Berta Pappenheim - Chronologie

Kindheit und Jugend:

Dritte Tochter von Siegmund (1824–1881, aus Pressburg stammend) und Recha Pappenheim (geborene Goldschmidt, aus Frankfurt am Main stammend), beide Eltern stammten aus wohlhabenden jüdischen Familien.
Berta hatte eine ältere Schwester Henriette, die mit acht Jahren starb (1849–1867) und einen 18 Monate jüngerer Bruder Wilhelm (1860–1937), besuchte eine katholische Mädchenschule in Wien und war mit ihrer Familie zu Sommeraufenthalten in Ischl.
Mit 11 Jahren zog Berta mit ihrer Familie aus der Leopoldstadt (Wien, 2. Bezirk, in dem damals viele BürgerInnen jüdischer Herkunft wohnten, in die  Liechtensteinstraße (9. Bezirk).
Mit 16 Jahren machte sie ihren Schulabschluss, ihr jüngerer Bruder durfte weiter das Gymnasium besuchen. Berta war zur Mithilfe im elterlichen, koscher geführten Haushalt angehalten.

Erkrankung:

Im Sommer 1880 hielt sich die Familie in Ischl auf.
Dort erkrankte der Vater an Pleuritis und Berta hielt bei ihm Nachtwache.
Bei einer solchen Nachtwache traten bei Ihr Halluzinationen auf, die von Angstzuständen begleitet waren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich bei ihr die von Breuer beschriebene Symptomatik: Nervenschmerzen im Gesichtsbereich, halbseitige Lähmungen und Taubheitsgefühl, Sehstörungen, Stimmungslabilität, Erinnerungsausfälle, Essstörungen,

Breuer hatte die Behandlung von Berta Pappenheim im November 1880 übernommen.
11.12.1880 Berta wurde bettlägrig.
5.4.1881 Tod des Vaters. Berta Pappenheim reagierte mit Starre, Verschlechterung ihres Zustandes
7. Juni  bis November 1881 erster Aufenthalt im Sanatorium Inzersdorf.
November 1881 bis 7. Juni 1882 Weiterbehandlung durch Breuer.
Breuers Krankenbericht der Anna O. in den Studien über Hysterie (1895) schließt mit folgendem Befund: „Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit.“

12. 7. 1882 - 29. 10. 1882: Aufenthalt im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee. Nachdem Breuer die Behandlung seiner Patientin beendet hatte, verschlechterte sich ihr Zustand wieder. Breuer nahm die Behandlung nicht wieder auf und überwies sie in das Sanatorium Bellevue, das von Ludwig Binswanger geführt wurde, der sich später der Psychoanalyse annäherte, mit Freud korrespondierte und dann die Daseinsanalyse begründete.
Noch von Kreuzlingen aus Kurs in Krankenpflege beim Badischen Frauenverein.

Weitere Aufenthalte im Sanatorium Inzersdorf folgten und Berta Pappenheim führte bis 1888 ein zurückgezogenes Leben mit ihrer Mutter in Wien.

Anna O. - talking cure, chimney weeping

Josef Breuer, ein angesehener Wiener Familienarzt und Physiologe lernte Sigmund Freud, als dieser noch Student war, im physiologischen Labor von Brücke kennen und erzählte im von der Behandlung Berta Pappenheims.

„Breuer hatte mir, schon ehe ich nach Paris ging, Mitteilungen über einen Fall von Hysterie gemacht, den er in den Jahren 1880 bis 1882 auf eine besondere Art behandelt, wobei er tiefe Einblicke in die Verursachung und Bedeutung der hysterischen Symptome gewinnen konnte. […] Ich beschloss bei mir, Charcot von diesen Funden Kunde zu geben, wenn ich nach Paris käme, und das tat ich dann auch. Aber der Meister zeigte für meine ersten Andeutungen kein Interesse, so daß ich nicht mehr auf die Sache zurückkam und sie auch bei mir fallen ließ.
Nach Wien zurückgekehrt, wandte ich mich wieder der Breuerschen Beobachtung zu“ und ließ sich mehr von ihr erzählen.“ (Freud, 1925d, 44)
 

Dieser Austausch führte  schließlich zu zwei gemeinsamen Publikationen. In den „Studien über Hysterie“ findet sich von Josef Breuer die Krankengeschichte der Anna O., in der er über die Behandlung von Berta Pappenheim unter dem Pseudonym Anna O. berichtete.

Freud, Sigmund; Breuer, Josef (1893a [1892]): Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mittheilungen. In: Neurol. Zentralblatt., Bd. 12 (1893), S. 4- 10, 43-47. Zugleich in: Wien. med. Blätter 16 (1893). S. 33–25, 49–51. GW I, 81-98.
Freud, Sigmund, Breuer, Josef (1895d [1893-95]): Studien über Hysterie. GW I, 75-312 [ohne Breuers Beiträge]. GW Nachtragsband, 217f, 75-312 [Breuers Beiträge].
 

Die zufällige Beobachtung, die Breuer und Freud zu ihren Studien angeregt hatte,  machte Josef Breuer mit Berta Pappenheim. Er kümmerte sich ungewöhnlich intensiv um seine Patientin, die die Angewohnheit entwickelte, in seiner Anwesenheit abends in einen tranceartigen Zustand - Breuer sah darin eine Art Autohypnose - zu verfallen, in dem sie Geschichten erzählte und Erleichterung durch diese Aussprachen fand, was ihn dazu führte, sie schließlich auch aktiv zu hypnotisieren.
Breuer machte dabei die für die Entwicklung der Psychoanalyse so entscheidende Beobachtung, dass  ein Symptom verschwand, „sobald in der Hypnose ein Ereignis reproduziert war, welches das Symptom veranlasst hatte“. (Breuer 1895)
Die  daraus entwickelte therapeutisch-technische Procedur wurde als „kathartische“ - von Freud später auch als die „Breuersche“ Methode bezeichnet.
Anna O. nannte sie „talking cure“ oder „chimney-sweeping“. (Breuer 1985, GW Nachtragsband, 229)

„Angeregt durch eine zufällige Beobachtung forschen wir seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung, dem Vorgange, welcher das betreffende Phänomen zum ersten Male, oft vor vielen Jahren, her¬vorgerufen hat. In der großen Mehrzahl der Fälle gelingt es nicht, durch das einfache, wenn auch noch so eingehende Krankenex¬amen, diesen Ausgangspunkt klarzustellen, teilweise, weil es sich oft um Erlebnisse handelt, deren Besprechung den Kranken unan¬genehm ist, hauptsächlich aber, weil sie sich wirklich nicht daran erinnern, oft den ursächlichen Zusammenhang des veranlassenden Vorganges und des pathologischen Phänomens nicht ahnen. Mei¬stens ist es nötig, die Kranken zu hypnotisieren und in der Hypnose die Erinnerungen jener Zeit, wo das Symptom Zum ersten Male auf¬trat, wachzurufen; dann gelingt es, jenen Zusammenhang aufs deut¬lichste und überzeugendste darzulegen.
Diese Methode der Untersuchung hat uns in einer großen Zahl von Fällen Resultate ergeben, die in theoretischer wie in praktischer Hinsicht wertvoll erscheinen.“
(Breuer, Freud, 1895d, Studien über Hysterie, Seite 81)

Übersiedelung nach Frankfurt

Sozialreformerin

November 1888: Mit ihrer Mutter Übersiedelung nach Frankfurt, wo die mütterliche Familie Goldschmidt (kunstsinnig, wohltätig, intellektuell interessiert) lebte,
Erste Publikation unter dem Pseudonym „P. Berthold“, Beginn des politischen und sozialen Engagements.
Zuerst Vorleserin im Mädchenweisenhaus des Israelitischen Frauenvereins übernahm sie 1895 dessen Leitung.
Mitarbeit beim Aufbau der Ortsgruppe Frankfurt des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, Veröffentlichungen von Artikeln zum Frauenrecht.
1902 in Frankfurt: Konferenz zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Berta Pappenheim und Sara Rabinowitsch werden beauftragt, die Situation in Galizien zu untersuchen.
1904 Bericht: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reiseeindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse.
1904 International Council of Women in Berlin: Dort kam es zur Gründung eines Jüdischen Frauenverbandes, Berta Pappenheim war dessen erste Vorsitzende und übte diese Funktion 20 Jahre aus.
1914-1924 Vorstandsmitglied im Bund Deutscher Frauenvereine. 1907 Erster Delegiertentag des JFB 1907, der damals 32.000 Mitglieder in 82 Vereinen zählte. Auf dem Delegiertentag äußerte sich Berta Pappenheim kritisch „Vor dem jüdischen Gesetz ist die Frau kein Individuum, keine Persönlichkeit, nur als Geschlechtswesen wird sie beurteilt und anerkannt.“ (Heubach, 1994, 112) Die orthodoxen Rabbiner und die jüdischer Presse reagierten heftig, warfen ihr vor, das Judentum zu schmähen und  bestritten das Vorkommen von  Mädchenhandel; Vernachlässigung unehelich geborener jüdischer Waisenkinder. 1917 Bertha Pappenheim forderte, der „Zersplitterung innerhalb der jüdischen Wohlfahrtspflege ein Ende zu machen“.

Das  führte zur Gründung der  Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die heute noch / wieder besteht. Berta Pappenheim initiierte zahlreiche Kindergärten, Erziehungsheime und Bildungsstätten.


Mädchenheim Neu-Iseburg

Mit dem Mädchenheim Neu-Isenburg konnte sie ihre Vorstellungen von fortschrittlichr jüdischer Sozialarbeit zur Unterstützung jener von Mädchenhandel und Prostitution bedrohten jüdischen Mädchen und Frauen verwirklichen.
Das Haus wurde dank der Spenden von Luise Goldschmidt erworben und weitere Spenden von 19.000 Mark ermöglichten dessen Einrichtung.
Eröffnet wurde das Heim am 25. November 1907.

Anfangs waren dort nur wenige Bewohnerinnen, 1928 lebten dort 152 Mädchen und Frauen. Die Bewohnerinnen wurden ärztlich und auch psychiatrisch betreut. Psychoanalyse lehnte Berta Pappenheim ab.
„Psychoanalyse ist in der Hand des Arztes, was die Beichte in der Hand des katholischen Geistlichen ist; es hängt von dem Anwender und der Anwendung ab, ob sie ein gutes Instrument oder ein zweischneidiges Schwert ist.“ (Edinger, 1968, 13)

Das Mädchenheim Neu-Isenburg blieb bis 1936 weitgehend unbehelligt, ab 1937 durften die Kinder die Volksschule in Neu-Isenburg nicht mehr besuchen, 1938 betrieb die örtliche NSDAP-Gruppe die Auflösung des Heimes,  dessen Hauptgebäude einen Tag nach der Reichskristallnacht, am 10. 11. 1938 angezündet wurde.
1942 löste die Gestapo  das Heim endgültig auf. Die Kinder wurden nach Theresienstadt deportiert.

Spitzen und Eisengusskunst:

Berta Pappenheim sammelte Spitzen und Eisengusskunst. In der NS-Zeit in Not gekommen, versuchte sie ihre Sammlung dem Gewerbemuseum in Wien zu verkaufen.
Diese Sammlung befindet sich heute im Museum für angewandte Kunst (MAK)  in Wien.

1933-1936: NS-Herrrschaft in Deutschland, Krankheit

1933-1934 Nach der NS-Machtübernahme wurde Berta Pappenheim neuerlich Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes. Dem Zionismusgegenüber kritsch eingestellt lehnte sie bis zum Erlass der Nürnberer Gesetze (15.9.1935)  die Emigration von Kindern nach Palästina ab, brachte aber dann selber schon 1934 eine Kindergruppe nach Großbritannien.

An einem Tumor erkrankt und schon sehr geschwächt wurde sie von einer christlichen Angestelleten des Heimes Neu-Isenburg denunziert noch kurz vor ihrem Tod von der Staatspolizie Offenbach verhört.

Berta Pappenheim starb m 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg.
   
Text und Redaktion: Christine Diercks, 8. 6. 2012