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Einführung der Psychoanalyse in Nordamerika (aus Freud, 1914d)

Auszug aus:
Sigmund Freud (1914d): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X, 43-113.

„Die Einführung der Psychoanalyse in Nordamerika ging unter besonders ehrenvollen Anzeichen vor sich. Im Herbst 1909 wurden Jung und ich von Stanley Hall, dem Präsidenten der Clark University in Worcester (bei Boston), eingeladen, uns an der zwanzigjährigen Gründungsfeier des Institutes durch Abhaltung von Vorträgen in deutscher Sprache zu beteiligen. Wir fanden zu unserer großen Überraschung, daß die vorurteilslosen Männer jener kleinen, aber angesehenen pädagogisch-philosophischen Universität alle psychoanalytischen Arbeiten kannten und in den Vorträgen für ihre Schüler gewürdigt hatten. In dem so prüden Amerika konnte man wenigstens in akademischen Kreisen alles, was im Leben als anstößig galt, frei besprechen und wissenschaftlich behandeln. Die fünf Vorträge, die ich in Worcester improvisiert habe, erschienen dann im American Journ. of Psychology in englischer Übersetzung, bald darauf deutsch unter dem Titel „Über Psychoanalyse“; Jung las über diagnostische Assoziationsstudien und über „Konflikte der kindlichen Seele“. Wir wurden dafür mit dem Ehrentitel von LL. D. (Doktoren beider Rechte) belohnt. Die Psychoanalyse war während jener Festwoche in Worcester durch fünf Personen vertreten, außer Jung und mir waren es Ferenczi, der sich mir als Reisebegleiter angeschlossen hatte, Ernest Jones, damals an der Universität in Toronto (Kanada), jetzt in London, und A. Brill, der bereits in New York analytische Praxis ausübte.

Die bedeutsamste persönliche Beziehung, die sich in Worcester noch ergab, war die James J. Putnam, dem Lehrer der Neuropathologie an der Harvard University, der vor Jahren ein abfälliges Urteil über die Psychoanalyse ausgesprochen hatte, sich jetzt aber rasch mit ihr befreundete und sie in zahlreichen inhaltreichen wie formschönen Vorträgen seinen Landsleuten und Fachgenossen empfahl. Der Respekt, den sein Charakter ob seiner hohen Sittlichkeit und kühnen Wahrheitsliebe in Amerika genoß, kam der Psychoanalyse zugute und deckte sie gegen die Denunziationen, denen sie sonst wahrscheinlich zeitig erlegen wäre. Putnam hat dann später dem großen ethischen und philosophischen Bedürfnis seiner Natur allzusehr nachgegeben und an die Psychoanalyse die, wie ich meine, unerfüllbare Forderung gestellt, daß sie sich in den Dienst einer bestimmten sittlich-philosophischen Weltanschauung finden solle; er ist aber die Hauptstütze der psychoanalytischen Bewegung in seinem Heimatlande geblieben.

Um die Ausbreitung dieser Bewegung erwarb sich dann Brill und Jones die größten Verdienste, indem sie in ihren Arbeiten in selbstverleugnender Emsigkeit die leicht zu beobachtenden Grundtatsachen des Alltagslebens, des Traumes und der Neurose immer wieder von neuem ihren Landsleuten vor Augen führten. Brill hat diese Einwirkung durch seine ärztliche Tätigkeit und durch die Übersetzung meiner Schriften, Jones durch lehrreiche Vorträge und schlagfertige Diskussionen auf den amerikanischen Kongressen verstärkt.

Der Mangel einer eingewurzelten wissenschaftlichen Tradition und die geringe Strammheit der offiziellen Autorität sind der von Stanley Hall für Amerika gegebenen Anregung entschieden vorteilhaft gewesen. Es war dort auch von allem Anfang an charakteristisch, daß sich Professoren und Leiter von Irrenanstalten in gleichem Maße wie selbständige Praktiker an der Analyse beteiligt zeigten. Aber gerade darum ist es klar, daß der Kampf um die Analyse dort seine Entscheidung finden muss, wo sich die größere Resistenz ergeben hat, auf dem Boden der alten Kulturzentren.“
(Freud, 1914d, GW X, 70, 71)