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Abraham, Karl (1923): Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. IZP 1923, IX, Heft1, 27-47

Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter.
Von Dr. Karl Abraham (Berlin).

 

 

Das weite Gebiet, welches heute der psychoanalytischen Wissenschaft zugänglich ist, bietet uns eine Fülle von Einzelbeispielen für das rasche Anwachsen psychologischer Erkenntnis auf dem Wege rein induktiver Forschung. Unter diesen Beispielen ist die Entwicklung der Lehre vom Analcharakter vielleicht das merkwürdigste und lehrreichste. Im Jahre 1908, etwa 15 Jahre nach dem Erscheinen seiner ersten Beiträge zur Psychologie der Neurosen, veröffentlichte Freud seine kurzen Bemerkungen über „Charakter und Analerotik“. Sie fanden auf drei Druckseiten einer Zeitschrift Platz, als ein Muster komprimierter Darstellung und ebenso vorsichtiger wie klarer Formulierung. Die allmählich wachsende Schar der Mitarbeiter half den Kreis der gesicherten Erkenntnisse erweitern; unter ihren Beiträgen seien die von Sadger, Ferenczi und Jones hervorgehoben. Eine ungeahnte Bedeutung gewann die Lehre von den Umwandlungsprodukten der Analerotik, als Freud im Jahre 1913, anschließend an Jones‘ wichtige Untersuchung über „Haß und Analerotik in der Zwangsneurose“, eine frühe „prägenitale“ Organisation der Libido beschrieb. Er leitete die Symptome der Zwangsneurose von einer Regression der Libido zu dieser Entwicklungsstufe her, die durch ein Vorwiegen der analen und sadistischen Triebkomponenten ausgezeichnet sei. Damit fiel ein neues Licht sowohl auf die Symptomatik der Zwangsneurose als auch auf die charakterologischen Besonderheiten der an ihr Leidenden, also auf den sogenannten „Zwangscharakter“. Einer späteren Publikation vorgreifend, füge ich hinzu, daß sich sehr ähnliche Anomalien des Charakters bei denjenigen Menschen finden, die zu melancholischen und manischen Zuständen neigen. Die Erforschung dieser letztgenannten, uns noch immer rätselhaften Erkrankungen macht uns ein möglichst genaues Studium der sadistisch-analen Charakter-

 

 

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züge zur Pflicht. Die vorliegende Untersuchung berücksichtigt in der Hauptsache nur die analen Beiträge zur Charakterbildung. Die letzte große Publikation von Jones (FN 1) über diesen Gegenstand bringt eine Fülle wertvoller Erfahrungen, vermag aber das Gebiet noch nicht zu erschöpfen. Der Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der Erscheinungen vermag eben das Werk eines einzelnen nicht gerecht zu werden; jeder, der über eigene Erfahrungen verfügt, sollte sie mitteilen und so zum Aufbau der psychoanalytischen Wissenschaft beitragen. So ist es auch der Zweck der folgenden Ausführungen, die Lehre von den analen Charakterzügen nach gewissen Richtungen weiterzuführen. Eine andere Aufgabe von größerer prinzipieller Bedeutung wird im Hintergrund dieser Untersuchung wieder und wieder erscheinen. Wir verstehen bisher nur ganz unvollkommen die besonderen psychologischen Beziehungen zwischen den beiden Triebgebieten — Sadismus und Analerotik — die wir ständig und fast schon gewohnheitsmäßig in engem Zusammenhang miteinander zu nennen pflegen. Die Lösung dieser Frage soll in einer späteren Abhandlung versucht werden.

 

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Freud’s erste Beschreibung des analen Charakters besagte, daß gewisse Neurotiker drei Charakterzüge in besonderer Ausprägung darbieten: eine Ordnungsliebe, die oft in Pedanterie ausarte, eine Sparsamkeit, die leicht in Geiz übergehe, und einen Eigensinn, der sich zu heftigem Trotz steigere. Er stellte fest, daß bei solchen Individuen die primäre Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten besonders betont war. Er ermittelte, daß die Koprophilie dieser Personen nach gelungener Verdrängung sublimiert werde zu einer Lust am Malen, Modellieren und ähnlichen Tätigkeiten, oder daß sie auf dem Wege der Reaktionsbildung in einen besonderen Drang nach Reinlichkeit übergehe. Endlich betonte er die unbewußte Gleichsetzung des Kotes mit Geld oder anderen Kostbarkeiten. Sadger (FN 2) fügte neben andern die Beobachtung hinzu, daß Personen mit ausgeprägtem Analcharakter der Überzeugung zu sein pflegen, sie könnten alles besser machen als irgend ein anderer. Auch verwies er auf eine Gegensätzlichkeit in ihrem Charakter: große Beharrlichkeit finde sich neben der Neigung, jede Leistung bis zum letzten Augenblick hinauszuschieben.

 

Gelegentliche Bemerkungen anderer Autoren in der psychoanalytischen Literatur übergehend, wende ich mich der gründlichen,

 

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(FN 1) Bd. V dieser Zeitschrift, S. 69 f.

(FN 2) „Analerotik und Analcharakter“ in „Die Heilkunde“ 1910.

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auf reicher Erfahrung ruhenden Untersuchung von Jones zu. Im voraus kann ich bemerken, daß ich dem Autor in keinem Punkt zu widersprechen habe. Seine Aufstellungen scheinen mir nur der Vervollständigung und Erweiterung nach gewissen Richtungen zu bedürfen.

 

An dem Vorgang, den wir gewöhnlich als Erziehung des Kindes zur Reinlichkeit bezeichnen, unterscheidet Jones mit Recht zwei verschiedene Akte. Das Kind muß nicht nur davon entwöhnt werden, seinen Körper und seine Umgebung mit den Exkreten zu verunreinigen, sondern es hat sich auch an eine zeitliche Regelmäßigkeit der Entleerungsfunktionen zu gewöhnen. Mit anderen Worten: es hat sowohl seine Koprophilie aufzugeben, als auch seine Lust an den Exkretionsvorgängen selbst. Dieser doppelte Prozeß der Einschränkung infantiler Triebe mitsamt seinen Konsequenzen auf psychischem Gebiet bedarf noch ergänzender Untersuchungen.

 

Die primitive Entleerungsweise des Kindes bringt die gesamte Oberfläche des Rumpfes und der Extremitäten mit Urin und Stuhl in Berührung. Dem Erwachsenen, dem die kindliche Reaktion auf diese Vorgänge durch Verdrängung entfremdet ist, erscheint diese Berührung unangenehm, ja ekelhaft. Er vermag nicht die Lustquellen zu sehen, aus denen die Libido des Säuglings schöpfen kann. Der Strom des warmen Urins ruft an der Haut Lustgefühle hervor, ganz wie die Berührung mit der warmen Masse des Kotes. Das Kind äußert Unlust erst dann, wenn die entleerten Exkrete an seinem Körper erkalten. Es ist die gleiche Lust, die das Kind in etwas späterer Zeit sucht, wenn es seine Hände mit Kot in Berührung bringt. Ferenczi (FN 1) hat diese Neigung des Kindes in ihrer weiteren Entwicklung verfolgt. Daß sich ihr die Lust am Anblick und Geruch des Kotes hinzugesellt, darf nicht unbeachtet bleiben.

 

Die eigentliche Exkretionslust, die wir von dem Wohlgefallen an den Produkten des Vorganges unterscheiden müssen, begreift neben den körperlichen Empfindungen noch eine psychische Befriedigung in sich, welche sich auf die Leistung der Exkretionen bezieht. Indem nun die Erziehung vom Kinde neben der Reinlichkeit eine strenge Regelmäßigkeit in den Exkretionen fordert, setzt sie den Narzißmus des Kindes einer ersten, harten Belastungsprobe aus. Die Mehrzahl der Kinder paßt sich früher oder später dieser Forderung an. Im günstigen Falle gelingt es dem Kinde

 

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(FN 1) »Zur Ontogenese des Geldinteresses.“ Z. II, S. 506.

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sozusagen, aus der Not eine Tugend zu machen, das heißt sich mit der Forderung der Erzieher zu identifizieren und auf das Erreichte stolz zu sein. Die primäre Verletzung seines Narzißmus ist dann kompensiert, das ursprüngliche Gefühl der Selbstherrlichkeit ersetzt durch die Befriedigung an der gelungenen Leistung, am „Bravsein“, am Lob der Eltern.

 

Nicht alle Kinder sind in dieser Hinsicht gleich erfolgreich. Besonders soll hier darauf aufmerksam gemacht werden, daß es Überkompensierungen gibt, unter welchen das trotzige Festhalten am primitiven Selbstbestimmungsrecht verborgen liegt, bis es gelegentlich gewaltsam hervorbricht. Ich habe hier solche Kinder (und natürlich auch Erwachsene) im Auge, die sich durch besondere Bravheit, Korrektheit, Folgsamkeit hervortun, ihre in der Tiefe liegenden rebellischen Antriebe aber damit begründen, daß man sie von früh auf unterdrückt habe. Solche Fälle haben ihre eigene Entwicklungsgeschichte. Ich konnte bei einer meiner Patientinnen den Hergang bis in die erste Kindheit verfolgen, wobei uns allerdings frühere Aussagen der Mutter zu Hilfe kamen.

 

Die Patientin war die mittlere von drei Schwestern. Sie wies in ungewöhnlicher Deutlichkeit und Vollständigkeit die für ein „mittleres“ Kind bezeichneten Wesenszüge auf, die neuerdings von Hug-Hellmuth (FN 1) in so einleuchtender Weise zusammengefaßt worden sind. Ihr Trotz aber, der sich in klarster Weise mit ihren Ansprüchen auf das kindliche Selbstbestimmungsrecht im erwähnten Sinne verband, ging in letzter Linie auf ein besonderes Schicksal ihrer Kindheit zurück.

 

Als die Patientin geboren wurde, war ihre ältere Schwester noch nicht ein Jahr alt. Die Mutter hatte die Ältere noch nicht hinlänglich an Reinlichkeit gewöhnt, als die Neugeborene ihr ein verdoppeltes Maß an Körper- und Wäschereinigung auferlegte. Als das zweite Kind aber wenige Monate alt war, trat bei der Mutter die dritte Schwangerschaft ein. Um nun zur Zeit der Geburt des dritten Kindes nicht abermals durch das vorhergehende allzusehr in Anspruch genommen zu sein, beschloß die Frau, das zweite Kind beschleunigt zur Reinlichkeit zu erziehen. Sie ver- langte von ihm frühzeitiger, als sonst üblich, Folgsamkeit in der Verrichtung der Bedürfnisse und unterstützte die Wirkung der Worte durch einen Schlag auf den Körper des Kindes. Die Maßregel brachte einen der geplagten Mutter sehr erwünschten

 

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(FN 1) Imago, Bd. 7, 1921.

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Erfolg, indem das Kind abnorm früh ein Ideal an Sauberkeit darstellte. Es blieb dann auch weiter auffallend fügsam. Herangewachsen befand die Patientin sich in einem steten Konflikt zwischen bewußter Nachgiebigkeit, Resignation und Opferbereitschaft auf der einen und unbewußter Rachsucht auf der anderen Seite.

 

Der hier im Bruchstück geschilderte Fall illustriert in lehrreicher Weise die Wirkung früher Verletzungen des kindlichen

Narzißmus, besonders, wenn sie fortdauernder, systematischer Art sind und dem Kinde eine Gewohnheit vorzeitig aufzwingen, zu der ihm noch die psychische Bereitschaft fehlt. Denn diese tiitt erst ein, wenn das Kind anfängt, die ursprünglich narzißtisch gebundenen Gefühle auf Objekte (Mutter usw.) zu übertragen. Ist das Kind hierzu bereits fähig, so wird es reinlich dieser Person „zuliebe“. Wird die Reinlichkeit allzufrüh verlangt, so geschieht die Gewöhnung an diesen Zustand aus Furcht. Der innere Widerstand bleibt bestehen, die Libido verharrt mit Zähigkeit in narzißtischer Fixierung, und eine nachhaltige Störung der Liebesfähigkeit ist die Folge.

 

Die volle Bedeutung eines solchen Verfahrens für die psychosexuelle Entwicklung des Kindes tritt erst hervor, wenn man den Entgang narzißtischer Lust im einzelnen verfolgt. Jones verweist mit Nachdruck auf den Zusammenhang des hohen Selbstgefühls des Kindes mit seinen exkretorischen Leistungen. In einer kleinen Mitteilung (FN 1) habe ich selbst an Beispielen zu zeigen versucht, daß der kindlichen Vorstellung von der Allmacht der eigenen Wünsche und Gedanken ein Stadium vorausgehen könne, in welchem das Kind seinen Exkretionen eine solche Allgewalt zumesse. Vermehrte Erfahrung hat mich seither davon überzeugt, daß es sich hier um einen regelmäßigen, typischen Vorgang handelt. Die Patientin, von deren Kindheit ich soeben berichtete, ist nun zweifellos im Genuß dieser narzißtischen Lust gestört worden. Schwere und quälende Gefühle der Unzulänglichkeit, mit denen sie später behaftet war, gingen in ihren letzten Wurzeln sehr wahrscheinlich auf diese vorzeitige Zerstörung des kindlichen „Größenwahns“ zurück.

 

Die Wertschätzung der Exkretionen als Äußerungen einer ungeheuren Machtfülle ist dem Bewußtsein des normalen Erwachsenen entfremdet. Daß sie aber in seinem Unbewußten fortlebt, zeigt sich u. a. in vielen alltäglichen Redensarten meist scherzhafter

 

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(FN 1) »Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge“, Z. VI, 1920.

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Natur, die beispielsweise den Sitz eines Klosetts als „Thron“ bezeichnen. Es ist nicht zu verwundern, daß Kinder, die in einem stark analerotischen Milieu aufwachsen, derartige oft gehörte Vergleiche dem eisernen Bestand ihrer Reminiszenzen einverleiben und sie in ihren späteren neurotischen Phantasien verwenden. Einer meiner Patienten hatte das zwanghafte Bedürfnis, den Worten der deutschen Kaiserhymne eine solche Bedeutung unterzulegen. In seinen Größenphantasien sich an die Stelle des Kaisers versetzend, malte er sich die „hohe Wonne“ aus, „in des Thrones Glanz zu fühlen“, d. h. die eigenen Exkremente zu berühren.

 

Die Sprache gibt uns, wie auf vielen anderen Gebieten, auch für diese Überwertung der Defäkation charakteristische Belege. So besitzt die spanische Sprache den gebräuchlichen (nicht etwa scherzhaft gemeinten) Ausdruck „regir el vientre“ („den Leib regieren“), der den Stolz auf die Darmfunktion deutlich hervorhebt.

 

Erkennen wir im Entleerungsstolz des Kindes ein primitives Machtgefühl, so wird uns das eigentümliche Gefühl der Ohnmacht verständlich, das wir bei neurotisch Obstipierten oftmals finden. Ihre Libido hat sich von der Genitalzone auf die Analzone verschoben, und nun betrauern sie die Hemmung der Darmfunktion in ähnlicher Weise wie die genitale Impotenz. Man fühlt sich versucht, mit Bezug auf den Stuhl-Hypochonder von einer intestinalen Impotenz zu sprechen.

 

Eng verbunden mit diesem Stolz ist die zuerst von Sadger hervorgehobene Vorstellung vieler Neurotiker, alles selbst tun zu müssen, weil kein anderer es so gut machen könne wie sie selbst. Nach meiner Erfahrung steigert diese Überzeugung sich nicht selten zu einer Vorstellung der Einzigartigkeit. Solche Personen werden prätentiös imd überhebend und neigen zur Geringschätzung aller anderen Menschen. Ein Patient äußerte in diesem Sinne: „Alles, was nicht Ich ist, ist Dreck.“ Solche Neurotiker haben auch an einem Besitz nur Freude, wenn niemand sonst dergleichen hat, verachten dementsprechend auch eine Tätigkeit, die sie mit anderen Menschen teilen müßten.

 

Bekannt ist die Empfindlichkeit des analen Charakters gegen äußere Eingriffe jeglicher Art in den wirklichen oder vermeintlichen Bereich seiner eigenen Macht. Daß bei solchen Personen die Psychoanalyse die lebhaftesten Widerstände hervorrufen muß, ist klar. Sie erscheint dem Neurotiker als eine unerhörte Einmischung in seine Lebensführung. „Die Psychoanalyse rührt in meinen Angelegenheiten herum“, äußerte ein Patient und deutete damit

 

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unbewußt auf seine passiv-homosexuelle und anale Einstellung zum Analytiker hin.

 

Jones betont das eigensinnige Festhalten an einer selbsterdachten Ordnung. Solche Neurotiker lehnen es durchaus ab, sich einer von anderer Seite stammenden Ordnung zu fügen, erwarten aber eine solche Fügsamkeit von anderen Menschen, sobald sie selbst auf irgend einem Gebiet ein bestimmtes System erdacht haben. Bezeichnend ist beispielsweise das Einführen eines genauen Regulativs für den Dienst in einem Bureau, eventuell das Verfassen eines Buches, welches bindende Vorschriften oder Vorschläge für die Organisation aller Bureaus einer bestimmten Art

enthält.

 

Ein krasses Beispiel für das Aufzwingen einer bestimmten Ordnung ist das folgende. Eine Mutter verfaßt ein schriftliches Programm, in welchem sie ihrer Tochter den Tag in minutiöser Weise einteilt. Für den frühen Morgen enthält es zum Beispiel die Anweisung: 1. Aufstehen, 2. Topf eben, 3. Händewaschen usw. Am Morgen klopft sie von Zeit zu Zeit an die Tür und fragt die Tochter : wie weit bist du ? Diese hat dann zu antworten „9“ oder „15“ usw., so daß die Mutter eine genaue Kontrolle über die Einhaltung des Planes hat.

 

Schon hier sei darauf hingewiesen, daß alle solche Systeme nicht nur vom Ordnungszwang, sondern auch von der Herrschsucht ihrer Erfinder zeugen, die aus sadistischen Quellen stammt. Auf das Zusammenfließen analer und sadistischer Strömungen wird später ausführlich einzugehen sein.

 

Die Lust solcher Neurotiker am Rubrizieren und Registrieren, am Anfertigen von tabellarischen Übersichten und an der Statistik in allen ihren Formen ist hier zu erwähnen.

 

Die gleiche Eigenwilligkeit zeigen solche Neurotiker jeder Forderung od,er Bitte gegenüber, die von irgend einer Person an sie gestellt wird. Wir werden an das Verhalten jener Kinder erinnert, die sich obstipiert zeigen, wenn man die Defäkation von ihnen fordert, hernach aber zu einer ihnen selbst genehmen Zeit dem Bedürfnis nachgeben. Derartige Kinder lehnen sich übrigens in gleicher Weise wie gegen das „Sollen“ (die befohlene Entleerung) auch gegen das „Müssen“ (Ausdruck der Kindersprache für den Stuhldrang) auf. Ihre Neigung zum Hinausschieben der Entleerung entspricht einer Abwehr nach beiden Seiten.

 

Da nun die Hergabe der Exkremente die früheste Form ist, in welcher das Kind „gibt“ oder „schenkt“, so wird der spätere Neurotiker im Geben die geschilderte Eigenwilligkeit bewahren,

 

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demnach also in vielen Fällen eine an ihn ergehende Bitte oder Forderung ablehnen, freiwillig dagegen ohne kleinliche Berechnung schenken. Ihm liegt an der Wahrung seines Bestimmungsrechtes. In unseren Psychoanalysen erfahren wir häufig, daß Ehemänner sich gegen jede von der Frau vorgeschlagene Geldausgabe sträuben, um hernach „freiwillig“ mehr als das ursprünglich Verlangte zu bewilligen. Solche Männer lieben es, ihre Frauen in finanzieller Hinsicht dauernd unselbständig zu erhalten. Das Zuteilen des Geldes in Portionen, die sie selbst bestimmen, ist ihnen eine Quelle der Lust. Wir kennen Ähnliches im Verhalten mancher Neurotiker bezüglich der Defäkation, die sie auch „in refracta dosi“ erfolgen lassen. Eine besondere Neigung solcher Männer und Frauen ist das Verteilen von Essen in Portionen nach ihrem Gutdünken. Gelegentlich nimmt diese Neigung groteske Formen an, so z. B. im Falle eines alten, geizigen Mannes, der seine Ziege fütterte, indem er ihr jeden Grashalm einzeln gab. Im Vorübergehen sei auch hier wieder auf die sadistische Nebenmotivierung solcher Handlungsweise hingewiesen. Man steigert Verlangen und Erwartung, um die Befriedigung nur in kleinen, jeweils ungenügenden Rationen folgen zu lassen.

 

Manche solche Neurotiker suchen da, wo sie der Forderung eines anderen nachgeben müssen, immer noch den Schein eigener Bestimmung aufrecht zu erhalten. Dahin gehört die Neigung, auch kleinste Rechnungen durch Scheck zu bezahlen ; d. h. man benützt nicht die allgemein gangbaren Noten und Münzen, sondern stellt für jeden Fall „sein eigenes Geld“ her. Die Unlust des Ausgebens wird dadurch um ebensoviel gemindert, wie sie durch Zahlung in üblicher Münze erhöht werden würde; daß hier noch andere Motive determinierend wirken, sei ausdrücklich betont.

 

Die Neurotiker, welche in allem das eigene System durchsetzen wollen, neigen zur übertriebenen Kritik an anderen, die leicht in Nörgelei ausartet. Im sozialen Leben stellen sie das Hauptkontingent zu den dauernd Mißvergnügten. Wie Jones aber überzeugend nachweist, kann die ursprüngliche anale Eigenwilligkeit sich nach zwei verschiedenen Richtungen entwickeln. In einem Teil der Fälle sind Unzugänglichkeit und Halsstarrigkeit, also unsoziale und unproduktive Eigenschaften das Ergebnis. In anderen Fällen entwickeln sich Ausdauer und Gründlichkeit, d. h. Eigenschaften von sozialem Wert, solange sie nicht ins Extreme ausarten. An dieser Stelle ist wiederum neben der Analerotik auf andere Triebquellen aufmerksam zu machen, die eine Verstärkung solcher Tendenzen liefern.

 

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Geringe Beachtung hat in der psychoanalytischen Literatur der entgegengesetzte Typus gefunden. Gewisse Neurotiker lehnen jede Art von eigener Initiative ab. Im praktischen Leben soll nach ihrem Wunsche stets ein gütiger Vater oder eine sorgsame Mutter zur Hand sein, um ihnen jede Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen. In der Psychoanalyse sind sie ungehalten darüber, daß sie frei assoziieren sollen; sie möchten nur still daliegen und die Leistung der Analyse ganz dem Arzt zuschieben, oder sie verlangen, vom Arzt ausgefragt zu werden. Nach den übereinstimmenden Ergebnissen solcher Psychoanalysen kann ich aussagen, daß jene Patienten in der Kindheit sich der geforderten Defäkationsleistung widersetzten, dann aber von den Müttern (oder auch Vätern) durch freigebige Verabreichung von Klysmen oder Abführmitteln dieser Mühe überhoben wurden. Das freie Assoziieren ist ihnen eine psychische Entleerung, die sie sich — gleich der körperlichen — nicht abverlangen lassen wollen. Sie erwarten beständig, daß man ihnen die Mühe erleichtern oder ganz abnehmen werde. Ich erinnere hier an die umgekehrte Form des Widerstandes, die ich in einer früheren Mitteilung (FN 1) ebenfalls auf analerotische Quellen zurückgeführt habe. Es handelte sich um jene Patienten, die in der Psychoanalyse alles allein und nach eigener Methode tun wollen und deswegen die ihnen vorgeschriebene des freien Assoziierens ablehnen.

 

Hier soll im allgemeinen nicht von der neurotischen Symptombildung, die sich auf der Grundlage verdrängter Analerotik vollzieht, die Rede sein, sondern hauptsächlich von charakterologischen Erscheinungen. Die mannigfaltigen Äußerungen neurotischer Hemmung, deren Zusammenhang mit der Verschiebung der Libido auf die Analzone leicht ersichtlich ist, berücksichtige ich daher nur nebenbei. Ein genaueres Eingehen erfordert die Tatsache, daß die Ablehnung aktiver Leistungen eine häufige Erscheinung im Rahmen des analen Charakters bildet. Namentlich bedarf es hier einer kurzen Erörterung der besonderen Verhältnisse beim sogenannten Zwangscharakter.

 

Wenn bei einem männlichen Individuum die Libido nicht in vollem Umfange zur genitalen Organisationsstufe fortschreitet, oder wenn sie von der genitalen zur analen Entwicklungsphase regrediert, so resultiert daraus stets eine Minderung der männlichen Aktivität in jedem Sinne des Wortes. Die physiologische

 

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(FN 1) „Über eine besondere Form des Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik.“ Z. V., 1919.

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Produktivität des Mannes ist an die Genitalzone gebunden. Findet eine Regression der Libido zur sadistisch-analen Phase statt, so geht die Produktivität des Mannes nicht nur im rein generativen Sinne verloren. Die genitale Libido des Mannes soll zum Zeugungsakt, und damit zur Entstehung eines neuen Lebewesens, den ersten Anstoß geben. Fehlt dem Manne die Initiative, welche zu dieser eigentlichsten Produktivität notwendig ist, so finden wir regelmäßig auch im sonstigen Verhalten des Mannes einen Mangel an Produktivität und Initiative. Aber die Folgen reichen noch weiter.

 

Mit der genitalen Aktivität des Mannes verbindet sich eine positive Gefühlseinstellung zum Liebesobjekt, die sich auch auf sein Verhältnis zu sonstigen Objekten überträgt und sich in seiner Fähigkeit zur sozialen Anpassung, in der Hingabe an bestimmte Interessen, Ideen und dergl. äußert. In allen diesen Hinsichten steht die Charakterbildung der sadistisch-analen Stufe derjenigen der genitalen Phase nach. Das sadistische Element, das für die normale Triebhaftigkeit des Mannes von großer Bedeutung ist, sobald es durch Sublimierung eine geeignete Umwandlung erfahren hat, ist im Zwangscharakter zwar in besonderer Stärke vertreten, aTber es ist infolge der Ambivalenz des Trieblebens solcher Individuen mehr oder weniger gelähmt. Zudem enthält es destruktive, objektfeindliche Tendenzen und kann deshalb nicht zu wirklicher Fähigkeit der Hingabe an ein Liebesobjekt sublimiert werden. Denn die oft beobachtete Reaktionsbildung im Sinne übergroßer Nachgiebigkeit und Weichheit darf nicht mit wirklicher Übertragungsliebe verwechselt werden. Günstiger zu beurteilen sind diejenigen Fälle, in welchen Objektliebe und genitale Libidoorganisation immerhin zu einem guten Teil erreicht sind. Gesellt sich zu einer solchen unvollkommenen Objektliebe die erwähnte „Übergüte“, so entsteht eine sozial nützliche Spielart, die dennoch einer vollen Objektliebe in wesentlichen Beziehungen nachsteht.

 

Wir finden nun bei Individuen mit mehr oder weniger beeinträchtigter Genitalität regelmäßig die unbewußte Tendenz, die Analfunktion als produktive Tätigkeit zu bewerten, bezw. den Anschein zu erwecken, als sei die genitale Leistung unwesentlich, die anale weit bedeutungsvoller. Dementsprechend ist das soziale Verhalten solcher Personen stark an das Geld gebunden. Sie lieben es, Geld oder Geldeswert zu schenken; manche unter ihnen werden Mäzene oder Wohltäter. Doch bleibt ihre Libido den Objekten mehr oder weniger fern, und so ist auch ihre Arbeitsleistung nicht im eigentlichen Sinne produktiv. Es fehlt ihnen keineswegs an Ausdauer — einem häufigen Kennzeichen des analen Charak-

 

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ters — aber sie wird zu einem guten Teil in unproduktivem Sinne verwandt, etwa an pedantische Einhaltung festgesetzter Formen verschwendet, so daß in ungünstigen Fällen das sachliche Interesse dem formalen erliegt.

 

Erörtern wir die vielfachen Beziehungen, in welchen der anale Charakter der männlichen Aktivität Eintrag tut, so dürfen wir endlich die oft so hartnäckige Neigung zum Hinausschieben jeder Leistung nicht vergessen. Wir sind über die Herkunft dieser Tendenz gut unterrichtet. Sehr gewöhnlich verbindet sich mit ihr eine Neigung zum Unterbrechen jeder begonnenen Tätigkeit; bei manchen Personen kann man, wenn sie irgend etwas beginnen, schon voraussagen, daß bald eine Unterbrechung kommen wird.

 

In selteneren Fällen fand ich das umgekehrte Verhalten. So war einer meiner Patienten durch einen langdauernden Widerstand verhindert, seine Doktor-Dissertation zu schreiben. Nach vielen anderen Motiven des Widerstandes kam endlich noch ein weiteres zum Vorschein. Der Patient gab an, er müsse den Beginn der Arbeit scheuen. Denn wenn er etwas angefangen habe, könne er nicht wieder aufhören. Wir werden hier an das Verhalten gewisser Neurotiker bezüglich ihrer Exkretionen erinnert. Sie halten den Darm- oder Blaseninhalt zurück, solange dies irgend möglich ist. Geben sie dem übermächtig gewordenen Drang endlich nach, so gibt es kein Einhalten mehr, und das gesamte Quantum kommt zutage. Hier ist besonders die Tatsache zu beachten, daß es sowohl eine Lust am Zurückhalten der Exkremente, als eine Lust an ihrer Entleerung gibt. Der wesentlichste Unterschied beider liegt in dem protrahierten Ablauf der einen, in dem akuten Abschluß der anderen Lustform. Für den erwähnten Patienten bedeutete der lange hinausgezögerte Beginn der Arbeit eine Wendung von der Retentionslust zur Entleerungslust. (FN 1)

 

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(FN 1) Die Retentionsneigung stellt eine spezielle Form des Festhaltens an der Vorlust dar und scheint mir besondere Beachtung zu verdienen. Ich will mich in dieser Hinsicht mit einem einzigen Hinweis begnügen. Man hat neuerdings mehrfach zwei entgegengesetzte „psychologische Typen“ aufgestellt und versucht, sämtliche Individualitäten in diesen unterzubringen. Erinnert sei namentlich an Jungs „extravertierten“ und „introvertierten“ Typus. Der Patient, von dem ich oben berichtete, war nun zweifellos in höchstem Maße nach innen gekehrt, gab aber diese seine objektfeindliche Einstellung im Laufe seiner Psychoanalyse mehr und mehr auf. Diese und viele ähnliche Erfahrungen berechtigen zu der Auffassung, daß die „Introversion“ im Sinne Jungs großenteils mit dem infantilen Festhalten an der Retentionslust zusammenfällt. Es handelt sich also um ein Verhalten, das erworben und aufgegeben werden kann, nicht aber um Äußerungen eines starren psychologischen Typus.

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In welchem Maße das Überwiegen der analen über die genitale Erotik den Neurotiker inaktiv und unproduktiv macht, das möge noch eine Einzelheit aus der Geschichte des gleichen Patienten zeigen.

 

Auch während der Psychoanalyse verhielt der Patient sich lange Zeit hindurch gänzlich untätig und verhinderte durch seinen Widerstand jedwede Änderung sowohl seines Zustandes als auch der ihn umgebenden Verhältnisse. Seine einzige Maßnahme gegen die äußeren und inneren Schwierigkeiten bestand — wie das bei Zwangskranken öfter vorkommt — in heftigem Fluchen. An diese Affektäußerungen schloß sich dann ein bezeichnendes Verhalten an. Statt sich um das Schicksal seiner Arbeit zu bekümmern, grübelte der Patient darüber nach, was aus seinen Flüchen werde, ob sie zu Gott oder zum Teufel gelangten, und welches Schicksal Schallwellen im allgemeinen hätten. Die geistige Tätigkeit wurde so durch neurotische Grübeleien ersetzt. Auf assoziativem Wege ergab sich, daß die Grübelfrage nach dem Verbleib der Geräusche sich auch auf Gerüche bezog und in letzter Linie analerotischen Ursprungs war (Flatus).

 

Im allgemeinen darf man sagen, daß beim Neurotiker, je mehr die männliche Aktivität und Produktivität eingeschränkt ist, desto auffälliger das Interesse sich dem Besitz zuwendet, und dies in Formen, die von der Norm erheblich abweichen. In ausgeprägten Fällen von analer Charakterbildung werden nahezu alle Lebensbeziehungen unter den Gesichtspunkt des Habens (Festhaltens) und Gebens, also des Besitzes gestellt. Es ist, als wäre der Wahlspruch mancher solcher Menschen: Wer mir gibt, ist mein Freund; wer etwas von mir verlangt, ist mein Feind! Ein Patient erklärte mir, er könne während der Behandlung kein freundliches Gefühl für mich aufbringen. Er fügte erklärend hinzu: „Solange ich jemandem etwas zu zahlen habe, kann ich ihm nicht freundlich gegenüberstehen.“ Wir kennen bei anderen Neurotischen die genaue Umkehrung dieses Verhaltens; sie können einem Menschen um so eher freundlich sein, je mehr er ihre Hilfe braucht und in Anspruch nimmt.

 

Bei der größeren ersteren Gruppe tritt als ein hauptsächlicher Charakterzug der Neid zutage. Der Neidische aber zeigt nicht nur ein Begehren nach dem Besitz anderer, sondern er verbindet mit diesem Begehren gehässige Regungen gegen den Bevorzugten. Auf die sadistische Wurzel des Neides sei aber hier nur im Vorübergehen verwiesen, ebenso wie auf die anale. Denn beide sind für das Zustandekommen des Neides von sekundärer, nur

 

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verstärkender Bedeutung. Der Ursprung des Charakterzuges rührt bereits von der früheren (oralen) Phase der Libidoentwicklung her. So möge hier nur ein Beispiel Platz finden, das den Zusammenhang des Neides mit den anal bedingten Besitzvorstellungen gut illustriert. Ich meine den so häufigen Neid des Patienten auf den analysierenden Arzt. Er neidet ihm die Rolle des „Überlegenen“ und vergleicht sich beständig mit ihm. Ein Patient äußerte einmal, in der Psychoanalyse sei die Verteilung der Rollen allzu ungerecht. Ei- selbst müsse allein alle Opfer bringen: er suche den Arzt auf, liefere seine Assoziationen ab und müsse obendrein noch Geld zahlen. Derselbe Patient hatte übrigens die Gepflogenheit, jedem Menschen, den er kannte, sein Einkommen nachzurechnen.

 

Wir sind damit in die unmittelbare Nachbarschaft eines der klassischen Züge des analen Charakters gelangt: des besonderen Verhältnisses zum Gelde, am häufigsten repräsentiert durch Sparsamkeit oder Geiz. So häufig nun gerade diese Eigenschaft der Neurotiker in der psychoanalytischen Literatur bestätigt worden ist, so gibt es doch eine Reihe von besonderen Erscheinungen auf diesem Gebiet, die wenig Beachtung gefunden haben und daher hier berücksichtigt werden sollen.

 

Es gibt Fälle, in welchen der Zusammenhang zwischen absichtlicher Stuhlverhaltung und systematischer Sparsamkeit offen zutage liegt. Ich erwähne hier das Beispiel eines reichen Bankiers, der seinen Kindern Immer wieder einschärfte, sie sollten den Darminhalt so lange wie nur möglich bei sich behalten, damit die teure Nahrung bis zum äußersten ausgenützt werde.

 

Sodann ist auf die Tatsache zu verweisen, daß manche Neurotiker ihre Sparsamkeit, beziehungsweise ihren Geiz auf gewisse Arten von Ausgaben beschränken, in anderen Beziehungen dagegen mit auffälliger Bereitwilligkeit Geld verausgaben. So gibt es unter, unseren Patienten solche, die jede Ausgabe für „Vergängliches“ meiden. Ein Konzert, eine Reise, der Besuch einer Ausstellung sind mit Kosten verbunden, für welche man keinen bleibenden Besitz eintauscht. Ich kannte jemanden, der den Besuch der Oper aus solchem Grunde mied; er kaufte sich aber Klavierauszüge der Opern, welche er nicht gehört hatte, weil er auf diese Weise etwas „Bleibendes“ erhielt. Manche solche Neurotiker vermeiden auch gern die Ausgaben für das Essen, weil man es ja doch nicht als dauernden Besitz behält. Bezeichnenderweise gibt es einen anderen Typus, der bereitwillig Ausgaben für die Ernährung macht, die bei ihm ein überwertiges Interesse darstellt. Es handelt sich um Neurotiker, die ihren

 

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Körper beständig sorgsam überwachen, ihr Gewicht prüfen usw. Ihr Interesse ist der Frage zugewandt, was von den eingeführten Stoffen ihrem Körper als dauernder Besitz bleibt. Bei dieser Gruppe ist es evident, daß sie Körperinhalt mit Geld identifiziert.

 

In anderen Fällen finden wir die Sparsamkeit in der gesamten Lebensweise streng durchgeführt; in einzelnen Beziehungen wird sie aber auf die Spitze getrieben, ohne daß eine praktisch nennenswerte Ersparnis an Material erzielt wird. Ich erwähne einen geizigen Sonderling, der im Hause mit offenstehender Hose umherlief, damit die Knopflöcher nicht zu schnell abgenützt würden. Es ist leicht zu erraten, daß hier noch andere Antriebe mitwirkten. Doch bleibt es charakteristisch, wie diese sich hinter der anal bedingten Spartendenz verbergen können; so sehr wird diese als wichtigstes Prinzip anerkannt. Bei manchen Analysanden finden wir eine auf den Verbrauch von Klosettpapier spezialisierte Sparsamkeit; hier wirkt die Scheu, Reines zu beschmutzen, als determinierend mit.

 

Häufig zu beobachten ist die Verschiebung des Geizes vom Geld oder Geldeswert auf die Zeit; letztere wird ja in einer geläufigen Redewendung dem Gelde gleichgesetzt. Viele Neurotiker sind in beständiger Sorge vor Zeitverlusten. Nur die Zeit, welche sie allein und mit ihrer Arbeit verbringen, erscheint ihnen wohl ausgenützt. Jede Störung in ihrer Tätigkeit versetzt sie in höchste Reizbarkeit. Sie hassen Untätigkeit, Vergnügungen usw. Es sind die gleichen Menschen, die zu den von Ferenczi beschriebenen „Sonntagsneurosen“ neigen, das heißt keine Unterbrechung ihrer Arbeit vertragen. Wie jede neurotisch übertriebene Tendenz ihr Ziel leicht verfehlt, so geschieht es auch oftmals dieser. Die Patienten sparen oft Zeit im kleinen und verlieren sie im großen.

 

Eine häufige Gewohnheit unserer Patienten, welche der Zeitersparnis dienen soll, ist das gleichzeitige Vornehmen zweier Beschäftigungen. Beliebt ist beispielsweise das Lernen, Lesen oder Erledigen sonstiger Arbeiten während der Defäkation (FN 1). Wiederholt lernte ich Leute kennen, die, um Zeit zu ersparen, Weste und Rock zusammen aus-, beziehungsweise anzogen, oder abends die Unterhose in der Hose stecken ließen, um am Morgen beide

 

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(FN 1) Für solche Neurotiker ist das Klosett der Ort der eigentlichen »Produktion“, die durch die Einsamkeit begünstigt wird. Ein Patient, der während der psychoanalytischen Sitzungen lebhaften Widerstand gegen das freie Assoziieren zeigte, produzierte daheim im Klosett seine Einfälle und brachte sie dann fertig mit sich zur Analysenstunde.

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Kleidungsstücke mit einer Bewegung anziehen zu können. Beispiele dieser Art sind leicht zu vermehren. Vielfach sind die Formen, in welchen sich die Lust am Besitz zu äußern pflegt. Vom Geizhals, der nach volkstümlicher Vorstellung mit Wohlbehagen seine Goldstücke zählt und betrachtet, ist es nicht gar so weit zum Sammler, den eine Lücke in einer Serie von Briefmarken wie eine offene Wunde brennt. Über den Sammeltrieb gibt aber die Abhandlung von Jones so reichen Aufschluß, daß ich seinen Ausführungen nichts Wesentliches hinzufügen könnte.

 

Dagegen erscheint mir ein kurzer Hinweis auf eine Erscheinung notwendig, die der Lust am Betrachten des Besitzes nahe verwandt ist. Ich meine das wohlgefällige Betrachten eigener geistiger Erzeugnisse, wie Briefe, Manuskripte usw., oder fertiggestellter Arbeiten aller Art. Ihr Vorbild hat diese Neigung im Anschauen der eigenen Darmprodukte, das für nicht wenige Menschen eine Quelle immer erneuter Lust, für manche Neurotiker eine Äußerungsform des psychischen Zwanges darstellt.

 

Die libidinöse Überbetonung des Besitzes macht es uns leicht verständlich, daß unsere Patienten sich von Gegenständen aller Art selbst dann schwer trennen, wenn diese weder mehr einen praktischen Nutzen bringen noch einen Geldwert repräsentieren. Personen mit solcher Einstellung zum Besitz sammeln etwa auf dem Dachboden des Hauses zerbrochene Gegenstände aller Art an, oft unter dem Vorwand, ihrer vielleicht später noch zu bedürfen. Bei irgend einer Gelegenheit wird dann das gesamte Gerumpel auf einmal beseitigt. Die Lust an der Menge des angesammelten Materials entspricht vollkommen der Lust am Zurückhalten des Darminhalts; auch in diesem Falle finden wir das Verzögern der Entleerung bis zu einem möglichst späten Zeitpunkt. Die gleichen Personen sammeln Reste von Papier, alte Kuverts, gebrauchte Schreibfedern und dergleichen an und können sich lange Zeit hindurch von diesem Besitz nicht trennen, bis dann in größeren Abständen einmal ein großes Aufräumen beginnt, das seinerseits ebenfalls mit Lust verbunden ist. Bei Kaufleuten und Beamten fand ich mehrfach die besondere Neigung, ganz beschmutztes und zerfetztes Löschpapier sorgsam aufzubewahren. Die Befleckung mit Tinte ist für das Unbewußte dieser Neurotiker der Beschmutzung mit Kot gleichwertig. Ich will erwähnen, daß ich bei einer senil-schwachsinnigen Frau mit starker Regression der Libido zur analen Stufe die Neigung fand, das von ihr gebrauchte Klosettpapier in die Tasche zu stecken und bei sich zu tragen.

 

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Daß das Fortwerfen von Gegenständen vom Unbewußten der Kotentleerung gleichgesetzt wird, beweist folgende sonderbare Gepflogenheit einer Frau, die auch sonst eine ungewöhnlich starke Ausprägung analer Wesenszüge darbot. Sie war außerstande, unbrauchbar gewordene Gegenstände fortzuwerfen. Zuweilen zeigte sich aber bei ihr der Drang, sich dennoch eines solchen zu entäußern. Sie hatte nun eine Methode erfunden, um sich gewissermaßen zu überlisten. Sie ging dann von ihrer Wohnung aus in den benachbarten Wald. Beim Verlassen des Hauses steckte sie den zu beseitigenden Gegenstand — etwa ein altes Kleidungsstück — mit einem Zipfel an ihrem Rücken unter das Schürzenband. Auf dem Wege durch den Wald verlor sie ihn. Sie kehrte auf einem anderen Wege heim, um des „verlorenen“ Gegenstandes nicht wieder ansichtig zu werden. Um den Besitz eines Objekts aufzugeben, mußte sie es also an der Rückseite ihres Körpers fallen lassen.

 

Personen, welche verbrauchte Gegenstände nicht beseitigen mögen, pflegen auch ungern neue in Gebrauch zu nehmen. Sie schaffen sich Kleidungsstücke an, tragen sie aber nicht, sondern „schonen“ sie für die Zukunft und haben an ihnen eine rechte Freude eigentlich nur, solange sie ungebraucht im Schrank hängen.

 

Die Abneigung gegen das Fortwerfen verbrauchter oder wertloser Gegenstände führt häuflg zu einer zwanghaften Neigung, selbst Geringstes noch zu verwerten. Ein reicher Mann pflegte Zündholzschachteln, deren Inhalt verbraucht war, mit dem Messer in schmale Stäbchen zu schneiden und teilte sie seinem Hauspersonal zum Feueranzünden zu. In ähnlicher Weise zeigt sich diese Neigung bei Frauen im Rückbildungsalter,

 

Das Interesse an der Ausnützung von Resten erfährt in manchen Fällen eine Sublimierung unvollkommener Art, indem ein Neurotiker etwa die Verwertung der gesamten Abfallstoffe einer Stadt zum Lieblingsgegenstand seiner Tagträumereien erhebt, ohne daß aber ein praktisches Resultat dieser Überlegungen zu bemerken wäre. Tagträumereien dieses Inhalts werden uns später noch beschäftigen.

 

Weniger häuflg als Sparsamkeit findet sich bei unseren Patienten die Neigung zum Verschwenden. Eine Beobachtung, welche Simmel in der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung mitteilte, ließ den Parallelismus zwischen Verschwendung und neurotischen Diarrhöen ebenso evident werden, wie uns seit langem der Zusammenhang zwischen Geiz und Verstopfung klar

 

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geworden ist. Ich kann aus eigener Erfahrung die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigen, habe übrigens schon vor längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, daß das Geldausgeben ein Äquivalent für die ersehnte, aber neurotisch gehemmte Verausgabung der Libido darstellen kann. (FN 1) Erwähnt sei hier noch die Neigung mancher Frauen zum Verschleudern von Geld. Sie drückt eine Feindseligkeit gegen den Ehemann aus, welchem auf diese Weise sein „Vermögen“ genommen wird; es handelt sich also — wenn wir andere Determinierungen zunächst beiiseite lassen — um eine Äußerung des weiblichen Kastrationskomplexes im Sinne der Rache am Manne. Wiederum sehen wir hier sadistische Motive mit solchen analerotischer Herkunft zusammenwirken.

 

Daß viele Neurotiker in Geldausgaben kleinlich sind und an geringfügigen Beträgen sparen, um von Zeit zu Zeit große Ausgaben ohne jede Engherzigkeit zu machen, wird uns aus ihrem widerspruchsvollen Verhalten bezüglich der Defäkation verständlich. Solche Personen verschieben die Entleerung so lange wie möglich — oft mit der Begründung durch Zeitmangel — und geben, wenn sie das Klosett aufsuchen, nur geringe Mengen ihres Darminhaltes von sich. In größeren Abständen findet aber eine Massenentleerung statt.

 

Gelegentlich finden sich Personen mit ausgeprägtem analen Charakter, deren Libido sich mit einer seltsamen Ausschließlichkeit dem Geldbesitz zugewandt hat. So berichtete mir ein Patient, er habe als Knabe Kriegsspiele nicht wie andere Kinder mit Bleisoldaten aufgeführt, sondern mit Geldstücken. Er ließ sich viele Pfennige schenken, die in seinem Spiel die Soldaten repräsentierten. Nickelmünzen waren Unteroffiziere der verschiedenen Grade, Silbermünzen die Offiziere. Ein silbernes Fünfmarkstück war der Feldherr; es befand sich, gegen alle Angriffe gesichert, „hinter der Front“ in einem besonderen Bau. Die eine Partei nahm im Kampf der anderen „Gefangene“ ab und reihte sie in ihr eigenes Heer ein. Auf diese Weise vermehrte sich der Geldbesitz auf einer Seite, bis auf der anderen nichts mehr übrig war. Daß der „Kampf“ im Unbewußten des Patienten gegen den „reichen“ Vater ging, ist leicht ersichtlich. Bemerkenswert ist aber in diesem Beispiel, daß Menschen vollkommen durch Geld ersetzt sind. Übrigens bestand beim Patienten, als ich ihn in Behandlung nahm, keinerlei persönliches Interesse an anderen Menschen; nur der Besitz von Geld und Geldeswert reizte ihn.

 

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(FN 1): „Das Geldausgeben im Angstzustand. Zeitschr. IV, 1916. („Klinische Beiträge“, S. 279 f.)

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Ähnlich widerspruchsvoll wie im Verausgaben von Geld verhalten unsere Patienten sich in bezug auf Ordnung und Reinlichkeit. Diese Tatsache ist jedem Psychoanalytiker so geläufig, daß es eines allgemeinen Hinweises auf sie nicht bedürfte. Aber gewisse Erscheinungen verdienen dennoch eine spezielle Berücksichtigung.

 

Bekannt ist beispielsweise als Äußerung des analen Charakters die Lust am Rubrizieren und Klassifizieren, am Anfertigen von Listen, von statistischen Übersichten, von Programmen und Stundenplänen. In nicht wenigen Fällen ist diese Neigung so überbetont, daß die Vorlust am Ausarbeiten eines Planes stärker hervortritt als die Befriedigung an seiner Ausführung, und so unterbleibt diese oft gänzlich. Ich kannte eine Reihe von Patienten mit langdauernder Arbeitshemmung, die sich etwa an jedem Sonntag einen Arbeitsplan für die beginnende Woche bis ins Einzelne ausarbeiteten, ihn hernach aber völlig unausgeführt ließen. Zu bemerken ist, daß es sich bei diesen Personen nicht nur um Zögerer handelt, sondern zugleich um Eigensinnige, die in selbstherrlicher Weise die bewährten Methoden anderer ablehnen und nach eigenen handeln wollen.

 

Viele Neurotiker verharren lebenslänglich in einer besonderen Form ambivalenten Verhaltens hinsichtlich Ordnung und Reinlichkeit. Da gibt es Menschen, die ein wohlgepflegtes Äußeres zeigen, soweit es jedermann sichtbar wird. Während aber die sichtbare Kleidung und Wäsche sich in tadelfreiem Zustand befindet, ist die Unterkleidung, ist der Körper, soweit er verdeckt ist, in hohem Maße unsauber. (FN 1)

 

Die nämlichen Personen neigen dazu, in ihrer Wohnung peinliche Ordnung zu halten. Auf dem Schreibtisch etwa steht jedes Stück an seinem bestimmten Platz; die im Büchergestell sichtbaren Bücher sind mit großer Sorgfalt und Regelmäßigkeit aufgestellt. Aber in den Schubladen herrscht völlige Unordnung, die nur in größeren Zeitabständen durch ein gründliches „Aufräumen“ beseitigt wird, um freilich ganz allmählich wiederzu- kehren.

 

Ich erwähne an dieser Stelle, daß im Unbewußten solcher Neurotiker ein unordentliches Zimmer, eine unordentliche Schublade usw. die Vorstellung des mit Kot gefüllten Darmes vertritt.

 

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(FN 1) Eine Berliner Redensart sagt von solchen Menschen: ,Oben hui, unten pfui!“ Derber sagt man in Bayern: „Oben beglissen, unten beschissen!“ Das Widerspruchsvolle mancher Personen in dieser Hinsicht ist also dem Volke nicht fremd.

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Wiederholt hatte ich Träume zu analysieren, welche in solcher Form auf den Darm anspielten. Einer meiner Patienten brachte mir einen Traum, in welchem er seiner Mutter auf einer Leiter nachstieg, um in eine im Dachstock des Hauses gelegene Rumpelkammer zu gelangen. Es war ein Inzesttraum mit analer Koitusphantasie; der Anus war als schmale Stiege, der Darm als Rumpelkammer symbolisch dargestellt.

 

Auch mit anderen der Ordentlichkeit nahestehenden Charakterzügen, wie z. B. Gründlichkeit und Genauigkeit, ist oftmals die entgegengesetzte Eigenschaft nahe verbunden. Ein näheres Eingehen auf diese Züge kann ich mir mit Hinblick auf Jones‘ Untersuchungen ersparen. Eine Erwähnung verdient aber das im analen Charakter oftmals vertretene Bedürfnis nach Symmetrie und „gerechtem Ausgleich“.

 

So wie manche Neurotiker ihre Schritte zählen, um ihr Ziel mit einer paarigen Schrittzahl zu erreichen, so ertragen sie auch sonst keine Asymmetrie. Alle Gegenstände erhalten eine symmetrische Aufstellung. Teilungen jeder Art werden mit minutiöser Genauigkeit vorgenommen. Ein Ehemann rechnet seiner Frau vor, daß zwischen den Ausgaben beider für Kleidung imd so weiter keine Symmetrie herrsche; beständig wird auf- gerechnet, was der eine sich gekauft hat und was nun zum Aus- gleich dem anderen zukommt. Während der Lebensmittelnot im verflossenen Kriege führten zwei Brüder, beide unverheiratet, einen gemeinsamen Haushalt. Wenn das rationierte Fleisch für beide gemeinsam auf den Mittagstisch gesetzt wurde, so teilten sie es unter genauester Kontrolle einer Briefwage; beide waren in Angst, der andere könne zu kurz kommen oder sich beeinträchtigt fühlen. Bezeichnend ist auch das fortdauernde Begehren, mit anderen Menschen „quitt“ zu sein, d. h. ihnen gegenüber keine noch so geringe unerfüllte Verpflichtung zu haben. Daß andere Personen mit ausgeprägtem Analcharakter die Neigung haben, ihre Schulden zu vergessen (besonders wenn es sich um geringfügige Beträge bandelt), sei als Erscheinung unsublimierter Analerotik vermerkt.

 

Endlich ist noch auf eine Feststellung von Jones einzugehen, die der Autor nebenbei erwähnt, die aber offenbar das Extrakt aus einer großen Erfahrung darstellt.

 

Ich zitiere (S. 79): „Am auffallendsten ist die Neigung, sich mit der Rückseite der Dinge zu beschäftigen, die sich auf verschiedene Weise zeigen kann, z. B. in einer deutlichen Wißbegier über die entgegengesetzte oder Kehrseite von Orten und Gegen-

 

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ständen … in der Neigung, rechts und links, Osten und Westen zu verwechseln; im Verkehren von Buchstaben oder Worten und in ähnlichen Dingen.“

 

Ich könnte Jones‘ Anschauungen reichlich mit Beispielen aus der eigenen Erfahrung belegen. Sie ist von erheblicher Trag- weite für das Verständnis mancher neurotischer Symptome und Charakterzüge. Die Verschiebung der Libido von der Genital- zur Analzone ist ohne Zweifel das Vorbild, dem alle diese „Umkehrungen“ folgen. Zu erwähnen ist hier namentlich das Verhalten vieler Menschen, die man als „Sonderlinge“ betrachtet; ihr Wesen baut sich größtenteils auf den analen Charakterzügen auf. Sie neigen dazu, in großen und kleinen Dingen den Gewohnheiten der anderen Menschen entgegen zu handeln. Sie tragen Kleider, die der herrschenden Mode möglichst entgegengesetzt sind. Gehen andere einem Vergnügen nach, so arbeiten sie. Verrichten die übrigen Menschen eine Arbeit — wie zum Beispiel Schreiben — im Sitzen, so tun sie es im Stehen; fahren andere, so gehen sie zu Fuß; gehen andere, so laufen sie Trab. Kleiden andere sich warm, so tun sie das Gegenteil. Ihr Geschmack im Essen steht mit dem üblichen im Widerspruch. Der Zusammenhang mit dem uns als Eigensinn geläufigen Charakterzug ist unverkennbar.

 

Ich kannte während meiner Studienzeit einen jungen Mann, der durch sonderbare Gewohnheiten auffiel. Er lebte ungesellig, widerstrebte ostentativ der Mode und besonders allen Lebensgewohnheiten der übrigen Studenten. Als ich einmal in einem Restaurant das Mittagessen mit ihm einnahm, bemerkte ich, daß er das „Menü“ in umgekehrter Folge aß, d. h. sich zuerst die Süßspeise geben ließ und mit der Suppe endete. Nach Jahren wurde ich von seinen Angehörigen einmal zu einer Konsultation gebeten. Mein Bekannter war jetzt gänzlich in einem paranoischen Wahn befangen. Erinnern wir uns der großen Bedeutung der Analerotik in der Psychogenese der Paranoia, auf welche namentlich Ferenczi hingewiesen hat, so wird uns das sonderlinghafte Verhalten als anale Charakterbildung und damit als Vorläufer der paranoischen Erkrankung verständlich.

 

Den tieferen Sinn einer solchen Umkehrungstendenz offen- baren uns am besten gewisse Fälle weiblicher Neurosen, in welchen ein außergewöhnlich starker Kastrationskomplex zum Ausdruck kommt. Wir sehen dann die Neigung zur „Umkehrung“ zwei hauptsächlichen Motiven entspringen: der Verschiebung der Libido von „vorn“ nach „hinten“ und dem Wunsch nach

 

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Geschlechtsumwandlung. Über die Psychologie dieser Zustände hoffe ich gelegentlich in einem anderen Zusammenhang berichten zu können.

 

Die vorstehenden Ausführungen über anale Charakterzüge will ich zum Schluß durch eine Beobachtung ergänzen, zu deren Nachprüfung ich gleichzeitig auffordern möchte. Der anale Charakter scheint sich in manchen Fällen physiognomisch auszuprägen. Besonders scheint er sich durch einen mürrischen Gesichtsausdruck bemerkbar zu machen. Personen, die der normalen Befriedigung auf genitalem Wege entbehren müssen, neigen in der Regel zu mürrischer Stimmung. (FN 1)  Sodann aber erscheint mir von physiognomischer Bedeutung ein beständiges Angespanntsein der Nasenlippenfalten, verbunden mit leichtem Heben der Oberlippe. Es entsteht dadurch in manchen Fällen der Eindruck, als zögen solche Personen fortdauernd Gerüche durch die Nase ein. Dieser physiognomische Zug darf wohl mit Recht auf die koprophile Riechlust zurückgeführt werden. Ich habe einmal bezüglich eines Mannes mit derartiger Physiognomie geäußert, er sehe aus, als ob er sich dauernd selbst berieche. Sofort bestätigte mir jemand, der jenen Mann genau kannte, der Betreffende habe tatsächlich die Gewohnheit, seine Hände und jeden Gegenstand, den er in die Hand nehme, zu beriechen. Ich kann hinzufügen, daß die typischen analen Charakterzüge bei ihm in ausgeprägter Form vorhanden waren.

 

Die vorstehenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, das Thema der analen Charakterzüge erschöpfend behandelt zu haben. Im Gegenteil bin ich mir bewußt, wie wenig ich der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gerecht geworden bin. Mir lag in Wirklichkeit ein anderes Ziel näher, nämlich durch eine vervollständigende Untersuchung des analen Charakters unsere Kenntnis von den prägenitalen Phasen der Libidoentwicklung zu fördern. Wie schon eingangs erwähnt, soll dieser Mitteilung eine Untersuchung über die manisch-depressiven Zustände folgen, für deren Erfassung die Kenntnis der prägenitalen Entwicklungsstufen unerläßlich ist.

 

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(FN 1) Manche allerdings verfügen über reichliche narzißtische Lustquellen und leben in einer lächelnden Selbstzufriedenheit.

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Redaktion: CD, 8.12.2011