
    228    Eugenia Sokolnicka - Analyse einer infantilen Zwangsneurose
    242    Geza Roheim - Die Bedeutung des Überschreitens
    247    Sigmund Freund - Vorwort zur vierten Auflage der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
    248    Roman Markuszewicz - Beitrag zum autistischen Denken bei Kindern
    252    Hanns Sachs - Aus der analytischen Praxis
    263    Eduard Hitschmann - Urethralerotik und Zwangsneurose
    264    U. Grüninger - Psychotechnik und Psychoanalyse
    267    Henri Flournoy - Symbolisme de la Clef
    271    Kritiken und Referate

Redaktion: CD, 2010