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Freud, Sigmund (1925d [1924]): Selbstdarstellung.

Editorische Anmerkungen:

 

Der Text ist notiert nach den Gesammelten Werken und: Ingeborg Meyer-Palmedo, Gerhard Fichtner (1999): Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz. Frankfurt: S.Fischer: „Freud, Sigmund (1925d [1924]): Selbstdarstellung. GW XIV, 31-96“

 

  • Erstausgabe: (1925d [1924]): Grote, L. R. (Hg.) (1925): Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. IV. Band, 1-52. Leipzig: Verlag Felix Meiner (Band 1-8, 1923-1929) (Mit einer Bibliographie versehen, die in späteren Ausgaben weggelassen wurde)

  • 1928 in den Gesammelte Schriften, Band IX. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag

  • In Buchform: Sigmund Freud (1934): Selbstdarstellung. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag

  • (1935d) Zweite durchgesehene und erweiterte Auflage erscheint 1936, ebenfalls: Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, mit einer Nachschrift 1935 (1935a)

  • 1946 Neudruck im Verlag Imago Publishing Co., Ltd., London.

  • Ingeborg Meyer-Palmedo, Gerhard Fichtner (1999): Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz. Frankfurt: S.Fischer:

  • „In den Gesammelten Werken, Band 14, wurde die Arbeit ohne die Ergänzungen im Haupttext, jedoch mit den zusätzlichen Fußnoten und einem hinzugefügten Schlusssatz nachgedruckt. Die der Erstveröffentlichung angefügte >Bibliographie< wurde in allen späteren Wiederabdrucken weggelassen.“

  • „Eine (mit Ausnahme der Bibliographie) vollständige Veröffentlichung erfolgte im Fischer Taschenbuch Nr. 6096: „Selbstdarstellung“; Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, hersg. und eingel. von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main 1971, S. 37, 39 - 100.“

  • „Die >Bibliographie< wird bei Ilse Grubrich-Simitis, Zurück zur Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen, Frankfurt am Main 1993, S. 289f., als unveröffentlicht bezeichnet und dort teilweise wieder abgedruckt.“ (S. 49)

Im nachfolgenden Text sind aus den GW XIV, 31-96 die Anmerkrungen zitiert und die Seitenumbrüche angemerkt.

Sperrungen und Fettgedrucktes ist hier nicht gesondert ausgewiesen.

 

 

Freud, Sigmund (1925d [1924]): Selbstdarstellung.

Mehrere der Mitarbeiter an dieser Sammlung von “Selbstdarstellungen” leiten ihren Beitrag mit einigen nachdenklichen Bemerkungen über die Besonderheit und Schwere der übernommenen Aufgabe ein. Ich meine, ich darf sagen, daß meine Aufgabe noch um ein Stück mehr erschwert ist, denn ich habe Bearbeitungen, wie die hier erforderte, schon wiederholt veröffentlicht und aus der Natur des Gegenstandes ergab sich, daß in ihnen von meiner persönlichen Rolle mehr die Rede war, als sonst üblich ist oder notwendig erscheint.
Die erste Darstellung der Entwicklung und des Inhalts der Psychoanalyse gab ich 1909 in fünf Vorlesungen an der Clark University in Worcester, Mass., wohin ich zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Institution berufen worden war. (1) Vor kurzem erst gab ich der Versuchung nach, einem amerikanischen Sammelwerk einen Beitrag ähnlichen Inhalts zu leisten, weil diese Publikation “Über die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts” die Bedeutung der Psychoanalyse durch das Zugeständnis eines besonderen Kapitels anerkannt hatte. (2) Zwischen beiden liegt eine Schrift “Zur Geschichte

Editorische Anmerkung psyalpha: In den GW XIV finden sich folgende Fußnoten:

„1) Englisch erschienen im American Journal of Psychology, 1910, deutsch unter dem Titel “Über Psychoanalyse” bei F. Deuticke, Wien, 7. Aufl. 1924. [Enthalten im Band VIII dieser Gesamausgabe]

2) These eventful years. The twentieth Century in the making as told by many of its makers. Two volumes. London and New York, The Encyclopaedia Britannica Company. Mein Aufsatz, übersetzt von Dr. A. A. Brill, bildet Cap. LXXIII des zweiten Bandes. [Deutsch in Ges. Werke, Bd. XIII, S. 403ff.]“

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 33

der psychoanalytischen Bewegung”, 1914, (1) welche eigentlich alles Wesentliche bringt, das ich an gegenwärtiger Stelle mitzuteilen hätte. Da ich mir nicht widersprechen darf und mich nicht ohne Abänderung wiederholen möchte, muß ich versuchen, nun ein neues Mengungsverhältnis zwischen subjektiver und objektiver Darstellung, zwischen biographischem und historischem Interesse zu finden.

Ich bin am 6. Mai 1856 zu Freiberg in Mähren geboren, einem kleinen Städtchen der heutigen Tschechoslowakei. Meine Eltern waren Juden, auch ich bin Jude geblieben. Von meiner väterlichen Familie glaube ich zu wissen, daß sie lange Zeiten am Rhein (in Köln) gelebt hat, aus Anlaß einer Judenverfolgung im vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert nach dem Osten floh und im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die Rückwanderung von Litauen über Galizien nach dem deutschen Österreich antrat. Als Kind von vier Jahren kam ich nach Wien, wo ich alle Schulen durchmachte. Auf dem Gymnasium war ich durch sieben Jahre Primus, hatte eine bevorzugte Stellung, wurde kaum je geprüft. Obwohl wir in sehr beengten Verhältnissen lebten, verlangte mein Vater, daß ich in der Berufswahl nur meinen Neigungen folgen sollte. Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz “Die Natur” in einer populären Vorlesung kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte.
Die Universität, die ich 1873 bezog, brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäuschungen. Vor allem traf mich die Zumutung, daß ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern. Ich meinte, daß sich für einen eifrigen Mitarbeiter

Editorische Anmerkung psyalpha: Folgende Fußnoten finden sich in den GW IV:

„1) Erschienen im Jahrbuch der Psychoanalyse Bd. VI (Bd.  X dieser Gesamtausgabe)“

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 34

ein Plätzchen innerhalb des Rahmens des Menschtums auch ohne solche Einreihung finden müsse. Aber eine für später wichtige Folge dieser ersten Eindrücke von der Universität war, daß ich so frühzeitig mit dem Lose vertraut wurde, in der Opposition zu stehen und von der “kompakten Majorität” in Bann getan zu werden. Eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils wurde so vorbereitet.
Außerdem mußte ich in den ersten Universitätsjahren die Erfahrung machen, daß Eigenheit und Enge meiner Begabungen mir in mehreren wissenschaftlichen Fächern, auf die ich mich in jugendlichem Übereifer gestürzt hatte, jeden Erfolg versagten. Ich lernte so die Wahrheit der Mahnung Mephistos erkennen:

Vergebens, daß ihr ringsum wissenschaftlich schweift,
Ein jeder lernt nur, was er lernen kann.

Im physiologischen Laboratorium von Ernst Brücke fand ich endlich Ruhe und volle Befriedigung, auch die Personen, die ich respektieren und zu Vorbildern nehmen konnte. Brücke stellte mir eine Aufgabe aus der Histologie des Nervensystems, die ich zu seiner Zufriedenheit lösen und selbständig weiterführen konnte. Ich arbeitete in diesem Institut von 1876-1882 mit kurzen Unterbrechungen und galt allgemein als designiert für die nächste sich dort ergebende Assistentenstelle. Die eigentlich medizinischen Fächer zogen mich — mit Ausnahme der Psychiatrie — nicht an. Ich betrieb das medizinische Studium recht nachlässig, wurde auch erst 1881, mit ziemlicher Verspätung also, zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert.
Die Wendung kam 1882, als mein über alles verehrter Lehrer den großmütigen Leichtsinn meines Vaters korrigierte, indem er mich mit Rücksicht auf meine schlechte materielle Lage dringend mahnte, die theoretische Laufbahn aufzugeben. Ich folgte seinem Rate, verließ das physiologische Laboratorium und trat als Aspirant in das Allgemeine Krankenhaus ein. Dort wurde ich nach einiger Zeit zum Sekundararzt (Interne) befördert und diente an verschiedenen Abteilungen, auch länger als ein halbes Jahr bei Meynert, dessen Werk und Persönlichkeit mich schon als Studenten gefesselt hatten.
In gewissem Sinne blieb ich doch der zuerst eingeschlagenen Arbeitsrichtung treu. Brücke hatte mich an das Rückenmark eines der niedrigsten Fische (Ammocoetes-Petromyzon) als Untersuchungsobjekt gewiesen, ich ging nun zum menschlichen Zentralnervensystem über, auf dessen verwickelte Faserung die Flechsigschen Funde der ungleichzeitigen Markscheidenbildung damals gerade ein helles Licht warfen. Auch daß ich mir zunächst

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 35

einzig und allein die Medulla oblongata zum Objekt wählte, war eine Fortwirkung meiner Anfänge. Recht im Gegensatz zur diffusen Natur meiner Studien in den ersten Universitätsjahren entwickelte ich nun eine Neigung zur ausschließenden Konzentration der Arbeit auf einen Stoff oder ein Problem. Diese Neigung ist mir verblieben und hat mir später den Vorwurf der Einseitigkeit eingetragen.
Ich war nun ein ebenso eifriger Arbeiter im gehirnanatomischen Institut wie früher im physiologischen. Kleine Arbeiten über Faserverlauf und Kernursprünge in der Oblongata sind in diesen Spitalsjahren entstanden und immerhin von Edinger vermerkt worden. Eines Tages machte mir Meynert, der mir das Laboratorium eröffnet hatte, auch als ich nicht bei ihm diente, den Vorschlag, ich solle mich endgiltig der Gehirnanatomie zuwenden, er verspreche, mir seine Vorlesung abzutreten, denn er fühle sich zu alt, um die neueren Methoden zu handhaben. Ich lehnte, erschreckt durch die Größe der Aufgabe, ab; auch mochte ich damals schon erraten haben, daß der geniale Mann mir keineswegs wohlwollend gesinnt sei.
Die Gehirnanatomie war in praktischer Hinsicht gewiß kein Fortschritt gegen die Physiologie. Den materiellen Anforderungen trug ich Rechnung, indem ich das Studium der Nervenkrankheiten begann. Dieses Spezialfach wurde damals in Wien wenig gepflegt, das Material war auf verschiedenen internen Abteilungen verstreut, es gab keine gute Gelegenheit sich auszubilden, man mußte sein eigener Lehrer sein. Auch Nothnagel, den man kurz vorher auf Grund seines Buches über die Gehirnlokalisation berufen hatte, zeichnete die Neuropathologie nicht vor anderen Teilgebieten der internen Medizin aus. In der Ferne leuchtete der große Name Charcots und so machte ich mir den Plan, hier die Dozentur für Nervenkrankheiten zu erwerben und dann zur weiteren Ausbildung nach Paris zu gehen.
In den nun folgenden Jahren sekundarärztlichen Dienstes veröffentlichte ich mehrere kasuistische Beobachtungen über organische Krankheiten des Nervensystems. Ich wurde allmählich mit dem Gebiet vertraut; ich verstand es, einen Herd in der Oblongata so genau zu lokalisieren, daß der pathologische Anatom nichts hinzuzusetzen hatte, ich war der erste in Wien, der einen Fall mit der Diagnose Polyneuritis acuta zur Sektion schickte. Der Ruf meiner durch die Autopsie bestätigten Diagnosen trug mir den Zulauf amerikanischer Ärzte ein, denen ich in einer Art von Pidgin-English Kurse an den Kranken meiner Abteilung las. Von den Neurosen verstand ich nichts. Als ich einmal meinen Hörern einen Neurotiker mit fixiertem Kopfschmerz als Fall von chronischer zirkumskripter Meningitis vorstellte, fielen sie alle

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 36

in berechtigter kritischer Auflehnung von mir ab und meine vorzeitige Lehrtätigkeit hatte ein Ende. Zu meiner Entschuldigung sei bemerkt, es war die Zeit, da auch größere Autoritäten in Wien die Neurasthenie als Hirntumor zu diagnostizieren pflegten.
Im Frühjahr 1885 erhielt ich die Dozentur für Neuropathologie auf Grund meiner histologischen und klinischen Arbeiten. Bald darauf wurde mir infolge des warmen Fürspruchs Brückes ein größeres Reisestipendium zugeteilt. Im Herbst dieses Jahres reiste ich nach Paris.
Ich trat als Eleve in die Salpêtrière ein, fand aber anfangs als einer der vielen Mitläufer aus der Fremde wenig Beachtung. Eines Tages hörte ich Charcot sein Bedauern darüber äußern, daß der deutsche Übersetzer seiner Vorlesungen seit dem Kriege nichts von sich habe hören lassen. Es wäre ihm lieb, wenn jemand die deutsche Übersetzung seiner “Neuen Vorlesungen” übernehmen würde. Ich bot mich schriftlich dazu an; ich weiß noch, daß der Brief die Wendung enthielt, ich sei bloß mit der Aphasie motrice, aber nicht mit der Aphasie sensorielle du français behaftet. Charcot akzeptierte mich, zog mich in seinen Privatverkehr und von da an hatte ich meinen vollen Anteil an allem, was auf der Klinik vorging.
Während ich dies schreibe, erhalte ich zahlreiche Aufsätze und Zeitungsartikel aus Frankreich, die von dem heftigen Sträuben gegen die Aufnahme der Psychoanalyse zeugen und oft die unzutreffendsten Behauptungen über mein Verhältnis zur französischen Schule aufstellen. So lese ich z. B., daß ich meinen Aufenthalt in Paris dazu benützt, mich mit den Lehren von P. Janet vertraut zu machen, und dann mit meinem Raube die Flucht ergriffen habe. Ich will darum ausdrücklich erwähnen, daß der Name Janets während meines Verweilens an der Salpêtrière überhaupt nicht genannt wurde.
Von allem, was ich bei Charcot sah, machten mir den größten Eindruck seine letzten Untersuchungen über die Hysterie, die zum Teil noch unter meinen Augen ausgeführt wurden. Also der Nachweis der Echtheit und Gesetzmäßigkeit der hysterischen Phänomene (“Introite et hic dii sunt”), des häufigen Vorkommens der Hysterie bei Männern, die Erzeugung hysterischer Lähmungen und Kontrakturen durch hypnotische Suggestion, das Ergebnis, daß diese Kunstprodukte dieselben Charaktere bis ins einzelnste zeigen wie die spontanen, oft durch Trauma hervorgerufenen Zufälle. Manche von Charcots Demonstrationen hatten bei mir wie bei anderen Gästen zunächst Befremden und Neigung zum Widerspruch erzeugt,
 

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 37

den wir durch Berufung auf eine der herrschenden Theorien zu stützen versuchten. Er erledigte solche Bedenken immer freundlich und geduldig, aber auch sehr bestimmt; in einer dieser Diskussionen fiel das Wort: Ça n’empêche pas d’exister, das sich mir unvergeßlich eingeprägt hat.
Bekanntlich ist heute nicht mehr alles aufrecht geblieben, was uns Charcot damals lehrte. Einiges ist unsicher geworden, anderes hat die Probe der Zeit offenbar nicht bestanden. Aber es ist genug davon übrig geblieben, was als dauernder Besitz der Wissenschaft gewertet wird. Ehe ich Paris verließ, verabredete ich mit dem Meister den Plan einer Arbeit zur Vergleichung der hysterischen mit den organischen Lähmungen. Ich wollte den Satz durchführen, daß bei der Hysterie Lähmungen und Anästhesien einzelner Körperteile sich so abgrenzen, wie es der gemeinen (nicht anatomischen) Vorstellung des Menschen entspricht. Er war damit einverstanden, aber es war leicht zu sehen, daß er im Grunde keine besondere Vorliebe für ein tieferes Eingehen in die Psychologie der Neurose hatte. Er war doch von der pathologischen Anatomie her gekommen.
Ehe ich nach Wien zurückkehrte, hielt ich mich einige Wochen in Berlin auf, um mir einige Kenntnisse über die allgemeinen Erkrankungen des Kindesalters zu holen. Kassowitz in Wien, der ein öffentliches Kinderkrankeninstitut leitete, hatte versprochen, mir dort eine Abteilung für Nervenkrankheiten der Kinder einzurichten. Ich fand in Berlin bei Ad. Baginsky freundliche Aufnahme und Förderung. Aus dem Kassowitzschen Institut habe ich im Laufe der nächsten Jahre mehrere größere Arbeiten über die einseitigen und doppelseitigen Gehirnlähmungen der Kinder veröffentlicht. Demzufolge übertrug mir auch später 1897 Nothnagel die Bearbeitung des entsprechenden Stoffes in seinem großen “Handbuch der allgemeinen und speziellen Therapie”.
Im Herbst 1886 ließ ich mich in Wien als Arzt nieder und heiratete das Mädchen, das seit länger als vier Jahren in einer fernen Stadt auf mich gewartet hatte. Ich kann hier rückgreifend erzählen, daß es die Schuld meiner Braut war, wenn ich nicht schon in jenen jungen Jahren berühmt geworden bin. Ein abseitiges, aber tiefgehendes Interesse hatte mich 1884 veranlaßt, mir das damals wenig bekannte Alkaloid Kokain von Merck kommen zu lassen und dessen physiologische Wirkungen zu studieren. Mitten in dieser Arbeit eröffnete sich mir die Aussicht einer Reise, um meine Verlobte wiederzusehen, von der ich zwei Jahre getrennt gewesen war. Ich schloß die Untersuchung über das Kokain rasch ab und nahm in meine Publikation die Vorhersage auf, daß sich bald weitere Verwendungen

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 38

des Mittels ergeben würden. Meinem Freunde, dem Augenarzt L. Königstein, legte ich aber nahe, zu prüfen, inwieweit sich die anästhesierenden Eigenschaften des Kokains am kranken Auge verwerten ließen. Als ich vom Urlaub zurückkam, fand ich, daß nicht er, sondern ein anderer Freund, Carl Koller (jetzt in New York), dem ich auch vom Kokain erzählt, die entscheidenden Versuche am Tierauge angestellt und sie auf dem Ophthalmologenkongreß zu Heidelberg demonstriert hatte. Koller gilt darum mit Recht als der Entdecker der Lokalanästhesie durch Kokain, die für die kleine Chirurgie so wichtig geworden ist; ich aber habe mein damaliges Versäumnis meiner Braut nicht nachgetragen.
Ich wende mich nun wieder zu meiner Niederlassung als Nervenarzt in Wien 1886. Es lag mir die Verpflichtung ob, in der “Gesellschaft der Ärzte” Bericht über das zu erstatten, was ich bei Charcot gesehen und gelernt hatte. Allein ich fand eine üble Aufnahme. Maßgebende Personen wie der Vorsitzende, der Internist Bamberger, erklärten das, was ich erzählte, für unglaubwürdig. Meynert forderte mich auf, Fälle, wie die von mir geschilderten, doch in Wien aufzusuchen und der Gesellschaft vorzustellen. Dies versuchte ich auch, aber die Primarärzte, auf deren Abteilung ich solche Fälle fand, verweigerten es mir, sie zu beobachten oder zu bearbeiten. Einer von ihnen, ein alter Chirurg, brach direkt in den Ausruf aus: “Aber Herr Kollege, wie können Sie solchen Unsinn reden! Hysteron (sic!) heißt doch der Uterus. Wie kann denn ein Mann hysterisch sein?” Ich wendete vergebens ein, daß ich nur die Verfügung über den Krankheitsfall brauchte und nicht die Genehmigung meiner Diagnose. Endlich trieb ich außerhalb des Spitals einen Fall von klassischer hysterischer Hemianästhesie bei einem Manne auf, den ich in der “Gesellschaft der Ärzte” demonstrierte. Diesmal klatschte man mir Beifall, nahm aber weiter kein Interesse an mir. Der Eindruck, daß die großen Autoritäten meine Neuigkeiten abgelehnt hätten, blieb unerschüttert; ich fand mich mit der männlichen Hysterie und der suggestiven Erzeugung hysterischer Lähmungen in die Opposition gedrängt. Als mir bald darauf das hirnanatomische Laboratorium versperrt wurde und ich durch Semester kein Lokal hatte, in dem ich meine Vorlesung abhalten konnte, zog ich mich aus dem akademischen und Vereinsleben zurück. Ich habe die “Gesellschaft der Ärzte” seit einem Menschenalter nicht mehr besucht.
Wenn man von der Behandlung Nervenkranker leben wollte, mußte man offenbar ihnen etwas leisten können. Mein therapeutisches Arsenal umfaßte nur zwei Waffen, die Elektrotherapie und die Hypnose, denn die

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 39

Versendung in die Wasserheilanstalt nach einmaliger Konsultation war keine zureichende Erwerbsquelle. In der Elektrotherapie vertraute ich mich dem Handbuch von W. Erb an, welches detaillierte Vorschriften für die Behandlung aller Symptome der Nervenleiden zur Verfügung stellte. Leider mußte ich bald erfahren, daß die Befolgung dieser Vorschriften niemals half, daß, was ich für den Niederschlag exakter Beobachtung gehalten hatte, eine phantastische Konstruktion war. Die Einsicht, daß das Werk des ersten Namens der deutschen Neuropathologie nicht mehr Beziehung zur Realität habe als etwa ein “ägyptisches” Traumbuch, wie es in unseren Volksbuchhandlungen verkauft wird, war schmerzlich, aber sie verhalf dazu, wieder ein Stück des naiven Autoritätsglaubens abzutragen, von dem ich noch nicht frei war. So schob ich denn den elektrischen Apparat beiseite, noch ehe Möbius das erlösende Wort gesprochen hatte, die Erfolge der elektrischen Behandlung bei Nervenkranken seien — wo sie sich überhaupt ergeben — eine Wirkung der ärztlichen Suggestion.
Mit der Hypnose stand es besser. Noch als Student hatte ich einer öffentlichen Vorstellung des “Magnetiseurs” Hansen beigewohnt und bemerkt, daß eine der Versuchspersonen totenbleich wurde, als sie in kataleptische Starre geriet und während der ganzen Dauer des Zustandes so verharrte. Damit war meine Überzeugung von der Echtheit der hypnotischen Phänomene fest begründet. Bald nachher fand diese Auffassung in Heidenhain ihren wissenschaftlichen Vertreter, was aber die Professoren der Psychiatrie nicht abhielt, noch auf lange hinaus die Hypnose für etwas Schwindelhaftes und überdies Gefährliches zu erklären und auf die Hypnotiseure geringschätzig herabzuschauen. In Paris hatte ich gesehen, daß man sich der Hypnose unbedenklich als Methode bediente, um bei den Kranken Symptome zu schaffen und wieder aufzuheben. Dann drang die Kunde zu uns, daß in Nancy eine Schule entstanden war, welche die Suggestion mit oder ohne Hypnose im großen Ausmaße und mit besonderem Erfolg zu therapeutischen Zwecken verwendete. Es machte sich so ganz natürlich, daß in den ersten Jahren meiner ärztlichen Tätigkeit, von den mehr zufälligen und nicht systematischen psychotherapeutischen Methoden abgesehen, die hypnotische Suggestion mein hauptsächliches Arbeitsmittel wurde.
Damit war zwar der Verzicht auf die Behandlung der organischen Nervenkrankheiten gegeben, aber das verschlug wenig. Denn einerseits gab die Therapie dieser Zustände überhaupt keine erfreuliche Aussicht und anderseits verschwand in der Stadtpraxis des Privatarztes die geringe Anzahl

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 40

der an ihnen Leidenden gegen die Menge von Nervösen, die sich überdies dadurch vervielfältigten, daß sie unerlöst von einem Arzt zum anderen liefen. Sonst aber war die Arbeit mit der Hypnose wirklich verführerisch. Man hatte zum erstenmal das Gefühl seiner Ohnmacht überwunden, der Ruf des Wundertäters war sehr schmeichelhaft. Welches die Mängel des Verfahrens waren, sollte ich später entdecken. Vorläufig konnte ich mich nur über zwei Punkte beklagen, erstens, daß es nicht gelang, alle Kranken zu hypnotisieren; zweitens, daß man es nicht in der Hand hatte, den einzelnen in so tiefe Hypnose zu versetzen, als man gewünscht hätte. In der Absicht, meine hypnotische Technik zu vervollkommnen, reiste ich im Sommer 1889 nach Nancy, wo ich mehrere Wochen zubrachte. Ich sah den rührenden alten Liébault bei seiner Arbeit an den armen Frauen und Kindern der Arbeiterbevölkerung, wurde Zeuge der erstaunlichen Experimente Bernheims an seinen Spitalspatienten und holte mir die stärksten Eindrücke von der Möglichkeit mächtiger seelischer Vorgänge, die doch dem Bewußtsein des Menschen verhüllt bleiben. Zum Zwecke der Belehrung hatte ich eine meiner Patientinnen bewogen, nach Nancy nachzukommen. Es war eine vornehme, genial begabte Hysterika, die mir überlassen worden war, weil man nichts mit ihr anzufangen wußte. Ich hatte ihr durch hypnotische Beeinflussung eine menschenwürdige Existenz ermöglicht und konnte sie immer wieder aus dem Elend ihrer Zustände herausheben. Daß sie jedesmal nach einiger Zeit rückfällig wurde, schob ich in meiner damaligen Unkenntnis darauf, daß ihre Hypnose niemals den Grad von Somnambulismus mit Amnesie erreicht hatte. Bernheim versuchte es nun mit ihr wiederholte Male, brachte es aber auch nicht weiter. Er gestand mir freimütig, daß er die großen therapeutischen Erfolge durch die Suggestion nur in seiner Spitalspraxis, nicht auch an seinen Privatpatienten erziele. Ich hatte viele anregende Unterhaltungen mit ihm und übernahm es, seine beiden Werke über die Suggestion und ihre Heilwirkungen ins Deutsche zu übersetzen.
Im Zeitraum von 1886-1891 habe ich wenig wissenschaftlich gearbeitet und kaum etwas publiziert. Ich war davon in Anspruch genommen, mich in den neuen Beruf zu finden und meine materielle Existenz sowie die meiner rasch anwachsenden Familie zu sichern. 1891 erschien die erste der Arbeiten über die Gehirnlähmungen der Kinder, in Gemeinschaft mit meinem Freunde und Assistenten Dr. Oskar Rie abgefaßt. In demselben Jahre veranlaßte mich ein Auftrag der Mitarbeiterschaft an einem Handwörterbuch der Medizin, die Lehre von der Aphasie zu erörtern, die damals

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 41

von den rein lokalisatorischen Gesichtspunkten Wernicke-Lichtheims beherrscht war. Ein kleines kritisch-spekulatives Buch “Zur Auffassung der Aphasien” war die Frucht dieser Bemühung. Ich habe nun aber zu verfolgen, wie es kam, daß die wissenschaftliche Forschung wieder zum Hauptinteresse meines Lebens wurde.

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 42

II

Meine frühere Darstellung ergänzend, muß ich angeben, daß ich von Anfang an außer der hypnotischen Suggestion eine andere Verwendung der Hypnose übte. Ich bediente mich ihrer zur Ausforschung des Kranken über die Entstehungsgeschichte seines Symptoms, die er im Wachzustand oft gar nicht oder nur sehr unvollkommen mitteilen konnte. Dies Verfahren schien nicht nur wirksamer als das bloß suggestive Gebot oder Verbot, es befriedigte auch die Wißbegierde des Arztes, der doch ein Recht hatte, etwas von der Herkunft des Phänomens zu erfahren, das er durch die monotone suggestive Prozedur aufzuheben strebte.
Zu diesem anderen Verfahren war ich aber auf folgende Weise gekommen. Noch im Brückeschen Laboratorium wurde ich mit Dr. Josef Breuer bekannt, einem der angesehensten Familienärzte Wiens, der aber auch eine wissenschaftliche Vergangenheit hatte, da mehrere Arbeiten von bleibendem Werte über die Physiologie der Atmung und über das Gleichgewichtsorgan von ihm herrührten. Er war ein Mann von überragender Intelligenz, vierzehn Jahre älter als ich; unsere Beziehungen wurden bald intimer, er wurde mein Freund und Helfer in schwierigen Lebenslagen. Wir hatten uns daran gewöhnt, alle wissenschaftlichen Interessen miteinander zu teilen. Natürlich war ich der gewinnende Teil in diesem Verhältnis. Die Entwicklung der Psychoanalyse hat mich dann seine

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 43

Freundschaft gekostet. Es wurde mir nicht leicht, diesen Preis dafür zu zahlen, aber es war unausweichlich.
Breuer hatte mir, schon ehe ich nach Paris ging, Mitteilungen über einen Fall von Hysterie gemacht, den er in den Jahren 1880 bis 1882 auf eine besondere Art behandelt, wobei er tiefe Einblicke in die Verursachung und Bedeutung der hysterischen Symptome gewinnen konnte. Das war also zu einer Zeit geschehen, als die Arbeiten Janets noch der Zukunft angehörten. Er las mir wiederholt Stücke der Krankengeschichte vor, von denen ich den Eindruck empfing, hier sei mehr für das Verständnis der Neurose geleistet worden als je zuvor. Ich beschloß bei mir, Charcot von diesen Funden Kunde zu geben, wenn ich nach Paris käme, und tat dies dann auch. Aber der Meister zeigte für meine ersten Andeutungen kein Interesse, so daß ich nicht mehr auf die Sache zurückkam und sie auch bei mir fallen ließ.
Nach Wien zurückgekehrt, wandte ich mich wieder der Breuerschen Beobachtung zu und ließ mir mehr von ihr erzählen. Die Patientin war ein junges Mädchen von ungewöhnlicher Bildung und Begabung gewesen, die während der Pflege ihres zärtlich geliebten Vaters erkrankt war. Als Breuer sie übernahm, bot sie ein buntes Bild von Lähmungen mit Kontrakturen, Hemmungen und Zuständen von psychischer Verworrenheit. Eine zufällige Beobachtung ließ den Arzt erkennen, daß sie von einer solchen Bewußtseinstrübung befreit werden konnte, wenn man sie veranlaßte, in Worten der affektiven Phantasie Ausdruck zu geben, von der sie eben beherrscht wurde. Breuer gewann aus dieser Erfahrung eine Methode der Behandlung. Er versetzte sie in tiefe Hypnose und ließ sie jedesmal von dem erzählen, was ihr Gemüt bedrückte. Nachdem die Anfälle von depressiver Verworrenheit auf diese Weise überwunden waren, verwendete er dasselbe Verfahren zur Aufhebung ihrer Hemmungen und körperlichen Störungen. Im wachen Zustande wußte das Mädchen so wenig wie andere Kranke zu sagen, wie ihre Symptome entstanden waren, und fand
Fußnoten:

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 44

kein Band zwischen ihnen und irgendwelchen Eindrücken ihres Lebens. In der Hypnose entdeckte sie sofort den gesuchten Zusammenhang. Es ergab sich, daß alle ihre Symptome auf eindrucksvolle Erlebnisse während der Pflege des kranken Vaters zurückgingen, also sinnvoll waren, und Resten oder Reminiszenzen dieser affektiven Situationen entsprachen. Gewöhnlich war es so zugegangen, daß sie am Krankenbett des Vaters einen Gedanken oder Impuls hatte unterdrücken müssen; an dessen Stelle, in seiner Vertretung, war dann später das Symptom erschienen. In der Regel war aber das Symptom nicht der Niederschlag einer einzigen “traumatischen” Szene, sondern das Ergebnis der Summation von zahlreichen ähnlichen Situationen. Wenn nun die Kranke in der Hypnose eine solche Situation halluzinatorisch wieder erinnerte und den damals unterdrückten seelischen Akt nachträglich unter freier Affektentfaltung zu Ende führte, war das Symptom weggewischt und trat nicht wieder auf. Durch dies Verfahren gelang es Breuer in langer und mühevoller Arbeit, seine Kranke von all ihren Symptomen zu befreien.
Die Kranke war genesen und seither gesund geblieben, ja bedeutsamer Leistungen fähig geworden. Aber über dem Ausgang der hypnotischen Behandlung lastete ein Dunkel, das Breuer mir niemals aufhellte; auch konnte ich nicht verstehen, warum er seine, wie mir schien, unschätzbare Erkenntnis so lange geheim gehalten hatte, anstatt die Wissenschaft durch sie zu bereichern. Die nächste Frage aber war, ob man verallgemeinern dürfe, was er an einem einzigen Krankheitsfalle gefunden. Die von ihm aufgedeckten Verhältnisse erschienen mir so fundamentaler Natur, daß ich nicht glauben konnte, sie würden bei irgendeinem Falle von Hysterie vermißt werden können, wenn sie einmal bei einem einzigen nachgewiesen waren. Doch konnte nur die Erfahrung darüber entscheiden. Ich begann also die Breuerschen Untersuchungen an meinen Kranken zu wiederholen und tat, besonders nachdem mir der Besuch bei Bernheim 1889 die Begrenzung

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 45

in der Leistungsfähigkeit der hypnotischen Suggestion gezeigt hatte, überhaupt nichts anderes mehr. Als ich mehrere Jahre hindurch immer nur Bestätigungen gefunden hatte, bei jedem Falle von Hysterie, der solcher Behandlung zugänglich war, auch bereits über ein stattliches Material von Beobachtungen verfügte, die der seinigen analog waren, schlug ich ihm eine gemeinsame Publikation vor, gegen die er sich anfangs heftig sträubte. Er gab endlich nach, zumal da unterdes Janets Arbeiten einen Teil seiner Ergebnisse, die Zurückführung hysterischer Symptome auf Lebenseindrücke und deren Aufhebung durch hypnotische Reproduktion in statu nascendi vorweggenommen hatten. Wir ließen 1893 eine vorläufige Mitteilung erscheinen: “Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene.” 1895 folgte unser Buch “Studien über Hysterie”.
Wenn die bisherige Darstellung beim Leser die Erwartung erweckt hat, die “Studien über Hysterie” würden in allem Wesentlichen ihres materiellen Inhalts Breuers geistiges Eigentum sein, so ist das genau dasjenige, was ich immer vertreten habe und auch diesmal aussagen wollte. An der Theorie, welche das Buch versucht, habe ich in heute nicht mehr bestimmbarem Ausmaße mitgearbeitet. Diese ist bescheiden, geht nicht weit über den unmittelbaren Ausdruck der Beobachtungen hinaus. Sie will nicht die Natur der Hysterie ergründen, sondern bloß die Entstehung ihrer Symptome beleuchten. Dabei betont sie die Bedeutung des Affektlebens, die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen unbewußten und bewußten (besser: bewußtseinsfähigen) seelischen Akten, führt einen dynamischen Faktor ein, indem sie das Symptom durch die Aufstauung eines Affekts entstehen läßt, und einen ökonomischen, indem sie dasselbe Symptom als das Ergebnis der Umsetzung einer sonst anderswie verwendeten Energiemenge betrachtet (sog. Konversion). Breuer nannte unser Verfahren das kathartische; als dessen therapeutische Absicht wurde angegeben, den zur Erhaltung des Symptoms verwendeten Affektbetrag, der auf falsche Bahnen geraten und dort

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 46

gleichsam eingeklemmt war, auf die normalen Wege zu leiten, wo er zur Abfuhr gelangen konnte (abreagieren). Der praktische Erfolg der kathartischen Prozedur war ausgezeichnet. Die Mängel, die sich später herausstellten, waren die einer jeden hypnotischen Behandlung. Noch jetzt gibt es eine Anzahl von Psychotherapeuten, die bei der Katharsis im Sinne Breuers stehen geblieben sind und sie zu loben wissen. In der Behandlung der Kriegsneurotiker des deutschen Heeres während des Weltkriegs hat sie sich als abkürzendes Heilverfahren unter den Händen von E. Simmel von neuem bewährt. Von der Sexualität ist in der Theorie der Katharsis nicht viel die Rede. In den Krankengeschichten, die ich zu den “Studien” beigesteuert, spielen Momente aus dem Sexualleben eine gewisse Rolle, werden aber kaum anders gewertet als sonstige affektive Erregungen. Von seiner berühmt gewordenen ersten Patientin erzählt Breuer, das Sexuale sei bei ihr erstaunlich unentwickelt gewesen. Aus den “Studien über Hysterie” hätte man nicht leicht erraten können, welche Bedeutung die Sexualität für die Ätiologie der Neurosen hat.
Das nun folgende Stück der Entwicklung, den Übergang von der Katharsis zur eigentlichen Psychoanalyse, habe ich bereits mehrmals so eingehend beschrieben, daß es mir schwer fallen wird, hier etwas Neues vorzubringen. Das Ereignis, welches diese Zeit einleitete, war der Rücktritt Breuers von unserer Arbeitsgemeinschaft, so daß ich sein Erbe allein zu verwalten hatte. Es hatte schon frühzeitig Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gegeben, die aber keine Entzweiung begründeten. In der Frage, wann ein seelischer Ablauf pathogen, d. h. von der normalen Erledigung ausgeschlossen werde, bevorzugte Breuer eine sozusagen physiologische Theorie; er meinte, solche Vorgänge entzögen sich dem normalen Schicksal, die in außergewöhnlichen—hypnoiden—Seelenzuständen entstanden seien. Damit war eine neue Frage, die nach der Herkunft solcher Hypnoide, aufgeworfen. Ich hingegen vermutete eher ein Kräftespiel, die Wirkung von Absichten und Tendenzen, wie sie im normalen Leben zu beobachten sind. So stand “Hypnoidhysterie”

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 47

gegen “Abwehrneurose”. Aber dieser und ähnliche Gegensätze hätten ihn wohl der Sache nicht abwendig gemacht, wenn nicht andere Momente hinzugetreten wären. Das eine derselben war gewiß, daß er als Internist und Familienarzt stark in Anspruch genommen war und nicht wie ich seine ganze Kraft der kathartischen Arbeit widmen konnte. Ferner wurde er durch die Aufnahme beeinflußt, welche unser Buch in Wien wie im Reiche draußen gefunden hatte. Sein Selbstvertrauen und seine Widerstandsfähigkeit standen nicht auf der Höhe seiner sonstigen geistigen Organisation. Als z. B. die “Studien” von Strümpell eine harte Abweisung erfuhren, konnte ich über die verständnislose Kritik lachen, er aber kränkte sich und wurde entmutigt. Am meisten trug aber zu seinem Entschluß bei, daß meine eigenen weiteren Arbeiten eine Richtung einschlugen, mit der er sich vergeblich zu befreunden versuchte.
Die Theorie, die wir in den “Studien” aufzubauen versucht hatten, war ja noch sehr unvollständig gewesen, insbesondere das Problem der Ätiologie, die Frage, auf welchem Boden der pathogene Vorgang entstehe, hatten wir kaum berührt. Nun zeigte mir eine rasch sich steigernde Erfahrung, daß nicht beliebige Affekterregungen hinter den Erscheinungen der Neurose wirksam waren, sondern regelmäßig solche sexueller Natur, entweder aktuelle sexuelle Konflikte oder Nachwirkungen früherer sexueller Erlebnisse. Ich war auf dieses Resultat nicht vorbereitet, meine Erwartung hatte keinen Anteil daran, ich war vollkommen arglos an die Untersuchung der Neurotiker herangetreten. Als ich 1914 die “Geschichte der psychoanalytischen Bewegung” schrieb, tauchte in mir die Erinnerung an einige Aussprüche von Breuer, Charcot und Chrobak auf, aus denen ich eine solche Erkenntnis hätte frühzeitig gewinnen können. Allein ich verstand damals nicht, was diese Autoritäten meinten; sie hatten mir mehr gesagt, als sie selbst wußten und zu vertreten bereit waren. Was ich von ihnen gehört hatte, schlummerte unwirksam in mir, bis es bei Gelegenheit der kathartischen Untersuchungen als anscheinend originelle

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Erkenntnis hervorbrach. Auch wußte ich damals noch nicht, daß ich mit der Zurückführung der Hysterie auf Sexualität bis auf die ältesten Zeiten der Medizin zurückgegriffen und an Plato angeknüpft hatte. Ich erfuhr es erst später aus einem Aufsatz von Havelock Ellis.
Unter dem Einfluß meines überraschenden Fundes machte ich nun einen folgenschweren Schritt. Ich ging über die Hysterie hinaus und begann, das Sexualleben der sogenannten Neurastheniker zu erforschen, die sich zahlreich in meiner Sprechstunde einzufinden pflegten. Dieses Experiment kostete mich zwar meine Beliebtheit als Arzt, aber es trug mir Überzeugungen ein, die sich heute, fast dreißig Jahre später, noch nicht abgeschwächt haben. Man hatte viel Verlogenheit und Geheimtuerei zu überwinden, aber wenn das gelungen war, fand man, daß bei all diesen Kranken schwere Mißbräuche der Sexualfunktion bestanden. Bei der großen Häufigkeit solcher Mißbräuche einerseits, der Neurasthenie anderseits, hatte ein häufiges Zusammentreffen beider natürlich nicht viel Beweiskraft, aber es blieb auch nicht bei dieser einen groben Tatsache. Schärfere Beobachtung legte mir nahe, aus dem bunten Gewirre von Krankheitsbildern, die man mit dem Namen Neurasthenie deckte, zwei grundverschiedene Typen herauszugreifen, die in beliebiger Vermengung vorkommen konnten, aber doch in reiner Ausprägung zu beobachten waren. Bei dem einen Typus war der Angstanfall das zentrale Phänomen mit seinen Äquivalenten, rudimentären Formen und chronischen Ersatzsymptomen; ich hieß ihn darum auch Angstneurose. Auf den anderen Typus beschränkte ich die Bezeichnung Neurasthenie. Nun war es leicht festzustellen, daß jedem dieser Typen eine andere Abnormität des Sexuallebens als ätiologisches Moment entsprach (Coitus interruptus, frustrane Erregung, sexuelle Enthaltung hier, exzessive Masturbation, gehäufte Pollutionen dort). Für einige besonders instruktive Fälle, in denen eine überraschende Wendung des Krankheitsbildes von dem einen Typus zum anderen stattgefunden hatte, gelang

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es auch nachzuweisen, daß ein entsprechender Wechsel des sexuellen Regimes zugrunde lag. Konnte man den Mißbrauch abstellen und durch normale Sexualtätigkeit ersetzen, so lohnte sich dies durch eine auffällige Besserung des Zustandes.
So wurde ich dazu geführt, die Neurosen ganz allgemein als Störungen der Sexualfunktion zu erkennen, und zwar die sogenannten Aktualneurosen als direkten toxischen Ausdruck, die Psychoneurosen als psychischen Ausdruck dieser Störungen. Mein ärztliches Gewissen fühlte sich durch diese Aufstellung befriedigt. Ich hoffte, eine Lücke in der Medizin ausgefüllt zu haben, die bei einer biologisch so wichtigen Funktion keine anderen Schädigungen als durch Infektion oder grobe anatomische Läsion in Betracht ziehen wollte. Außerdem kam der ärztlichen Auffassung zugute, daß die Sexualität ja keine bloß psychische Sache war. Sie hatte auch ihre somatische Seite, man durfte ihr einen besonderen Chemismus zuschreiben und die Sexualerregung von der Anwesenheit bestimmter, wenn auch noch unbekannter Stoffe ableiten. Es mußte auch seinen guten Grund haben, daß die echten, spontanen Neurosen mit keiner anderen Krankheitsgruppe so viel Ähnlichkeit zeigen wie mit den Intoxikations- und Abstinenzerscheinungen, hervorgerufen durch die Einführung und die Entbehrung gewisser toxisch wirkender Stoffe oder mit dem M. Basedowii, dessen Abhängigkeit vom Produkt der Schilddrüse bekannt ist.
Ich habe später keine Gelegenheit mehr gehabt, auf die Untersuchungen über die Aktualneurosen zurückzukommen. Auch von anderen ist dieses Stück meiner Arbeit nicht fortgesetzt worden. Blicke ich heute auf meine damaligen Ergebnisse zurück, so kann ich sie als erste, rohe Schematisierungen erkennen an einem wahrscheinlich weit komplizierteren Sachverhalt. Aber sie scheinen mir im ganzen heute noch richtig zu sein. Gern hätte ich später noch Fälle von reiner juveniler Neurasthenie dem psychoanalytischen Examen unterzogen; es hat sich leider nicht gefügt. Um mißverständlichen Auffassungen zu begegnen, will ich betonen, daß es

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mir ferne liegt, die Existenz des psychischen Konflikts und der neurotischen Komplexe bei der Neurasthenie zu leugnen. Die Behauptung geht nur dahin, daß die Symptome dieser Kranken nicht psychisch determiniert und analytisch auflösbar sind, sondern als direkte toxische Folgen des gestörten Sexualchemismus aufgefaßt werden müssen.
Als ich in den nächsten Jahren nach den “Studien” diese Ansichten über die ätiologische Rolle der Sexualität bei den Neurosen gewonnen hatte, hielt ich über sie einige Vorträge in ärztlichen Vereinen, fand aber nur Unglauben und Widerspruch. Breuer versuchte noch einige Male, das große Gewicht seines persönlichen Ansehens zu meinen Gunsten in die Waagschale zu werfen, aber er erreichte nichts, und es war leicht zu sehen, daß die Anerkennung der sexuellen Ätiologie auch gegen seine Neigungen ging. Er hätte mich durch den Hinweis auf seine eigene erste Patientin schlagen oder irre machen können, bei der sexuelle Momente angeblich gar keine Rolle gespielt hatten. Er tat es aber nie; ich verstand es lange nicht, bis ich gelernt hatte, mir diesen Fall richtig zu deuten und nach einigen früheren Bemerkungen von ihm den Ausgang seiner Behandlung zu rekonstruieren. Nachdem die kathartische Arbeit erledigt schien, hatte sich bei dem Mädchen plötzlich ein Zustand von “Übertragungsliebe” eingestellt, den er nicht mehr mit ihrem Kranksein in Beziehung brachte, so daß er sich bestürzt von ihr zurückzog. Es war ihm offenbar peinlich, an dieses anscheinende Mißgeschick erinnert zu werden. Im Benehmen gegen mich schwankte er eine Weile zwischen Anerkennung und herber Kritik, dann traten Zufälligkeiten hinzu, wie sie in gespannten Situationen niemals ausbleiben, und wir trennten uns voneinander.
Nun hatte meine Beschäftigung mit den Formen allgemeiner Nervosität die weitere Folge, daß ich die Technik der Katharsis abänderte. Ich gab die Hypnose auf und suchte sie durch eine andere Methode zu ersetzen, weil ich die Einschränkung der Be-
Fußnoten:

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handlung auf hysteriforme Zustände überwinden wollte. Auch hatten sich mir mit zunehmender Erfahrung zwei schwere Bedenken gegen die Anwendung der Hypnose selbst im Dienste der Katharsis ergeben. Das erste war, daß selbst die schönsten Resultate plötzlich wie weggewischt waren, wenn sich das persönliche Verhältnis zum Patienten getrübt hatte. Sie stellten sich zwar wieder her, wenn man den Weg zur Versöhnung fand, aber man wurde belehrt, daß die persönliche affektive Beziehung doch mächtiger war als alle kathartische Arbeit, und gerade dieses Moment entzog sich der Beherrschung. Sodann machte ich eines Tages eine Erfahrung, die mir in grellem Lichte zeigte, was ich längst vermutet hatte. Als ich einmal eine meiner gefügigsten Patientinnen, bei der die Hypnose die merkwürdigsten Kunststücke ermöglicht hatte, durch die Zurückführung ihres Schmerzanfalls auf seine Veranlassung von ihrem Leiden befreite, schlug sie beim Erwachen ihre Arme um meinen Hals. Der unvermutete Eintritt einer dienenden Person enthob uns einer peinlichen Auseinandersetzung, aber wir verzichteten von da an in stillschweigender Übereinkunft auf die Fortsetzung der hypnotischen Behandlung. Ich war nüchtern genug, diesen Zufall nicht auf die Rechnung meiner persönlichen Unwiderstehlichkeit zu setzen und meinte, jetzt die Natur des mystischen Elements, welches hinter der Hypnose wirkte, erfaßt zu haben. Um es auszuschalten oder wenigstens zu isolieren, mußte ich die Hypnose aufgeben.
Die Hypnose hatte aber der kathartischen Behandlung außerordentliche Dienste geleistet, indem sie das Bewußtseinsfeld der Patienten erweiterte und ihnen ein Wissen zur Verfügung stellte, über das sie im Wachen nicht verfügten. Es schien nicht leicht, sie darin zu ersetzen. In dieser Verlegenheit kam mir die Erinnerung an ein Experiment zu Hilfe, das ich oft bei Bernheim mitangesehen hatte. Wenn die Versuchsperson aus dem Somnambulismus erwachte, schien sie jede Erinnerung an die Vorfälle während dieses Zustands verloren zu haben. Aber Bernheim behauptete,

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sie wisse es doch, und wenn er sie aufforderte, sich zu erinnern, wenn er beteuerte, sie wisse alles, sie solle es doch nur sagen, und ihr dabei noch die Hand auf die Stirne legte, so kamen die vergessenen Erinnerungen wirklich wieder, zuerst nur zögernd, und dann im Strome und in voller Klarheit. Ich beschloß, es ebenso zu machen. Meine Patienten mußten ja auch all das “wissen”, was ihnen sonst erst die Hypnose zugänglich machte, und mein Versichern und Antreiben, etwa unterstützt durch Handauflegen, sollte die Macht haben, die vergessenen Tatsachen und Zusammenhänge ins Bewußtsein zu drängen. Das schien freilich mühseliger zu sein als die Versetzung in die Hypnose, aber es war vielleicht sehr lehrreich. Ich gab also die Hypnose auf und behielt von ihr nur die Lagerung des Patienten auf einem Ruhebett bei, hinter dem ich saß, so daß ich ihn sah, aber nicht selbst gesehen wurde.

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III

Meine Erwartung erfüllte sich, ich wurde von der Hypnose frei, aber mit dem Wechsel der Technik änderte auch die kathartische Arbeit ihr Gesicht. Die Hypnose hatte ein Kräftespiel verdeckt, welches sich nun enthüllte, dessen Erfassung der Theorie eine sichere Begründung gab.
Woher kam es nur, daß die Kranken so viel Tatsachen des äußeren und inneren Erlebens vergessen hatten, und diese doch erinnern konnten, wenn man die beschriebene Technik auf sie anwendete? Auf diese Fragen erteilte die Beobachtung erschöpfende Antwort. All das Vergessene war irgendwie peinlich gewesen, entweder schreckhaft oder schmerzlich oder beschämend für die Ansprüche der Persönlichkeit. Es drängte sich von selbst der Gedanke auf: gerade darum sei es vergessen worden, d. h. nicht bewußt geblieben. Um es doch wieder bewußt zu machen, mußte man etwas in dem Kranken überwinden, was sich sträubte, mußte man eigene Anstrengung aufwenden, um ihn zu drängen und zu nötigen. Die vom Arzt erforderte Anstrengung war verschieden groß für verschiedene Fälle, sie wuchs im geraden Verhältnis zur Schwere des zu Erinnernden. Der Kraftaufwand des Arztes war offenbar das Maß für einen Widerstand des Kranken. Man brauchte jetzt nur in Worte zu übersetzen, was man selbst verspürt hatte, und man war im Besitz der Theorie der Verdrängung.

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Der pathogene Vorgang ließ sich jetzt leicht rekonstruieren. Um beim einfachsten Beispiel zu bleiben, es war im Seelenleben eine einzelne Strebung aufgetreten, der aber mächtige andere widerstrebten. Der nun entstehende seelische Konflikt sollte nach unserer Erwartung so verlaufen, daß die beiden dynamischen Größen — heißen wir sie für unsere Zwecke: Trieb und Widerstand — eine Weile unter stärkster Anteilnahme des Bewußtseins miteinander rangen, bis der Trieb abgewiesen, seiner Strebung die Energiebesetzung entzogen war. Das wäre die normale Erledigung. Bei der Neurose hatte aber — aus noch unbekannten Gründen — der Konflikt einen anderen Ausgang gefunden. Das Ich hatte sich sozusagen beim ersten Zusammenstoß von der anstößigen Triebregung zurückgezogen, ihr den Zugang zum Bewußtsein und zur direkten motorischen Abfuhr versperrt, dabei hatte sie aber ihre volle Energiebesetzung behalten. Diesen Vorgang nannte ich Verdrängung; er war eine Neuheit, nichts ihm Ähnliches war je im Seelenleben erkannt worden. Er war offenbar ein primärer Abwehrmechanismus, einem Fluchtversuch vergleichbar, erst ein Vorläufer der späteren normalen Urteilserledigung. An den ersten Akt der Verdrängung knüpften weitere Folgen an. Erstens mußte sich das Ich gegen den immer bereiten Andrang der verdrängten Regung durch einen permanenten Aufwand, eine Gegenbesetzung, schützen und verarmte dabei, anderseits konnte sich das Verdrängte, das nun unbewußt war, Abfuhr und Ersatzbefriedigung auf Umwegen schaffen und solcherart die Absicht der Verdrängung zum Scheitern bringen. Bei der Konversionshysterie führte dieser Umweg in die Körperinnervation, die verdrängte Regung brach an irgendeiner Stelle durch und schuf sich die Symptome, die also Kompromißergebnisse waren, zwar Ersatzbefriedigungen, aber doch entstellt und von ihrem Ziele abgelenkt durch den Widerstand des Ichs.
Die Lehre von der Verdrängung wurde zum Grundpfeiler des Verständnisses der Neurosen. Die therapeutische Aufgabe mußte nun anders gefaßt werden, ihr Ziel war nicht mehr das “Abreagieren”

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des auf falsche Bahnen geratenen Affekts, sondern die Aufdeckung der Verdrängungen und deren Ablösung durch Urteilsleistungen, die in Annahme oder Verwerfung des damals Abgewiesenen ausgehen konnten. Ich trug der neuen Sachlage Rechnung, indem ich das Verfahren zur Untersuchung und Heilung nicht mehr Katharsis, sondern Psychoanalyse benannte.
Man kann von der Verdrängung wie von einem Zentrum ausgehen und alle Stücke der psychoanalytischen Lehre mit ihr in Verbindung bringen. Vorher will ich aber noch eine Bemerkung polemischen Inhalts machen. Nach der Meinung Janets war die Hysterika eine arme Person, die infolge einer konstitutionellen Schwäche ihre seelischen Akte nicht zusammenhalten konnte. Darum verfiel sie der seelischen Spaltung und der Einengung des Bewußtseins. Nach den Ergebnissen der psychoanalytischen Untersuchungen waren diese Phänomene aber Erfolg dynamischer Faktoren, des seelischen Konflikts und der vollzogenen Verdrängung. Ich meine, dieser Unterschied ist weittragend genug und sollte dem immer wiederholten Gerede ein Ende machen, was an der Psychoanalyse wertvoll sei, schränke sich auf eine Entlehnung Janetscher Gedanken ein. Meine Darstellung muß dem Leser gezeigt haben, daß die Psychoanalyse von den Janetschen Funden in historischer Hinsicht völlig unabhängig ist, wie sie auch inhaltlich von ihnen abweicht und weit über sie hinausgreift. Niemals wären auch von den Arbeiten Janets die Folgerungen ausgegangen, welche die Psychoanalyse so wichtig für die Geisteswissenschaften gemacht und ihr das allgemeinste Interesse zugewendet haben. Janet selbst habe ich immer respektvoll behandelt, weil seine Entdeckungen ein ganzes Stück weit mit denen Breuers zusammentrafen, die früher gemacht und später veröffentlicht worden waren. Aber als die Psychoanalyse Gegenstand der Diskussion auch in Frankreich wurde, hat Janet sich schlecht benommen, geringe Sachkenntnis gezeigt und unschöne Argumente gebraucht. Endlich hat er sich in meinen Augen bloßgestellt und sein Werk selbst entwertet, indem er verkündete, wenn er von “unbewußten” seelischen Akten gesprochen, so habe er nichts damit gemeint, es sei bloß “une manière de parler” gewesen.
Die Psychoanalyse wurde aber durch das Studium der pathogenen Verdrängungen und anderer noch zu erwähnender Phänomene gezwungen, den Begriff des “Unbewußten” ernst zu nehmen. Für sie war alles Psychische zunächst unbewußt, die Bewußtseinsqualität

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konnte dann dazukommen oder auch wegbleiben. Dabei stieß man freilich mit dem Widerspruch der Philosophen zusammen, für die “bewußt” und “psychisch” identisch war, und die beteuerten, sie könnten sich so ein Unding wie das “unbewußte Seelische” nicht vorstellen. Es half aber nichts, man mußte sich achselzuckend über diese Idiosynkrasie der Philosophen hinaussetzen. Die Erfahrungen am pathologischen Material, das die Philosophen nicht kannten, über die Häufigkeit und Mächtigkeit solcher Regungen, von denen man nichts wußte und die man wie irgendeine Tatsache der Außenwelt erschließen mußte, ließen keine Wahl. Man konnte dann geltend machen, daß man nur am eigenen Seelenleben tat, was man immer schon für das anderer getan hatte. Man schrieb doch auch der anderen Person psychische Akte zu, obwohl man kein unmittelbares Bewußtsein von diesen hatte und sie aus Äußerungen und Handlungen erraten mußte. Was aber beim anderen recht ist, das muß auch für die eigene Person billig sein. Will man dies Argument weiter treiben und daraus ableiten, daß die eigenen verborgenen Akte eben einem zweiten Bewußtsein angehören, so steht man vor der Konzeption eines Bewußtseins, von dem man nichts weiß, eines unbewußten Bewußtseins, was doch kaum ein Vorteil gegen die Annahme eines unbewußten Psychischen ist. Sagt man aber mit anderen Philosophen, man würdige die pathologischen Vorkommnisse, nur sollten die diesen zugrunde liegenden Akte nicht psychisch, sondern psychoid geheißen werden, so läuft die Differenz auf einen unfruchtbaren Wortstreit hinaus, in dem man sich doch am zweckmäßigsten für die Beibehaltung des Ausdrucks “unbewußt psychisch” entscheidet. Die Frage, was dies Unbewußte an sich sei, ist dann nicht klüger und aussichtsreicher als die andere, frühere, was das Bewußte sei.
Schwieriger wäre es, in kurzem darzustellen, wie die Psychoanalyse dazu gekommen ist, das von ihr anerkannte Unbewußte noch zu gliedern, es in ein Vorbewußtes und in ein eigentlich Unbewußtes zu zerlegen. Es mag die Bemerkung genügen, daß

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es legitim erschien, die Theorien, welche direkter Ausdruck der Erfahrung sind, durch Hypothesen zu ergänzen, welche zur Bewältigung des Stoffes zweckdienlich sind und sich auf Verhältnisse beziehen, die nicht Gegenstand unmittelbarer Beobachtung werden können. Man pflegt auch in älteren Wissenschaften nicht anders zu verfahren. Die Gliederung des Unbewußten hängt mit dem Versuch zusammen, sich den seelischen Apparat aus einer Anzahl von Instanzen oder Systemen aufgebaut zu denken, von deren Beziehung zueinander man in räumlicher Ausdrucksweise spricht, wobei aber ein Anschluß an die reale Hirnanatomie nicht gesucht wird. (Der sogenannte to pische Gesichtspunkt.) Solche und ähnliche Vorstellungen gehören zu einem spekulativen Überbau der Psychoanalyse, von dem jedes Stück ohne Schaden und Bedauern geopfert oder ausgetauscht werden kann, sobald eine Unzulänglichkeit erwiesen ist. Es bleibt genug zu berichten übrig, was der Beobachtung näher steht.
Ich habe schon erwähnt, daß die Forschung nach den Veranlassungen und Begründungen der Neurose mit immer steigender Häufigkeit auf Konflikte zwischen den sexuellen Regungen der Person und den Widerständen gegen die Sexualität führte. Bei der Suche nach den pathogenen Situationen, in denen die Verdrängungen der Sexualität eingetreten waren, und aus denen die Symptome als Ersatzbildungen des Verdrängten stammten, wurde man in immer frühere Lebenszeiten des Kranken zurückgeleitet und langte endlich in dessen ersten Kindheitsjahren an. Es ergab sich, was Dichter und Menschenkenner immer behauptet hatten, daß die Eindrücke dieser frühen Lebensperiode, obwohl sie meist der Amnesie verfallen, unvertilgbare Spuren in der Entwicklung des Individuums zurücklassen, insbesondere daß sie die Disposition für spätere neurotische Erkrankungen festlegen. Da es sich aber in diesen Kindererlebnissen immer um sexuelle Erregungen und um Reaktion gegen dieselben handelte, stand man vor der Tatsache der infantilen Sexualität, die wiederum eine Neuheit und einen Widerspruch gegen eines

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Editorische Anmerkung psyalpha: In den GW XIV ist an dieser Stelle eine Abbildung eingefügt: „SIGM. FREUD. Medaille von C. M. Schwerdtner jun. (1906)“

der stärksten Vorurteile der Menschen bedeutete. Die Kindheit sollte ja “unschuldig” sein, frei von geschlechtlichen Gelüsten, und der Kampf mit dem Dämon “Sinnlichkeit” erst mit dem Sturm und Drang der Pubertät einsetzen. Was man von sexuellen Betätigungen gelegentlich an Kindern hatte wahrnehmen müssen, faßte man als Zeichen von Degeneration, vorzeitiger Verderbtheit oder als kuriose Laune der Natur auf. Wenige der Ermittlungen der Psychoanalyse haben eine so allgemeine Ablehnung gefunden, einen solchen Ausbruch von Entrüstung hervorgerufen wie die Behauptung, daß die Sexualfunktion vom Anfang des Lebens an beginne und schon in der Kindheit sich in wichtigen Erscheinungen äußere. Und doch ist kein anderer analytischer Fund so leicht und so vollständig zu erweisen.
Ehe ich weiter in die Würdigung der infantilen Sexualität eingehe, muß ich eines Irrtums gedenken, dem ich eine Weile verfallen war und der bald für meine ganze Arbeit verhängnisvoll geworden wäre. Unter dem Drängen meines damaligen technischen Verfahrens reproduzierten die meisten meiner Patienten Szenen aus ihrer Kindheit, deren Inhalt die sexuelle Verführung durch einen Erwachsenen war. Bei den weiblichen Personen war die Rolle des Verführers fast immer dem Vater zugeteilt. Ich schenkte diesen Mitteilungen Glauben und nahm also an, daß ich in diesen Erlebnissen sexueller Verführung in der Kindheit die Quellen der späteren Neurose aufgefunden hatte. Einige Fälle, in denen sich solche Beziehungen zum Vater, Oheim oder älteren Bruder bis in die Jahre sicherer Erinnerung fortgesetzt hatten, bestärkten mich in meinem Zutrauen. Wenn jemand über meine Leichtgläubigkeit mißtrauisch den Kopf schütteln wollte, so kann ich ihm nicht ganz unrecht geben, will aber vorbringen, daß es die Zeit war, wo ich meiner Kritik absichtlich Zwang antat, um unparteiisch und aufnahmsfähig für die vielen Neuheiten zu bleiben, die mir täglich entgegentraten. Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 59

Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine Zeitlang ratlos. Mein Vertrauen in meine Technik wie in ihre Ergebnisse erlitt einen harten Stoß; ich hatte doch diese Szenen auf einem technischen Wege, den ich für korrekt hielt, gewonnen und ihr Inhalt stand in unverkennbarer Beziehung zu den Symptomen, von denen meine Untersuchung ausgegangen war. Als ich mich gefaßt hatte, zog ich aus meiner Erfahrung die richtigen Schlüsse, daß die neurotischen Symptome nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpften, sondern an Wunschphantasien, und daß für die Neurose die psychische Realität mehr bedeute als die materielle. Ich glaube auch heute nicht, daß ich meinen Patienten jene Verführungsphantasien aufgedrängt, “suggeriert” habe. Ich war da zum erstenmal mit dem Ödipus-Komplex zusammengetroffen, der späterhin eine so überragende Bedeutung gewinnen sollte, den ich aber in solch phantastischer Verkleidung noch nicht erkannte. Auch blieb der Verführung im Kindesalter ihr Anteil an der Ätiologie, wenngleich in bescheidenerem Ausmaß, gewahrt. Die Verführer waren aber zumeist ältere Kinder gewesen.
Mein Irrtum war also der nämliche gewesen, wie wenn jemand die Sagengeschichte der römischen Königszeit nach der Erzählung des Livius für historische Wahrheit nehmen würde, anstatt für das, was sie ist, eine Reaktionsbildung gegen die Erinnerung armseliger, wahrscheinlich nicht immer rühmlicher Zeiten und Verhältnisse. Nach der Aufhellung des Irrtums war der Weg zum Studium des infantilen Sexuallebens frei. Man kam da in die Lage, die Psychoanalyse auf ein anderes Wissensgebiet anzuwenden, aus ihren Daten ein bisher unbekanntes Stück des biologischen Geschehens zu erraten.
Die Sexualfunktion war von Anfang an vorhanden, lehnte sich zunächst an die anderen lebenswichtigen Funktionen an und machte sich dann von ihnen unabhängig; sie hatte eine lange und komplizierte Entwicklung durchzumachen, bis aus ihr das wurde, was als das normale Sexualleben des Erwachsenen bekannt war. Sie

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 60

äußerte sich zuerst als Tätigkeit einer ganzen Reihe von Triebkomponenten, welche von erogenen Körperzonen abhängig waren, zum Teil in Gegensatzpaaren auftraten (Sadismus — Masochismus, Schautrieb — Exhibitionslust), unabhängig voneinander auf Lustgewinn ausgingen und ihr Objekt zumeist am eigenen Körper fanden. Sie war also zuerst nicht zentriert und vorwiegend autoerotisch. Später traten Zusammenfassungen in ihr auf; eine erste Organisationsstufe stand unter der Vorherrschaft der oralen Komponenten, dann folgte eine sadistisch-anale Phase und erst die spät erreichte dritte Phase brachte den Primat der Genitalien, womit die Sexualfunktion in den Dienst der Fortpflanzung trat. Während dieser Entwicklung wurden manche Triebanteile als für diesen Endzweck unbrauchbar beiseite gelassen oder anderen Verwendungen zugeführt, andere von ihren Zielen abgelenkt und in die genitale Organisation übergeleitet. Ich nannte die Energie der Sexualtriebe — und nur diese — Libido. Ich mußte nun annehmen, daß die Libido die beschriebene Entwicklung nicht immer tadellos durchmacht. Infolge der Überstärke einzelner Komponenten oder frühzeitiger Befriedigungserlebnisse kommt es zu Fixierungen der Libido an gewissen Stellen des Entwicklungsweges. Zu diesen Stellen strebt dann die Libido im Falle einer späteren Verdrängung zurück (Regression) und von ihnen aus wird auch der Durchbruch zum Symptom erfolgen. Eine spätere Einsicht fügte hinzu, daß die Lokalisation der Fixierungsstelle auch entscheidend ist für die Neurosenwahl, für die Form, in der die spätere Erkrankung auftritt.
Neben der Organisation der Libido geht der Prozeß der Objektfindung einher, dem eine große Rolle im Seelenleben vorbehalten ist. Das erste Liebesobjekt nach dem Stadium des Autoerotismus wird für beide Geschlechter die Mutter, deren nährendes Organ wahrscheinlich anfänglich vom eigenen Körper nicht unterschieden wurde. Später, aber noch in den ersten Kinderjahren, stellt sich die Relation des Ödipus-Komplexes her, in welcher der Knabe seine sexuellen

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 61

Wünsche auf die Person der Mutter konzentriert und feindselige Regungen gegen den Vater als Rivalen entwickelt. In analoger Weise stellt sich das kleine Mädchen ein (1), alle Variationen und Abfolgen des Ödipus-Komplexes werden bedeutungsvoll, die angeborene bisexuelle Konstitution macht sich geltend und vermehrt die Anzahl der gleichzeitig vorhandenen Strebungen. Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind über die Unterschiede der Geschlechter Klarheit gewinnt; in dieser Zeit der Sexualforschung schafft es sich typische Sexualtheorien, die, abhängig von der Unvollkommenheit der eigenen körperlichen Organisation, Richtiges und Falsches vermengen und die Probleme des Geschlechtslebens (das Rätsel der Sphinx: woher die Kinder kommen) nicht lösen können. Die erste Objektwahl des Kindes ist also eine inzestuöse. Die ganze hier beschriebene Entwicklung wird rasch durchlaufen. Der merkwürdigste Charakter des menschlichen Sexuallebens ist sein zweizeitiger Ansatz mit dazwischenliegender Pause. Im vierten und fünften Lebensjahr erreicht es einen ersten Höhepunkt, dann aber vergeht diese Frühblüte der Sexualität, die bisher lebhaften Strebungen verfallen der Verdrängung und es tritt die bis zur Pubertät dauernde Latenzzeit ein, während welcher die Reaktionsbildungen der Moral, der Scham, des Ekels aufgerichtet werden.(2) Die Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung scheint von allen Lebewesen allein dem Menschen zuzukommen, sie ist vielleicht die biologische Bedingung seiner Disposition zur Neurose. Mit der Pubertät werden die Strebungen und Objektbesetzungen der Frühzeit wieder belebt, auch die Gefühlsbindungen des Ödipus-Komplexes. Im Sexualleben der Pubertät ringen miteinander die Anregungen der Frühzeit und die Hemmungen der Latenzperiode. Noch auf der Höhe der infantilen Sexualentwicklung hatte sich eine Art von genitaler Organisation hergestellt, in der aber nur das männliche Genitale eine Rolle spielte, das weibliche unentdeckt geblieben war (der sogenannte phallische Primat). Der Gegensatz der Geschlechter hieß damals noch nicht männlich oder weiblich, sondern: im Besitze eines

Editorische Anmerkung psyalpha: In den GW XIV finden sich folgende Fußnoten:

„1) Zusatz aus dem Jahre 1935: Die Ermittlungen über die infantile Sexualität waren am Mann gewonnen und die aus ihnen abgeleitete Theorie für das männliche Kind zugerichtet worden. Die Erwartung eines durchgehenden Parallelismus zwischen den beiden Geschlechtern war natürlich genug, aber sie erwies sich als unzutreffend. Weitere Untersuchungen und Erwägungen deckten tiefgehende Unterschiede in der Geschlechtsentwicklung zwischen Mann und Weib auf. Auch für das kleine Mädchen ist die Mutter das erste Sexualobjekt, aber um das Ziel der normalen Entwicklung zu erreichen, soll das Weib nicht nur das Sexualobjekt, sondern auch die leitende Genitalzone wechseln. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten und mögliche Hemmungen, die für den Mann entfallen.

2) Zusatz aus dem Jahre 1935: Die Latenzzeit ist ein physiologisches Phänomen. Eine völlige Unterbrechung des Sexuallebens kann sie aber nur in jenen kulturellen Organisationen hervorrufen, die eine Unterdrückung der infantilen Sexualität in ihren Plan aufgenommen haben. Dies ist bei den meisten Primitiven nicht der Fall.“

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 62

Penis oder kastriert. Der hier anschließende Kastrationskomplex wird überaus bedeutsam für die Bildung von Charakter und Neurose.
In dieser verkürzten Darstellung meiner Befunde über das menschliche Sexualleben habe ich dem Verständnis zuliebe vielfach zusammengetragen, was zu verschiedenen Zeiten entstand und als Ergänzung oder Berichtigung in die aufeinanderfolgenden Auflagen meiner “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” Aufnahme fand. Ich hoffe, es läßt sich aus ihr leicht entnehmen, worin die oft betonte und beanstandete Erweiterung des Begriffes Sexualität besteht. Diese Erweiterung ist eine zweifache. Erstens wird die Sexualität aus ihren allzu engen Beziehungen zu den Genitalien gelöst und als eine umfassendere, nach Lust strebende Körperfunktion hingestellt, welche erst sekundär in den Dienst der Fortpflanzung tritt; zweitens werden zu den sexuellen Regungen alle die bloß zärtlichen und freundschaftlichen gerechnet, für welche unser Sprachgebrauch das vieldeutige Wort “Liebe” verwendet. Allein ich meine, diese Erweiterungen sind nicht Neuerungen, sondern Wiederherstellungen, sie bedeuten die Aufhebung von unzweckmäßigen Einengungen des Begriffes, zu denen wir uns haben bewegen lassen. Die Loslösung der Sexualität von den Genitalien hat den Vorteil, daß sie uns gestattet, die Sexualbetätigung der Kinder und der Perversen unter dieselben Gesichtspunkte zu bringen wie die der normalen Erwachsenen, während die erstere bisher völlig vernachlässigt, die andere zwar mit moralischer Entrüstung, aber ohne Verständnis aufgenommen wurde. Der psychoanalytischen Auffassung erklären sich auch die absonderlichsten und abstoßendsten Perversionen als Äußerung von sexuellen Partialtrieben, die sich dem Genitalprimat entzogen haben und wie in den Urzeiten der Libidoentwicklung selbständig dem Lusterwerb nachgehen. Die wichtigste dieser Perversionen, die Homosexualität, verdient kaum diesen Namen. Sie führt sich auf die konstitutionelle Bisexualität und auf die Nachwirkung des phallischen Primats zurück; durch Psychoanalyse kann

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 63

man bei jedermann ein Stück homosexueller Objektwahl nachweisen. Wenn man die Kinder “polymorph pervers” genannt hat, so war das nur eine Beschreibung in allgemein gebräuchlichen Ausdrücken; eine moralische Wertung sollte damit nicht ausgesprochen werden. Solche Werturteile liegen der Psychoanalyse überhaupt fern.
Die andere der angeblichen Erweiterungen rechtfertigt sich durch den Hinweis auf die psychoanalytische Untersuchung, welche zeigt, daß all diese zärtlichen Gefühlsregungen ursprünglich vollsexuelle Strebungen waren, die dann “zielgehemmt” oder “sublimiert” worden sind. Auf dieser Beeinflußbarkeit und Ablenkbarkeit der Sexualtriebe beruht auch ihre Verwendbarkeit für mannigfache kulturelle Leistungen, zu denen sie die bedeutsamsten Beiträge stellen.
Die überraschenden Ermittlungen über die Sexualität des Kindes wurden zunächst durch die Analyse Erwachsener gewonnen, konnten aber später, etwa von 1908 an, durch direkte Beobachtungen an Kindern bis in alle Einzelheiten und in beliebigem Ausmaße bestätigt werden. Es ist wirklich so leicht, sich von den regulären sexuellen Betätigungen der Kinder zu überzeugen, daß man sich verwundert fragen muß, wie es die Menschen zustande gebracht haben, diese Tatsachen zu übersehen und die Wunschlegende von der asexuellen Kindheit solange aufrecht zu halten. Dies muß mit der Amnesie der meisten Erwachsenen für ihre eigene Kindheit zusammenhängen.

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 64

IV

Die Lehren vom Widerstand und von der Verdrängung, vom Unbewußten, von der ätiologischen Bedeutung des Sexuallebens und der Wichtigkeit der Kindheitserlebnisse sind die Hauptbestandteile des psychoanalytischen Lehrgebäudes. Ich bedauere, daß ich hier nur die einzelnen Stücke beschreiben konnte und nicht auch, wie sie sich zusammensetzen und ineinander greifen. Es ist jetzt an der Zeit, sich zu den Veränderungen zu wenden, die sich allmählich an der Technik des analytischen Verfahrens vollzogen.
Die zuerst geübte Überwindung des Widerstandes durch Drängen und Versichern war unentbehrlich gewesen, um dem Arzt die ersten Orientierungen in dem, was er zu erwarten hatte, zu verschaffen. Auf die Dauer war sie aber für beide Teile zu anstrengend und schien nicht frei von gewissen naheliegenden Bedenken. Sie wurde also von einer anderen Methode abgelöst, welche in gewissem Sinne ihr Gegensatz war. Anstatt den Patienten anzutreiben, etwas zu einem bestimmten Thema zu sagen, forderte man ihn jetzt auf, sich der freien “Assoziation” zu überlassen, d. h. zu sagen, was immer ihm in den Sinn kam, wenn er sich jeder bewußten Zielvorstellung enthielt. Nur mußte er sich dazu verpflichten, auch wirklich alles mitzuteilen, was ihm seine Selbstwahrnehmung ergab, und den kritischen Einwendungen nicht nachzugeben, die einzelne Einfälle mit den Motivierungen beseitigen wollten, sie seien nicht wichtig genug, gehörten nicht dazu oder seien überhaupt ganz unsinnig.

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Die Forderung nach Aufrichtigkeit in der Mitteilung brauchte man nicht ausdrücklich zu wiederholen, sie war ja die Voraussetzung der analytischen Kur.
Daß dies Verfahren der freien Assoziation unter Einhaltung der psychoanalytischen Grundregel leisten sollte, was man von ihm erwartete, nämlich das verdrängte und durch Widerstände ferngehaltene Material dem Bewußtsein zuzuführen, mag befremdend erscheinen. Allein man muß bedenken, daß die freie Assoziation nicht wirklich frei ist. Der Patient bleibt unter dem Einfluß der analytischen Situation, auch wenn er seine Denktätigkeit nicht auf ein bestimmtes Thema richtet. Man hat das Recht anzunehmen, daß ihm nichts anderes einfallen wird, als was zu dieser Situation in Beziehung steht. Sein Widerstand gegen die Reproduktion des Verdrängten wird sich jetzt auf zweierlei Weise äußern. Erstens durch jene kritischen Einwendungen, auf welche die psychoanalytische Grundregel gemünzt ist. Überwindet er aber in Befolgung der Regel diese Abhaltungen, so findet der Widerstand einen anderen Ausdruck. Er wird es durchsetzen, daß dem Analysierten niemals das Verdrängte selbst einfällt, sondern nur etwas, was diesem nach Art einer Anspielung nahe kommt, und je größer der Widerstand ist, desto weiter wird sich der mitzuteilende Ersatzeinfall von dem Eigentlichen, das man sucht, entfernen. Der Analytiker, der in Sammlung, aber ohne Anstrengung zuhört und der durch seine Erfahrung im allgemeinen auf das Kommende vorbereitet ist, kann nun das Material, das der Patient zutage fördert, nach zwei Möglichkeiten verwerten. Entweder gelingt es ihm, bei geringem Widerstand, aus den Andeutungen das Verdrängte selbst zu erraten, oder er kann, bei stärkerem Widerstand, an den Einfällen, die sich vom Thema zu entfernen scheinen, die Beschaffenheit dieses Widerstandes erkennen, den er dann dem Patienten mitteilt. Die Aufdeckung des Widerstandes ist aber der erste Schritt zu seiner Überwindung. So ergibt sich im Rahmen der analytischen Arbeit eine Deutungskunst, deren erfolgreiche Handhabung zwar Takt und Übung er- fordert,

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fordert, die aber unschwer zu erlernen ist. Die Methode der freien Assoziation hat große Vorzüge vor der früheren, nicht nur den der Ersparung an Mühe. Sie setzt den Analysierten dem geringsten Maß von Zwang aus, verliert nie den Kontakt mit der realen Gegenwart, gewährt weitgehende Garantien dafür, daß man kein Moment in der Struktur der Neurose übersieht und nichts aus eigener Erwartung in sie einträgt. Man überläßt es bei ihr wesentlich dem Patienten, den Gang der Analyse und die Anordnung des Stoffes zu bestimmen, daher wird die systematische Bearbeitung der einzelnen Symptome und Komplexe unmöglich. Recht im Gegensatz zum Hergang beim hypnotischen oder antreibenden Verfahren erfährt man das Zusammengehörige zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Stellen der Behandlung. Für einen Zuhörer — den es in Wirklichkeit nicht geben darf — würde die analytische Kur daher ganz undurchsichtig sein.
Ein anderer Vorteil der Methode ist, daß sie eigentlich nie zu versagen braucht. Es muß theoretisch immer möglich sein, einen Einfall zu haben, wenn man seine Ansprüche an die Art desselben fallen läßt. Doch tritt solches Versagen ganz regelmäßig in einem Falle auf, aber gerade durch seine Vereinzelung wird auch dieser Fall deutbar.
Ich nähere mich nun der Beschreibung eines Moments, welches einen wesentlichen Zug zum Bilde der Analyse hinzufügt und technisch wie theoretisch die größte Bedeutung beanspruchen darf. In jeder analytischen Behandlung stellt sich ohne Dazutun des Arztes eine intensive Gefühlsbeziehung des Patienten zur Person des Analytikers her, die in den realen Verhältnissen keine Erklärung finden kann. Sie ist positiver oder negativer Natur, variiert von leidenschaftlicher, vollsinnlicher Verliebtheit bis zum extremen Ausdruck von Auflehnung, Erbitterung und Haß. Diese abkürzend sogenannte “Übertragung” setzt sich beim Patienten bald an die Stelle des Wunsches nach Genesung und wird, solange sie zärtlich und gemäßigt ist, zum Träger des ärztlichen Einflusses und zur eigentlichen Trieb-

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feder der gemeinsamen analytischen Arbeit. Später, wenn sie leidenschaftlich geworden ist oder ins Feindselige umgeschlagen hat, wird sie das Hauptwerkzeug des Widerstandes. Dann geschieht es auch, daß sie die Einfallstätigkeit des Patienten lahm legt und den Erfolg der Behandlung gefährdet. Es wäre aber unsinnig, ihr ausweichen zu wollen; eine Analyse ohne Übertragung ist eine Unmöglichkeit. Man darf nicht glauben, daß die Analyse die Übertragung schafft und daß diese nur bei ihr vorkommt. Die Übertragung wird von der Analyse nur aufgedeckt und isoliert. Sie ist ein allgemein menschliches Phänomen, entscheidet über den Erfolg bei jeder ärztlichen Beeinflussung, ja sie beherrscht überhaupt die Beziehungen einer Person zu ihrer menschlichen Umwelt. Unschwer erkennt man in ihr denselben dynamischen Faktor, den die Hypnotiker Suggerierbarkeit genannt haben, der der Träger des hypnotischen Rapports ist, über dessen Unberechenbarkeit auch die kathartische Methode zu klagen hatte. Wo diese Neigung zur Gefühlsübertragung fehlt oder durchaus negativ geworden ist, wie bei der Dementia praecox und der Paranoia, da entfällt auch die Möglichkeit einer psychischen Beeinflussung des Kranken.
Es ist ganz richtig, daß auch die Psychoanalyse mit dem Mittel der Suggestion arbeitet wie andere psychotherapeutische Methoden. Der Unterschied ist aber, daß ihr — der Suggestion oder der Übertragung— hier nicht die Entscheidung über den therapeutischen Erfolg überlassen wird. Sie wird vielmehr dazu verwendet, den Kranken zur Leistung einer psychischen Arbeit zu bewegen, — zur Überwindung seiner Übertragungswiderstände, — die eine dauernde Veränderung seiner seelischen Ökonomie bedeutet. Die Übertragung wird vom Analytiker dem Kranken bewußt gemacht, sie wird aufgelöst, indem man ihn davon überzeugt, daß er in seinem Übertragungsverhalten Gefühlsrelationen wiedererlebt, die von seinen frühesten Objektbesetzungen, aus der verdrängten Periode seiner Kindheit, herstammen. Durch solche Wendung wird die Übertragung aus der stärksten Waffe des Widerstandes zum besten

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Instrument der analytischen Kur. Immerhin bleibt ihre Handhabung das schwierigste wie das wichtigste Stück der analytischen Technik.
Mit Hilfe des Verfahrens der freien Assoziation und der an sie anschließenden Deutungskunst gelang der Psychoanalyse eine Leistung, die anscheinend nicht praktisch bedeutsam war, aber in Wirklichkeit zu einer völlig neuen Stellung und Geltung im wissenschaftlichen Betrieb führen mußte. Es wurde möglich nachzuweisen, daß Träume sinnvoll sind, und den Sinn derselben zu erraten. Träume waren noch im klassischen Altertum als Verkündigungen der Zukunft hochgeschätzt worden; die moderne Wissenschaft wollte vom Traum nichts wissen, überließ ihn dem Aberglauben, erklärte ihn für einen bloß “körperlichen” Akt, für eine Art Zuckung des sonst schlafenden Seelenlebens. Daß jemand, der ernste wissenschaftliche Arbeit geleistet hatte, als “Traumdeuter” auftreten könnte, schien doch ausgeschlossen. Wenn man sich aber um eine solche Verdammung des Traumes nicht kümmerte, ihn behandelte wie ein unverstandenes neurotisches Symptom, eine Wahn- oder Zwangsidee, von seinem scheinbaren Inhalt absah und seine einzelnen Bilder zu Objekten der freien Assoziation machte, so kam man zu einem anderen Ergebnis. Man gewann durch die zahlreichen Einfälle des Träumers Kenntnis von einem Gedankengebilde, das nicht mehr absurd oder verworren genannt werden konnte, das einer vollwertigen psychischen Leistung entsprach und von dem der manifeste Traum nur eine entstellte, verkürzte und mißverstandene Übersetzung war, zumeist eine Übersetzung in visuelle Bilder. Diese latenten Traumgedanken enthielten den Sinn des Traumes, der manifeste Trauminhalt war nur eine Täuschung, eine Fassade, an welche zwar die Assoziation anknüpfen konnte, aber nicht die Deutung.
Man stand nun vor der Beantwortung einer ganzen Reihe von Fragen, die wichtigsten darunter, ob es denn ein Motiv für die Traumbildung gebe, unter welchen Bedingungen sie sich vollziehen könne, auf welchen Wegen die Überführung der immer sinnreichen Traumgedanken in den oft sinnlosen Traum vor sich geht u. a.

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In meiner 1900 veröffentlichten “Traumdeutung” habe ich versucht, alle diese Probleme zu erledigen. Nur der kürzeste Auszug aus dieser Untersuchung kann hier Raum finden: Wenn man die latenten Traumgedanken, die man aus der Analyse des Traumes erfahren hat, untersucht, findet man einen unter ihnen, der sich von den anderen, verständigen und dem Träumer wohlbekannten, scharf abhebt. Diese anderen sind Reste des Wachlebens (Tagesreste); in dem vereinzelten aber erkennt man eine oft sehr anstößige Wunschregung, die dem Wachleben des Träumers fremd ist, die er dementsprechend auch verwundert oder entrüstet verleugnet. Diese Regung ist der eigentliche Traumbildner, sie hat die Energie für die Produktion des Traumes aufgebracht und sich der Tagesreste als Material bedient; der so entstandene Traum stellt eine Befriedigungssituation für sie vor, ist ihre Wunscherfüllung. Dieser Vorgang wäre nicht möglich geworden, wenn nicht etwas in der Natur des Schlafzustandes ihn begünstigt hätte. Die psychische Voraussetzung des Schlafens ist die Einstellung des Ichs auf den Schlafwunsch und die Abziehung der Besetzungen von allen Interessen des Lebens; da gleichzeitig die Zugänge zur Motilität gesperrt werden, kann das Ich auch den Aufwand herabsetzen, mit dem es sonst die Verdrängungen aufrecht hält. Diesen nächtlichen Nachlaß der Verdrängung macht sich die unbewußte Regung zunutze, um mit dem Traum zum Bewußtsein vorzudringen. Der Verdrängungswiderstand des Ichs ist aber auch im Schlafe nicht aufgehoben, sondern bloß herabgesetzt worden. Ein Rest von ihm ist als Traumzensur verblieben und verbietet nun der unbewußten Wunschregung, sich in den Formen zu äußern, die ihr eigentlich angemessen wären. Infolge der Strenge der Traumzensur müssen sich die latenten Traumgedanken Abänderungen und Abschwächungen gefallen lassen, die den verpönten Sinn des Traumes unkenntlich machen. Dies ist die Erklärung der Traumentstellung, welcher der manifeste Traum seine auffälligsten Charaktere verdankt. Daher die Berechtigung des Satzes: der Traum sei die (verkappte)

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Erfüllung eines (verdrängten) Wunsches. Wir erkennen schon jetzt, daß der Traum gebaut ist wie ein neurotisches Symptom, er ist eine Kompromißbildung zwischen dem Anspruch einer verdrängten Triebregung und dem Widerstand einer zensurierenden Macht im Ich. Infolge der gleichen Genese ist er auch ebenso unverständlich wie das Symptom und in gleicher Weise der Deutung bedürftig.
Die allgemeine Funktion des Träumens ist leicht aufzufinden. Es dient dazu, um äußere oder innere Reize, welche zum Erwachen auffordern würden, durch eine Art von Beschwichtigung abzuwehren und so den Schlaf gegen Störung zu versichern. Der äußere Reiz wird abgewehrt, indem er umgedeutet und in irgendeine harmlose Situation verwoben wird; den inneren Reiz des Triebanspruchs läßt der Schläfer gewähren und gestattet ihm die Befriedigung durch die Traumbildung, solange sich die latenten Traumgedanken der Bändigung durch die Zensur nicht entziehen. Droht aber diese Gefahr und wird der Traum allzu deutlich, so bricht der Schläfer den Traum ab und wacht erschreckt auf (Angsttraum). Dasselbe Versagen der Traumfunktion tritt ein, wenn der äußere Reiz so stark wird, daß er sich nicht mehr abweisen läßt (Wecktraum). Den Prozeß, welcher unter Mitwirkung der Traumzensur die latenten Gedanken in den manifesten Trauminhalt überführt, habe ich die Traumarbeit genannt. Er besteht in einer eigenartigen Behandlung des vorbewußten Gedankenmaterials, bei welcher dessen Bestandteile verdichtet, seine psychischen Akzente verschoben, das Ganze dann in visuelle Bilder umgesetzt, dramatisiert, und durch eine mißverständliche sekundäre Bearbeitung ergänzt wird. Die Traumarbeit ist ein ausgezeichnetes Muster der Vorgänge in den tieferen, unbewußten Schichten des Seelenlebens, welche sich von den uns bekannten normalen Denkvorgängen erheblich unterscheiden. Sie bringt auch eine Anzahl archaischer Züge zum Vorschein, z. B. die Verwendung einer hier vorwiegend sexuellen Symbolik, die man dann auf anderen Gebieten geistiger Tätigkeit wiedergefunden hat.

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Indem sich die unbewußte Triebregung des Traumes mit einem Tagesrest, einem unerledigten Interesse des Wachlebens, in Verbindung setzt, verschafft sie dem von ihr gebildeten Traume einen zweifachen Wert für die analytische Arbeit. Der gedeutete Traum erweist sich ja einerseits als die Erfüllung eines verdrängten Wunsches, anderseits kann er die vorbewußte Denktätigkeit des Tages fortgesetzt und sich mit beliebigem Inhalt erfüllt haben, einem Vorsatz, einer Warnung, Überlegung und wiederum einer Wunscherfüllung Ausdruck geben. Die Analyse verwertet ihn nach beiden Richtungen, sowohl für die Kenntnis der bewußten wie der unbewußten Vorgänge beim Analysierten. Auch zieht sie aus dem Umstande Vorteil, daß dem Traume der vergessene Stoff des Kindheitslebens zugänglich ist, so daß die infantile Amnesie zumeist im Anschluß an die Deutung von Träumen überwunden wird. Der Traum leistet hier ein Stück von dem, was früher der Hypnose auferlegt war. Dagegen habe ich nie die mir oft zugeschriebene Behauptung aufgestellt, die Traumdeutung ergebe, daß alle Träume sexuellen Inhalt haben oder auf sexuelle Triebkräfte zurückgehen. Es ist leicht zu sehen, daß Hunger, Durst und Exkretionsdrang ebensogut Befriedigungsträume erzeugen wie irgendeine verdrängte sexuelle oder egoistische Regung. Bei kleinen Kindern stellt sich eine bequeme Probe auf die Richtigkeit unserer Traumtheorie zur Verfügung. Hier, wo die verschiedenen psychischen Systeme noch nicht scharf gesondert, die Verdrängungen noch nicht tiefer ausgebildet sind, erfährt man häufig von Träumen, die nichts anderes sind als unverhüllte Erfüllungen irgendwelcher vom Tage erübrigten Wunschregungen. Unter dem Einfluß imperativer Bedürfnisse können auch Erwachsene solche Träume vom infantilen Typus produzieren. (1)
In ähnlicher Weise wie der Traumdeutung bedient sich die Analyse des Studiums der so häufigen kleinen Fehlleistungen und Symptomhandlungen der Menschen, denen ich eine 1904 zuerst als Buch veröffentlichte Untersuchung “Zur Psychopathologie des

Editorische Anmerkung psyalpha: In den GW XIV findet sich folgende Fußnote:

„1) Zusatz aus dem Jahre 1935: Wenn man das so häufige Mißlingen der Traumfunktion berücksichtigt, kann man den Traum zutreffend charakterisieren als einen Versuch zur Wunscherfüllung. Unbestritten bleibt die alte Definition des Traums durch Aristoteles als das Seelenleben während des Schlafes. Es ist nicht ohne Sinn, daß ich mein Buch nicht den “Traum” betitelt habe, sondern die “Traumdeutung”.“

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Alltagslebens” gewidmet habe. Den Inhalt dieses vielgelesenen Werkes bildet der Nachweis, daß diese Phänomene nichts Zufälliges sind, daß sie über physiologische Erklärungen hinausgehen, sinnvoll und deutbar sind und zum Schluß auf zurückgehaltene oder verdrängte Regungen und Intentionen berechtigen. Der überragende Wert der Traumdeutung wie dieser Studie liegt aber nicht in der Unterstützung, die sie der analytischen Arbeit leihen, sondern in einer anderen Eigenschaft derselben. Bisher hatte die Psychoanalyse sich nur mit der Auflösung pathologischer Phänomene beschäftigt und zu deren Erklärung oft Annahmen machen müssen, deren Tragweite außer Verhältnis zur Wichtigkeit des behandelten Stoffes stand. Der Traum aber, den sie dann in Angriff nahm, war kein krankhaftes Symptom, er war ein Phänomen des normalen Seelenlebens, konnte sich bei jedem gesunden Menschen ereignen. Wenn der Traum so gebaut ist wie ein Symptom, wenn seine Erklärung die nämlichen Annahmen erfordert, die der Verdrängung von Triebregungen, der Ersatz- und Kompromißbildung, der verschiedenen psychischen Systeme zur Unterbringung des Bewußten und Unbewußten, dann ist die Psychoanalyse nicht mehr eine Hilfswissenschaft der Psychopathologie, dann ist sie vielmehr der Ansatz zu einer neuen und gründlicheren Seelenkunde, die auch für das Verständnis des Normalen unentbehrlich wird. Man darf ihre Voraussetzungen und Ergebnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen; der Weg ins Weite, zum Weltinteresse, ist ihr eröffnet.

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V

Ich unterbreche die Darstellung vom inneren Wachstum der Psychoanalyse und wende mich ihren äußeren Schicksalen zu. Was ich von ihrem Erwerb bisher mitgeteilt habe, war in großen Zügen der Erfolg meiner Arbeit, ich habe aber in den Zusammenhang auch spätere Ergebnisse eingetragen und die Beiträge meiner Schüler und Anhänger nicht von den eigenen gesondert.
Durch mehr als ein Jahrzehnt nach der Trennung von Breuer hatte ich keine Anhänger. Ich stand völlig isoliert. In Wien wurde ich gemieden, das Ausland nahm von mir keine Kenntnis. Die “Traumdeutung”, 1900, wurde in den Fachzeitschriften kaum referiert. Im Aufsatz “Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung” habe ich als Beispiel für die Einstellung der psychiatrischen Kreise in Wien ein Gespräch mit einem Assistenten mitgeteilt, der ein Buch gegen meine Lehren geschrieben, aber die “Traumdeutung” nicht gelesen hatte. Man hatte ihm auf der Klinik gesagt, es lohne nicht der Mühe. Der Betreffende, seither Extraordinarius geworden, hat sich gestattet, den Inhalt jener Unterredung zu verleugnen und überhaupt die Treue meiner Erinnerung anzuzweifeln. Ich halte jedes Wort meines damaligen Berichts aufrecht.
Als ich verstanden hatte, mit welchen Notwendigkeiten ich zusammengestoßen war, ließ meine Empfindlichkeit sehr nach. Allmählich fand auch die Isolierung ein Ende. Zuerst sammelte

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 74

sich in Wien ein kleiner Kreis von Schülern um mich; nach 1906 erfuhr man, daß sich die Psychiater in Zürich, E. Bleuler, sein Assistent C. G. Jung und andere lebhaft für die Psychoanalyse interessierten. Persönliche Beziehungen knüpften sich an, zu Ostern 1908 trafen sich die Freunde der jungen Wissenschaft in Salzburg, verabredeten die regelmäßige Wiederholung solcher Privatkongresse und die Herausgabe einer Zeitschrift, die unter dem Titel “Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen” von Jung redigiert wurde. Herausgeber waren Bleuler und ich; sie wurde dann mit Beginn des Weltkrieges eingestellt. Gleichzeitig mit dem Anschluß der Schweizer war auch überall in Deutschland das Interesse für die Psychoanalyse erwacht, sie wurde der Gegenstand zahlreicher literarischer Äußerungen und lebhafter Diskussion auf wissenschaftlichen Kongressen. Die Aufnahme war nirgends eine freundliche oder wohlwollend zuwartende. Nach kürzester Bekanntschaft mit der Psychoanalyse war die deutsche Wissenschaft in ihrer Verwerfung einig.
Ich kann natürlich auch heute nicht wissen, welches das endgültige Urteil der Nachwelt über den Wert der Psychoanalyse für Psychiatrie, Psychologie und die Geisteswissenschaften überhaupt sein wird. Aber ich meine, wenn die Phase, die wir durchlebt haben, einmal ihren Geschichtsschreiber findet, wird dieser zugestehen müssen, daß das Verhalten ihrer damaligen Vertreter nicht rühmlich für die deutsche Wissenschaft war. Ich beziehe mich dabei nicht auf die Tatsache der Ablehnung oder auf die Entschiedenheit, mit der sie geschah; beides war leicht zu verstehen, entsprach nur der Erwartung und konnte wenigstens keinen Schatten auf den Charakter der Gegner werfen. Aber für das Ausmaß von Hochmut und gewissenloser Verschmähung der Logik, für die Roheit und Geschmacklosigkeit der Angriffe gibt es keine Entschuldigung. Man kann mir vorhalten, es sei kindisch, noch nach fünfzehn Jahren solcher Empfindlichkeit freien Lauf zu geben; ich würde es auch nicht tun, wenn ich nicht noch etwas anderes hinzuzufügen hätte. Jahre

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 75

später, als während des Weltkrieges ein Chor von Feinden gegen die deutsche Nation den Vorwurf der Barbarei erhob, in dem all das Erwähnte zusammentrifft, schmerzte es doch tief, daß man aus eigener Erfahrung dem nicht widersprechen konnte.
Einer der Gegner rühmte sich laut, daß er seinen Patienten den Mund verbiete, wenn sie von sexuellen Dingen zu sprechen beginnen, und leitete aus dieser Technik offenbar ein Recht ab, über die ätiologische Rolle der Sexualität bei den Neurosen zu urteilen. Abgesehen von den affektiven Widerständen, die sich nach der psychoanalytischen Theorie so leicht erklärten, daß sie uns nicht irre machen konnten, schien mir das Haupthindernis der Verständigung in dem Umstand zu liegen, daß die Gegner in der Psychoanalyse ein Produkt meiner spekulativen Phantasie sahen und nicht an die lange, geduldige, voraussetzungslose Arbeit glauben wollten, die zu ihrem Aufbau aufgewendet worden war. Da nach ihrer Meinung die Analyse nichts mit Beobachtung und Erfahrung zu tun hatte, hielten sie sich auch für berechtigt, sie ohne eigene Erfahrung zu verwerfen. Andere, die sich solcher Überzeugung nicht so sicher fühlten, wiederholten das klassische Widerstandsmanöver, nicht ins Mikroskop zu gucken, um das nicht zu sehen, was sie bestritten hatten. Es ist überhaupt merkwürdig, wie inkorrekt sich die meisten Menschen benehmen, wenn sie in einer neuen Sache auf ihr eigenes Urteil gestellt sind. Durch viele Jahre und auch heute noch bekam ich von “wohlwollenden” Kritikern zu hören, so und so weit habe die Psychoanalyse Recht, aber an dem Punkte beginne ihr Übermaß, ihre unberechtigte Verallgemeinerung. Dabei weiß ich, daß nichts schwieriger ist als über eine solche Abgrenzung zu entscheiden, und daß die Kritiker selbst bis vor wenigen Tagen oder Wochen in voller Unkenntnis der Sache gewesen waren.
Das offizielle Anathema gegen die Psychoanalyse hatte zur Folge, daß sich die Analytiker enger zusammenschlossen. Auf dem zweiten Kongreß zu Nürnberg 1910 organisierten sie sich auf Vorschlag von S. Ferenczi zu einer “Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung”, die in Ortsgruppen zerfiel und unter der Leitung eines Präsidenten stand. Diese Vereinigung hat den Weltkrieg überstanden, sie besteht heute noch und umfaßt die Ortsgruppen Wien, Berlin, Budapest, Zürich, London, Holland, New York, Pan-Amerika, Moskau und Kalkutta. Zum ersten Präsidenten ließ ich C. G. Jung wählen,

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ein recht unglücklicher Schritt, wie sich später herausstellte. Die Psychoanalyse erwarb damals ein zweites Journal, das “Zentralblatt für Psychoanalyse”, redigiert von Adler und Stekel und bald darauf ein drittes, die “Imago”, von den Nichtärzten H. Sachs und O. Rank für die Anwendungen der Analyse auf die Geisteswissenschaften bestimmt. Bald darauf veröffentlichte Bleuler seine Schrift zur Verteidigung der Psychoanalyse (“Die Psychoanalyse Freuds” 1910). So erfreulich es war, daß in dem Streit einmal auch Gerechtigkeit und ehrliche Logik zu Worte kamen, so konnte mich die Arbeit Bleulers doch nicht völlig befriedigen. Sie strebte zu sehr nach dem Anschein der Unparteilichkeit; es war kein Zufall, daß man gerade ihrem Autor die Einführung des wertvollen Begriffes der Ambivalenz in unsere Wissenschaft zu danken hatte. In späteren Aufsätzen hat Bleuler sich so ablehnend gegen das analytische Lehrgebäude verhalten, so wesentliche Stücke desselben bezweifelt oder verworfen, daß ich mich verwundert fragen konnte, was für seine Anerkennung davon erübrige. Und doch hat er auch später nicht nur die herzhaftesten Äußerungen zugunsten der “Tiefenpsychologie” getan, sondern auch seine großangelegte Darstellung der Schizophrenien auf sie begründet. Bleuler verblieb übrigens nicht lange in der “Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung”, er verließ sie infolge von Mißhelligkeiten mit Jung und das “Burghölzli” ging der Analyse verloren.
Der offizielle Widerspruch konnte die Ausbreitung der Psychoanalyse weder in Deutschland noch in den anderen Ländern aufhalten. Ich habe an anderer Stelle (“Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung”) die Etappen ihres Fortschrittes verfolgt und dort auch die Männer genannt, die sich als ihre Vertreter hervortaten. Im Jahre 1909 waren Jung und ich von G. Stanley Hall nach Amerika berufen worden, um dort an der Clark University, Worcester, Mass., deren Präsident er war, zur zwanzigjährigen Gründungsfeier des Instituts eine Woche lang Vorlesungen (in deutscher Sprache) zu halten. Hall war ein mit Recht angesehener

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Psycholog und Pädagog, der die Psychoanalyse schon seit Jahren in seinen Unterricht einbezogen hatte; es war etwas vom “Königsmacher” in ihm, dem es gefiel, Autoritäten ein- und wieder abzusetzen. Wir trafen dort auch James J. Putnam, den Neurologen von Harvard, der sich trotz seines Alters für die Psychoanalyse begeisterte und mit dem ganzen Gewicht seiner allgemein respektierten Persönlichkeit für ihren kulturellen Wert und die Reinheit ihrer Absichten eintrat. An dem ausgezeichneten Manne, der in Reaktion auf eine zwangsneurotische Anlage vorwiegend ethisch orientiert war, störte uns nur die Zumutung, die Psychoanalyse an ein bestimmtes philosophisches System anzuschließen und in den Dienst moralischer Bestrebungen zu stellen. Auch eine Zusammenkunft mit dem Philosophen William James hinterließ mir einen bleibenden Eindruck. Ich kann nicht die kleine Szene vergessen, wie er auf einem Spaziergang plötzlich stehen blieb, mir seine Handtasche übergab und mich bat vorauszugehen, er werde nachkommen, sobald er den herannahenden Anfall von Angina pectoris abgemacht habe. Er starb ein Jahr später am Herzen; ich habe mir seither immer eine ähnliche Furchtlosigkeit angesichts des nahen Lebensendes gewünscht.
Damals war ich erst 53 Jahre alt, fühlte mich jugendlich und gesund, der kurze Aufenthalt in der Neuen Welt tat meinem Selbstgefühl überhaupt wohl; in Europa fühlte ich mich wie geächtet, hier sah ich mich von den Besten wie ein Gleichwertiger aufgenommen. Es war wie die Verwirklichung eines unglaubwürdigen Tagtraumes, als ich in Worcester den Katheder bestieg, um meine “Fünf Vorlesungen über Psychoanalyse” abzuhalten. Die Psychoanalyse war also kein Wahngebilde mehr, sie war zu einem wertvollen Stück der Realität geworden. Sie hat auch den Boden in Amerika seit unserem Besuch nicht mehr verloren, sie ist unter den Laien ungemein populär und wird von vielen offiziellen Psychiatern als wichtiger Bestandteil des medizinischen Unterrichts anerkannt. Leider hat sie dort auch viel Verwässerung erfahren. Mancher

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Mißbrauch, der nichts mit ihr zu tun hat, deckt sich mit ihrem Namen, es fehlt an Gelegenheiten zu gründlicher Ausbildung in Technik und Theorie. Auch stößt sie in Amerika mit dem Behaviourism zusammen, der sich in seiner Naivität rühmt, das psychologische Problem überhaupt ausgeschaltet zu haben.
In Europa vollzogen sich in den Jahren 1911-1913 zwei Abfallsbewegungen von der Psychoanalyse, eingeleitet von Personen, die bisher eine ansehnliche Rolle in der jungen Wissenschaft gespielt hatten, die von Alfred Adler und von C. G. Jung. Beide sahen recht gefährlich aus und gewannen rasch eine große Anhängerschaft. Ihre Stärke dankten sie aber nicht dem eigenen Gehalt, sondern der Verlockung, von den anstößig empfundenen Resultaten der Psychoanalyse frei zu kommen, auch wenn man ihr tatsächliches Material nicht mehr verleugnete. Jung versuchte eine Umdeutung der analytischen Tatsachen ins Abstrakte, Unpersönliche und Unhistorische, wodurch er sich die Würdigung der infantilen Sexualität und des Ödipus-Komplexes sowie die Notwendigkeit der Kindheitsanalyse zu ersparen hoffte. Adler schien sich noch weiter von der Psychoanalyse zu entfernen, er verwarf die Bedeutung der Sexualität überhaupt, führte Charakter- wie Neurosenbildung ausschließlich auf das Machtstreben der Menschen und ihr Bedürfnis nach Kompensation ihrer konstitutionellen Minderwertigkeiten zurück und schlug alle psychologischen Neuerwerbungen der Psychoanalyse in den Wind. Doch hat das von ihm Verworfene sich unter geändertem Namen die Aufnahme in sein geschlossenes System erzwungen; sein “männlicher Protest” ist nichts anderes als die zu Unrecht sexualisierte Verdrängung. Die Kritik begegnete beiden Häretikern mit großer Milde; ich konnte nur erreichen, daß Adler wie Jung darauf verzichteten, ihre Lehren “Psychoanalyse” zu heißen. Man kann heute, nach einem Jahrzehnt, feststellen, daß beide Versuche an der Psychoanalyse schadlos vorübergegangen sind.

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Punkten begründet ist, wird es selbstverständlich, daß diejenigen aus ihr ausscheiden, welche diesen gemeinsamen Boden aufgegeben haben. Doch hat man häufig den Abfall früherer Schüler als Zeichen meiner Intoleranz mir zur Schuld angerechnet oder den Ausdruck eines besonderen auf mir lastenden Verhängnisses darin gesehen. Es genüge dagegen, darauf hinzuweisen, daß denen, die mich verlassen haben, wie Jung, Adler, Stekel und wenige andere, eine große Anzahl von Personen gegenübersteht, die, wie Abraham, Eitingon, Ferenczi, Rank, Jones, Brill, Sachs, Pfarrer Pfister, van Emden, Reik u. a. seit etwa fünfzehn Jahren mir in treuer Mitarbeiterschaft, meist auch in ungetrübter Freundschaft anhängen. Ich habe nur die ältesten meiner Schüler hier genannt, die sich bereits einen rühmlichen Namen in der Literatur der Psychoanalyse geschaffen haben, die Übergehung anderer soll keine Zurücksetzung bedeuten und gerade unter den jungen und spät hinzugekommenen befinden sich Talente, auf die man große Hoffnungen setzen darf. Aber ich darf wohl für mich geltend machen, daß ein intoleranter und vom Unfehlbarkeitsdünkel beherrschter Mensch niemals eine so große Schar geistig bedeutender Personen an sich hätte fesseln können, zumal wenn er über nicht mehr praktische Verlockungen verfügte als ich.
Der Weltkrieg, der so viel andere Organisationen zerstört hat, konnte unserer “Internationalen” nichts anhaben. Die erste Zusammenkunft nach dem Kriege fand 1920 im Haag statt, auf neutralem Boden. Es war rührend, wie holländische Gastfreundschaft sich der verhungerten und verarmten Mitteleuropäer annahm, es geschah auch meines Wissens damals zum ersten Male in einer zerstörten Welt, daß Engländer und Deutsche sich wegen wissenschaftlicher Interessen freundschaftlich an denselben Tisch setzten. Der Krieg hatte sogar in Deutschland wie in den westlichen Ländern das Interesse an der Psychoanalyse gesteigert. Die Beobachtung der Kriegsneurotiker hatte den Ärzten endlich die Augen über die Bedeutung der Psychogenese für neurotische Störungen geöffnet, einige

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unserer psychologischen Konzeptionen, der “Krankheitsgewinn”, die “Flucht in die Krankheit” wurden rasch populär. Zum letzten Kongreß vor dem Zusammenbruch, Budapest 1918, hatten die verbündeten Regierungen der Mittelmächte offizielle Vertreter geschickt, welche die Einrichtung psychoanalytischer Stationen zur Behandlung der Kriegsneurotiker zusagten. Es kam nicht mehr dazu. Auch weitausgreifende Pläne eines unserer besten Mitglieder, des Dr. Anton von Freund, welche in Budapest eine Zentrale für analytische Lehre und Therapie schaffen wollten, scheiterten an den bald darauf erfolgenden politischen Umwälzungen und dem frühen Tod des unersetzlichen Mannes. Einen Teil seiner Anregungen verwirklichte später Max Eitingon, indem er 1920 in Berlin eine psychoanalytische Poliklinik schuf. Während der kurzen Dauer der bolschewistischen Herrschaft in Ungarn konnte Ferenczi noch eine erfolgreiche Lehrtätigkeit als offizieller Vertreter der Psychoanalyse an der Universität entfalten. Nach dem Kriege gefiel es unseren Gegnern zu verkünden, daß die Erfahrung ein schlagendes Argument gegen die Richtigkeit der analytischen Behauptungen ergeben habe. Die Kriegsneurosen hätten den Beweis für die Überflüssigkeit sexueller Momente in der Ätiologie neurotischer Affektionen geliefert. Allein das war ein leichtfertiger und voreiliger Triumph. Denn einerseits hatte niemand die gründliche Analyse eines Falles von Kriegsneurose durchführen können, man wußte also einfach nichts Sicheres über deren Motivierung und durfte doch aus solcher Unwissenheit keinen Schluß ziehen. Anderseits aber hatte die Psychoanalyse längst den Begriff des Narzißmus und der narzißtischen Neurose gewonnen, der die Anheftung der Libido an das eigene Ich, an Stelle eines Objekts, zum Inhalt hatte. Das heißt also, man machte sonst der Psychoanalyse zum Vorwurf, daß sie den Begriff der Sexualität ungebührlich erweitert habe; wenn man es aber in der Polemik bequem fand, vergaß man an dieses ihr Vergehen und hielt ihr wiederum die Sexualität im engsten Sinne vor.
Die Geschichte der Psychoanalyse zerfällt für mich in zwei Abschnitte,

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von der kathartischen Vorgeschichte abgesehen. Im ersten stand ich allein und hatte alle Arbeit selbst zu tun, so war es von 1895/96 an bis 1906 oder 1907. Im zweiten Abschnitt, von da an bis zum heutigen Tage, haben die Beiträge meiner Schüler und Mitarbeiter immer mehr an Bedeutung gewonnen, so daß ich jetzt, durch schwere Erkrankung an das nahe Ende gemahnt, mit innerer Ruhe an das Aufhören meiner eigenen Leistung denken kann. Gerade dadurch schließt es sich aber aus, daß ich in dieser “Selbstdarstellung” die Fortschritte der Psychoanalyse im zweiten Zeitabschnitt mit solcher Ausführlichkeit behandle wie deren allmählichen Aufbau im ersten, der allein von meiner Tätigkeit ausgefüllt ist. Ich fühle mich nur berechtigt, hier jene Neuerwerbungen zu erwähnen, an denen ich noch einen hervorragenden Anteil hatte, also vor allem die auf dem Gebiet des Narzißmus, der Trieblehre und der Anwendung auf die Psychosen.
Ich habe nachzutragen, daß mit zunehmender Erfahrung der Ödipus-Komplex sich immer deutlicher als der Kern der Neurose herausstellte. Er war sowohl der Höhepunkt des infantilen Sexuallebens wie auch der Knotenpunkt, von dem alle späteren Entwicklungen ausgingen. Damit schwand aber die Erwartung, durch die Analyse ein für die Neurose spezifisches Moment aufzudecken. Man mußte sich sagen, wie es Jung in seiner analytischen Frühzeit treffend auszudrücken verstand, daß die Neurose keinen besonderen, ihr ausschließlich eigenen Inhalt habe, und daß die Neurotiker an den nämlichen Dingen scheitern, welche von den Normalen glücklich bewältigt werden. Diese Einsicht bedeutete durchaus keine Enttäuschung. Sie stand im besten Einklang mit jener anderen, daß die durch die Psychoanalyse gefundene Tiefenpsychologie eben die Psychologie des normalen Seelenlebens war. Es war uns ebenso ergangen wie den Chemikern; die großen qualitativen Verschiedenheiten der Produkte führten sich auf quantitative Abänderungen in den Kombinationsverhältnissen der nämlichen Elemente zurück.

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 82

Im Ödipus-Komplex zeigte sich die Libido an die Vorstellung der elterlichen Personen gebunden. Aber es hatte vorher eine Zeit ohne alle solche Objekte gegeben. Daraus ergab sich die für eine Libidotheorie grundlegende Konzeption eines Zustandes, in dem die Libido das eigene Ich erfüllt, dieses selbst zum Objekt genommen hat. Diesen Zustand konnte man “Narzißmus” oder Selbstliebe nennen. Die nächsten Überlegungen sagten, daß er eigentlich nie völlig aufgehoben wird; für die ganze Lebenszeit bleibt das Ich das große Libidoreservoir, aus welchem Objektbesetzungen ausgeschickt werden, in welches die Libido von den Objekten wieder zurückströmen kann. Narzißtische Libido setzt sich also fortwährend in Objektlibido um und umgekehrt. Ein ausgezeichnetes Beispiel davon, welches Ausmaß diese Umsetzung erreichen kann, zeigt uns die bis zur Selbstaufopferung reichende sexuelle oder sublimierte Verliebtheit. Während man bisher im Verdrängungsprozeß nur dem Verdrängten Aufmerksamkeit geschenkt hatte, ermöglichten diese Vorstellungen, auch das Verdrängende richtig zu würdigen. Man hatte gesagt, die Verdrängung werde von den im Ich wirksamen Selbsterhaltungstrieben (“Ichtrieben”) ins Werk gesetzt und an den libidinösen Trieben vollzogen. Nun, da man die Selbsterhaltungstriebe auch als libidinöser Natur, als narzißtische Libido, erkannte, erschien der Verdrängungsvorgang als ein Prozeß innerhalb der Libido selbst; narzißtische Libido stand gegen Objektlibido, das Interesse der Selbsterhaltung wehrte sich gegen den Anspruch der Objektliebe, also auch gegen den der engeren Sexualität.
Kein Bedürfnis wird in der Psychologie dringender empfunden, als nach einer tragfähigen Trieblehre, auf welcher man weiterbauen kann. Allein nichts dergleichen ist vorhanden, die Psychoanalyse muß sich in tastenden Versuchen um eine Trieblehre bemühen. Sie stellte zuerst den Gegensatz von Ichtrieben (Selbsterhaltung, Hunger) und von libidinösen Trieben (Liebe) auf, ersetzte ihn dann durch den neuen von narzißtischer und Objektlibido. Damit war offenbar das letzte Wort nicht gesprochen; biologische

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 83

Erwägungen schienen zu verbieten, daß man sich mit der Annahme einer einzigen Art von Trieben begnüge.
In den Arbeiten meiner letzten Jahre (“Jenseits des Lustprinzips”, “Massenpsychologie und Ich-Analyse”, “Das Ich und das Es”) habe ich der lange niedergehaltenen Neigung zur Spekulation freien Lauf gelassen und dort auch eine neue Lösung des Triebproblems ins Auge gefaßt. Ich habe Selbst- und Arterhaltung unter den Begriff des Eros zusammengefaßt und ihm den geräuschlos arbeitenden Todes- oder Destruktionstrieb gegenübergestellt. Der Trieb wird ganz allgemein erfaßt als eine Art Elastizität des Lebenden, als ein Drang nach Wiederherstellung einer Situation, die einmal bestanden hatte und durch eine äußere Störung aufgehoben worden war. Diese im Wesen konservative Natur der Triebe wird durch die Erscheinungen des Wiederholungszwanges erläutert. Das Zusammen- und Gegeneinanderwirken von Eros und Todestrieb ergibt für uns das Bild des Lebens.
Es steht dahin, ob sich diese Konstruktion als brauchbar erproben wird. Sie ist zwar von dem Bestreben geleitet worden, einige der wichtigsten theoretischen Vorstellungen der Psychoanalyse zu fixieren, aber sie geht weit über die Psychoanalyse hinaus. Ich habe wiederholt die geringschätzige Äußerung gehört, man könne nichts von einer Wissenschaft halten, deren oberste Begriffe so unscharf wären wie die der Libido und des Triebes in der Psychoanalyse. Aber diesem Vorwurf liegt eine völlige Verkennung des Sachverhalts zugrunde. Klare Grundbegriffe und scharf umrissene Definitionen sind nur in den Geisteswissenschaften möglich, soweit diese ein Tatsachengebiet in den Rahmen einer intellektuellen Systembildung fassen wollen. In den Naturwissenschaften, zu denen die Psychologie gehört, ist solche Klarheit der Oberbegriffe überflüssig, ja unmöglich. Zoologie und Botanik haben nicht mit korrekten und zureichenden Definitionen von Tier und Pflanze begonnen, die Biologie weiß noch heute den Begriff des Lebenden nicht mit sicherem Inhalt zu erfüllen. Ja, selbst die Physik hätte ihre ganze Entwicklung versäumt,

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 84

wenn sie hätte abwarten müssen, bis ihre Begriffe von Stoff, Kraft, Gravitation und andere die wünschenswerte Klarheit und Präzision erreichten. Die Grundvorstellungen oder obersten Begriffe der naturwissenschaftlichen Disziplinen werden immer zunächst unbestimmt gelassen, vorläufig nur durch den Hinweis auf das Erscheinungsgebiet erläutert, dem sie entstammen, und können erst durch die fortschreitende Analyse des Beobachtungsmaterials klar, inhaltsreich und widerspruchsfrei werden.
Ich habe schon in früheren Phasen meiner Produktion den Versuch gemacht, von der psychoanalytischen Beobachtung aus allgemeinere Gesichtspunkte zu erreichen. 1911 betonte ich in einem kleinen Aufsatz “Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens” in gewiß nicht origineller Weise die Vorherrschaft des Lust-Unlustprinzips für das Seelenleben und dessen Ablösung durch das sogenannte “Realitätsprinzip”. Später wagte ich den Versuch einer “Metapsychologie”. Ich nannte so eine Weise der Betrachtung, in der jeder seelische Vorgang nach den drei Koordinaten der Dynamik, Topik und Ökonomie gewürdigt wird, und sah in ihr das äußerste Ziel, das der Psychologie erreichbar ist. Der Versuch blieb ein Torso, ich brach nach wenigen Abhandlungen (Triebe und Triebschicksale — Verdrängung — Das Unbewußte — Trauer und Melancholie usw.) ab und tat gewiß wohl daran, denn die Zeit für solche theoretische Festlegung war noch nicht gekommen. In meinen letzten spekulativen Arbeiten habe ich es unternommen, unseren seelischen Apparat auf Grund analytischer Verwertung der pathologischen Tatsachen zu gliedern und habe ihn in ein Ich, ein Es und ein Über-Ich zerlegt. (“Das Ich und das Es”, 1922.) Das Über-Ich ist der Erbe des Ödipus-Komplexes und der Vertreter der ethischen Anforderungen des Menschen.
Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte ich in dieser letzten Periode meiner Arbeit der geduldigen Beobachtung den Rücken gewendet und mich durchaus der Spekulation überlassen. Ich bin vielmehr immer

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 85

in inniger Berührung mit dem analytischen Material geblieben und habe die Bearbeitung spezieller, klinischer oder technischer Themata nie eingestellt. Auch wo ich mich von der Beobachtung entfernte, habe ich die Annäherung an die eigentliche Philosophie sorgfältig vermieden. Konstitutionelle Unfähigkeit hat mir solche Enthaltung sehr erleichtert. Ich war immer für die Ideen G. Th. Fechners zugänglich und habe mich auch in wichtigen Punkten an diesen Denker angelehnt. Die weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers — er hat nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt — lassen sich nicht auf meine Bekanntschaft mit seiner Lehre zurückführen. Ich habe Schopenhauer sehr spät im Leben gelesen. Nietzsche, den anderen Philosophen, dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit.
Die Neurosen waren das erste, lange Zeit auch das einzige, Objekt der Analyse gewesen. Keinem Analytiker blieb es zweifelhaft, daß die medizinische Praxis unrecht hat, welche diese Affektionen von den Psychosen fern hält und an die organischen Nervenleiden anschließt. Die Neurosenlehre gehört zur Psychiatrie, ist unentbehrlich zur Einführung in dieselbe. Nun scheint das analytische Studium der Psychosen durch die therapeutische Aussichtslosigkeit einer solchen Bemühung ausgeschlossen. Den psychisch Kranken fehlt im allgemeinen die Fähigkeit zur positiven Übertragung, so daß das Hauptmittel der analytischen Technik unanwendbar ist. Aber es ergeben sich doch mancherlei Zugänge. Die Übertragung ist oft nicht so völlig abwesend, daß man nicht ein Stück weit mit ihr kommen könnte, bei zyklischen Verstimmungen, leichter paranoischer Veränderung, partieller Schizophrenie hat man unzweifelhafte Erfolge mit der Analyse erzielt. Es war auch wenigstens für die Wissenschaft ein Vorteil, daß in vielen Fällen die Diagnose längere Zeit zwischen der Annahme einer Psychoneurose und der einer Dementia praecox schwanken kann; der angestellte therapeutische Versuch konnte so wichtige Aufschlüsse bringen, ehe er abgebrochen werden

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 86

mußte. Am meisten kommt aber in Betracht, daß in den Psychosen so vieles für jedermann sichtbar an die Oberfläche gebracht wird, was man bei den Neurosen in mühsamer Arbeit aus der Tiefe heraufholt. Für viele analytische Behauptungen ergibt darum die psychiatrische Klinik die besten Demonstrationsobjekte. Es konnte also nicht ausbleiben, daß die Analyse bald den Weg zu den Objekten der psychiatrischen Beobachtung fand. Sehr frühzeitig (1896) habe ich an einem Fall von paranoider Demenz die gleichen ätiologischen Momente und das Vorhandensein der nämlichen affektiven Komplexe wie bei den Neurosen feststellen können. Jung hat rätselhafte Stereotypien bei Dementen durch Rückbeziehung auf die Lebensgeschichte der Kranken aufgeklärt; Bleuler bei verschiedenen Psychosen Mechanismen aufgezeigt, wie die durch Analyse bei den Neurotikern eruierten. Seither haben die Bemühungen der Analytiker um das Verständnis der Psychosen nicht mehr aufgehört. Besonders seitdem man mit dem Begriff des Narzißmus arbeitete, gelang es bald an dieser, bald an jener Stelle einen Blick über die Mauer zu tun. Am weitesten hat es wohl Abraham in der Aufklärung der Melancholien gebracht. Auf diesem Gebiet setzt sich zwar gegenwärtig nicht alles Wissen in therapeutische Macht um; aber auch der bloß theoretische Gewinn ist nicht gering anzuschlagen und mag gern auf seine praktische Verwendung warten. Auf die Dauer können auch die Psychiater der Beweiskraft ihres Krankenmaterials nicht widerstehen. Es vollzieht sich jetzt in der deutschen Psychiatrie eine Art von pénétration pacifique mit analytischen Gesichtspunkten. Unter unausgesetzten Beteuerungen, daß sie keine Psychoanalytiker sein wollen, nicht der “orthodoxen” Schule angehören, deren Übertreibungen nicht mitmachen, insbesondere aber an das übermächtige sexuelle Moment nicht glauben, machen doch die meisten der jüngeren Forscher dies oder jenes Stück der analytischen Lehre zu ihrem Eigen und wenden es in ihrer Weise auf das Material an. Alle Anzeichen deuten auf das Bevorstehen weiterer Entwicklungen nach dieser Richtung.

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 87

VI

Ich verfolge jetzt aus der Ferne, unter welchen Reaktionssymptomen sich der Einzug der Psychoanalyse in das lange refraktäre Frankreich vollzieht. Es wirkt wie eine Reproduktion von früher Erlebtem, hat aber doch auch seine besonderen Züge. Einwendungen von unglaublicher Einfalt werden laut, wie der, das französische Feingefühl nehme Anstoß an der Pedanterie und Plumpheit der psychoanalytischen Namengebungen (man muß dabei doch an Lessings unsterblichen Chevalier Riccaut de la Marliniere denken!). Eine andere Äußerung klingt ernsthafter; sie ist selbst einem Professor der Psychologie an der Sorbonne nicht unwürdig erschienen: das Génie latin vertrage überhaupt nicht die Denkungsart der Psychoanalyse. Dabei werden die anglosächsischen Alliierten, die als ihre Anhänger gelten, ausdrücklich preisgegeben. Wer das hört, muß natürlich glauben, das Génie teutonique habe die Psychoanalyse gleich nach ihrer Geburt als sein liebstes Kind ans Herz gedrückt.
In Frankreich ist das Interesse an der Psychoanalyse von den Männern der schönen Literatur ausgegangen. Um das zu verstehen, muß man sich erinnern, daß die Psychoanalyse mit der Traumdeutung die Grenzen einer rein ärztlichen Angelegenheit überschritten hat. Zwischen ihrem Auftreten in Deutschland und nun in Frankreich liegen ihre mannigfachen Anwendungen auf Gebiete der Literatur und Kunstwissenschaft, auf Religionsgeschichte und Prähistorie, auf Mythologie, Volkskunde, Pädagogik usw. Alle

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 88

diese Dinge haben mit der Medizin wenig zu tun, sind mit ihr eben nur durch die Vermittlung der Psychoanalyse verknüpft. Ich habe darum kein Anrecht, sie an dieser Stelle eingehend zu behandeln. Ich kann sie aber auch nicht ganz vernachlässigen, denn einerseits sind sie unerläßlich, um die richtige Vorstellung vom Wert und Wesen der Psychoanalyse zu geben, anderseits habe ich mich ja der Aufgabe unterzogen, mein eigenes Lebenswerk darzustellen. Von den meisten dieser Anwendungen gehen die Anfänge auf meine Arbeiten zurück. Hier und da habe ich wohl auch einen Schritt vom Wege getan, um ein solches außerärztliches Interesse zu befriedigen. Andere, nicht nur Ärzte, sondern auch Fachmänner, sind dann meiner Wegspur nachgefolgt und weit in die betreffenden Gebiete eingedrungen. Da ich mich aber meinem Programm gemäß auf den Bericht über meine eigenen Beiträge zur Anwendung der Psychoanalyse beschränken werde, kann ich dem Leser nur ein ganz unzureichendes Bild von deren Ausdehnung und Bedeutung ermöglichen.
Eine Reihe von Anregungen ging für mich vom Ödipus-Komplex aus, dessen Ubiquität ich allmählich erkannte. War schon immer die Wahl, ja die Schöpfung des grauenhaften Stoffes rätselhaft gewesen, die erschütternde Wirkung seiner poetischen Darstellung und das Wesen der Schicksalstragödie überhaupt, so erklärte sich dies alles durch die Einsicht, daß hier eine Gesetzmäßigkeit des seelischen Geschehens in ihrer vollen affektiven Bedeutung erfaßt worden war. Verhängnis und Orakel waren nur die Materialisationen der inneren Notwendigkeit; daß der Held ohne sein Wissen und gegen seine Absicht sündigte, verstand sich als der richtige Ausdruck der unbewußten Natur seiner verbrecherischen Strebungen. Vom Verständnis dieser Schicksalstragödie war dann nur ein Schritt bis zur Aufhellung der Charaktertragödie des Hamlet, die man seit dreihundert Jahren bewunderte, ohne ihren Sinn angeben und die Motive des Dichters erraten zu können. Es war doch merkwürdig, daß dieser vom Dichter erschaffene Neurotiker am Ödipus-Komplex

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 89

scheitert wie seine zahlreichen Gefährten in der realen Welt, denn Hamlet ist vor die Aufgabe gestellt, an einem anderen die beiden Taten zu rächen, die den Inhalt des Ödipusstrebens bilden, wobei ihm sein eigenes dunkles Schuldgefühl lähmend in den Arm fallen darf. Der Hamlet ist von Shakespeare sehr bald nach dem Tode seines Vaters geschrieben worden. (1 Meine Andeutungen zur Analyse dieses Trauerspiels haben später durch Ernest Jones eine gründliche Ausarbeitung erfahren. Dasselbe Beispiel nahm dann Otto Rank zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen über die Stoffwahl der dramatischen Dichter. In seinem großen Buche über das “Inzest-Motiv” konnte er zeigen, wie häufig die Dichter gerade die Motive der Ödipussituation zur Darstellung wählen und die Wandlungen, Abänderungen und Milderungen des Stoffes durch die Weltliteratur verfolgen.
Es lag nahe, von da aus die Analyse des dichterischen und künstlerischen Schaffens überhaupt in Angriff zu nehmen. Man erkannte, daß das Reich der Phantasie eine “Schonung” war, die beim schmerzlich empfundenen Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip eingerichtet wurde, um einen Ersatz für Triebbefriedigung zu gestatten, auf die man im wirklichen Leben hatte verzichten müssen. Der Künstler hatte sich wie der Neurotiker von der unbefriedigenden Wirklichkeit in diese Phantasiewelt zurückgezogen, aber anders als der Neurotiker verstand er den Rückweg aus ihr zu finden und in der Wirklichkeit wieder festen Fuß zu fassen. Seine Schöpfungen, die Kunstwerke, waren Phantasiebefriedigungen unbewußter Wünsche, ganz wie die Träume, mit denen sie auch den Charakter des Kompromisses gemein hatten, denn auch sie mußten den offenen Konflikt mit den Mächten der Verdrängung vermeiden. Aber zum Unterschied von den asozialen, narzißtischen Traumproduktionen waren sie auf die Anteilnahme anderer Menschen berechnet, konnten bei diesen die nämlichen unbewußten Wunschregungen beleben und befriedigen. Überdies bedienten sie sich der Wahrnehmungslust der Formschönheit als “Verlockungsprämie”.

Editorische Anmerkung psyalpha: In den GW XIV findet sich folgende Fußnote:

1) Fußnote zu Seite 90 dem Jahre 1935: Dies ist eine Konstruktion, die ich ausdrücklich zurücknehmen möchte. Ich glaube nicht mehr, daß der Schauspieler William Shakespeare aus Stratford der Verfasser der Werke ist, die ihm so lange zugeschrieben wurden. Seit der Veröffentlichung des Buches “Shakespeare Identified” von I. Th. Looney bin ich nahezu überzeugt davon, daß sich hinter diesem Decknamen tatsächlich Edward de Vere, Earl of Oxford, verbirgt.

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 31

Editorische Anmerkung psyalpha: An dieser Stelle ist in den GW XIV eine Abbildung eingefügt: „SIGM. FREUD. Nach einer Zeichnung von Prof. Ferdinand Schmutzer. (1926)“

Was die Psychoanalyse leisten konnte, war, aus der Aufeinanderbeziehung der Lebenseindrücke, zufälligen Schicksale, und der Werke des Künstlers seine Konstitution und die in ihr wirksamen Triebregungen, also das allgemein Menschliche an ihm, zu konstruieren. In solcher Absicht habe ich z. B. Leonardo da Vinci zum Gegenstand einer Studie genommen, die auf einer einzigen, von ihm mitgeteilten Kindheitserinnerung ruht und im wesentlichen auf die Erklärung seines Bildes “Die heilige Anna selbdritt” hinzielt. Meine Freunde und Schüler haben dann zahlreiche ähnliche Analysen an Künstlern und ihren Werken unternommen. Es ist nicht eingetroffen, daß der Genuß am Kunstwerk durch das so gewonnene analytische Verständnis geschädigt wird. Dem Laien, der aber hier vielleicht von der Analyse zu viel erwartet, muß eingestanden werden, daß sie auf zwei Probleme kein Licht wirft, die ihn wahrscheinlich am meisten interessieren. Die Analyse kann nichts zur Aufklärung der künstlerischen Begabung sagen und auch die Aufdeckung der Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, der künstlerischen Technik, fällt ihr nicht zu.
An einer kleinen, an sich nicht besonders wertvollen Novelle, der “Gradiva” von W. Jensen, konnte ich nachweisen, daß erdichtete Träume dieselben Deutungen zulassen wie reale, daß also in der Produktion des Dichters die uns aus der Traumarbeit bekannten Mechanismen des Unbewußten wirksam sind.
Mein Buch über den “Witz und seine Beziehung zum Unbewußten” ist direkt ein Seitensprung von der “Traumdeutung” her. Der einzige Freund, der damals an meinen Arbeiten Anteil nahm, hatte mir bemerkt, daß meine Traumdeutungen häufig einen “witzigen” Eindruck machten. Um diesen Eindruck aufzuklären, nahm ich die Untersuchung der Witze vor und fand, das Wesen des Witzes liege in seinen technischen Mitteln, diese seien aber dieselben wie die Arbeitsweisen der “Traumarbeit”, also Verdichtung, Verschiebung, Darstellung durch das Gegenteil, durch ein Kleinstes usw. Daran schloß sich die ökonomische Untersuchung, wie der

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 91

hohe Lustgewinn beim Hörer des Witzes zustande komme. Die Antwort war: durch momentane Aufhebung von Verdrängungsaufwand nach der Verlockung durch eine dargebotene Lustprämie (Vorlust).
Höher schätze ich selbst meine Beiträge zur Religionspsychologie ein, die 1907 mit der Feststellung einer überraschenden Ähnlichkeit zwischen Zwangshandlungen und Religionsübungen (Ritus) begannen. Ohne noch die tieferen Zusammenhänge zu kennen, bezeichnete ich die Zwangsneurose als eine verzerrte Privatreligion, die Religion sozusagen als eine universelle Zwangsneurose. Später, 1912, wurde der nachdrückliche Hinweis von Jung auf die weitgehenden Analogien zwischen den geistigen Produktionen der Neurotiker und der Primitiven mir zum Anlaß, meine Aufmerksamkeit diesem Thema zuzuwenden. In den vier Aufsätzen, welche zu einem Buch mit dem Titel “Totem und Tabu” zusammengefaßt wurden, führte ich aus, daß bei den Primitiven die Inzestscheu noch stärker ausgeprägt ist als bei den Kultivierten und ganz besondere Abwehrmaßregeln hervorgerufen hat, untersuchte die Beziehungen der Tabuverbote, in welcher Form die ersten Moraleinschränkungen auftreten, zur Gefühlsambivalenz, und deckte im primitiven Weltsystem des Animismus das Prinzip der Überschätzung der seelischen Realität, der “Allmacht der Gedanken” auf, welches auch der Magie zugrunde liegt. Überall wurde die Vergleichung mit der Zwangsneurose durchgeführt und gezeigt, wie viel von den Voraussetzungen des primitiven Geisteslebens bei dieser merkwürdigen Affektion noch in Kraft ist. Vor allem zog mich aber der Totemismus an, dies erste Organisationssystem primitiver Stämme, in dem die Anfänge sozialer Ordnung mit einer rudimentären Religion und der unerbittlichen Herrschaft einiger weniger Tabuverbote vereinigt sind. Das “verehrte” Wesen ist hier ursprünglich immer ein Tier, von dem der Clan auch abzustammen behauptet. Aus verschiedenen Anzeichen wird erschlossen, daß alle, auch die höchststehenden Völker, einst dieses Stadium des Totemismus durchgemacht haben.

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 92

Meine literarische Hauptquelle für die Arbeiten auf diesem Gebiete waren die bekannten Werke von J. G. Frazer (“Totemism and Exogamy”, “The Golden Bough”), eine Fundgrube wertvoller Tatsachen und Gesichtspunkte. Aber zur Aufklärung der Probleme des Totemismus leistete Frazer wenig; er hatte seine Ansicht über diesen Gegenstand mehrmals grundstürzend verändert und die anderen Ethnologen und Prähistoriker schienen ebenso unsicher als uneinig in diesen Dingen. Mein Ausgangspunkt war die auffällige Übereinstimmung der beiden Tabusatzungen des Totemismus, den Totem nicht zu töten und kein Weib des gleichen Totemclans geschlechtlich zu gebrauchen, mit den beiden Inhalten des Ödipus-Komplexes, den Vater zu beseitigen und die Mutter zum Weibe zu nehmen. Es ergab sich so die Versuchung, das Totemtier dem Vater gleichzustellen, wie es die Primitiven ohnedies ausdrücklich taten, indem sie es als den Ahnherrn des Clans verehrten. Von psychoanalytischer Seite kamen mir dann zwei Tatsachen zu Hilfe, eine glückliche Beobachtung Ferenczis am Kinde, welche gestattete, von einer infantilen Wiederkehr des Totemismus zu sprechen, und die Analyse der frühen Tierphobien der Kinder, welche so oft zeigte, daß dies Tier ein Vaterersatz war, auf welchen die im Ödipus-Komplex begründete Furcht vor dem Vater verschoben wurde. Es fehlte nun nicht mehr viel, um die Vatertötung als Kern des Totemismus und als Ausgangspunkt der Religionsbildung zu erkennen.
Dies fehlende Stück kam durch die Kenntnisnahme von W. Robertson Smith’s Werk “The Religion of the Semites” hinzu — der geniale Mann, Physiker und Bibelforscher, hatte als ein wesentliches Stück der Totemreligion die sogenannte Totemmahlzeit hingestellt. Einmal im Jahre wurde das sonst heilig gehaltene Totemtier feierlich unter Beteiligung aller Stammesgenossen getötet, verzehrt und dann betrauert. An diese Trauer schloß sich ein großes Fest an. Nahm ich die Darwinsche Vermutung hinzu, daß die Menschen ursprünglich in Horden lebten, deren jede unter der Herrschaft eines einzigen, starken, gewalttätigen und eifersüchtigen Männchens stand, so gestaltete sich mir aus all diesen Komponenten die Hypothese, oder ich möchte lieber sagen: die Vision, des folgenden Hergangs: Der Vater der Urhorde hatte als unumschränkter Despot alle Frauen für sich in Anspruch genommen, die als Rivalen gefährlichen Söhne getötet oder verjagt. Eines Tages aber taten sich diese Söhne zusammen, überwältigten, töteten und verzehrten ihn gemeinsam, der ihr Feind, aber auch ihr Ideal gewesen war. Nach der Tat waren sie außerstande, sein Erbe anzutreten, da einer dem anderen im Wege stand. Unter dem Einfluß

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 93

des Mißerfolges und der Reue lernten sie, sich miteinander zu vertragen, banden sich zu einem Brüderclan durch die Satzungen des Totemismus, welche die Wiederholung einer solchen Tat ausschließen sollten, und verzichteten insgesamt auf den Besitz der Frauen, um welche sie den Vater getötet hatten. Sie waren nun auf fremde Frauen angewiesen; dies der Ursprung der mit dem Totemismus eng verknüpften Exogamie. Die Totemmahlzeit war die Gedächtnisfeier der ungeheuerlichen Tat, von der das Schuldbewußtsein der Menschheit (die Erbsünde) herrührte, mit der soziale Organisation, Religion und sittliche Beschränkung gleichzeitig ihren Anfang nahmen.
Ob nun eine solche Möglichkeit als historisch anzunehmen ist oder nicht, die Religionsbildung war hiemit auf den Boden des Vaterkomplexes gestellt und über der Ambivalenz aufgebaut, welche diesen beherrscht. Nachdem der Vaterersatz durch das Totemtier verlassen war, wurde der gefürchtete und gehaßte, verehrte und beneidete Urvater selbst das Vorbild Gottes. Der Sohnestrotz und seine Vatersehnsucht rangen miteinander in immer neuen Kompromißbildungen, durch welche einerseits die Tat des Vatermordes gesühnt, anderseits deren Gewinn behauptet werden sollte. Ein besonders helles Licht wirft diese Auffassung der Religion auf die psychologische Fundierung des Christentums, in dem ja die Zeremonie der Totemmahlzeit noch wenig entstellt als Kommunion fortlebt. Ich will ausdrücklich bemerken, daß diese letztere Agnoszierung nicht von mir herrührt, sondern sich bereits bei Robertson Smith und Frazer findet.
Th. Reik und der Ethnologe G. Róheim haben in zahlreichen beachtenswerten Arbeiten an die Gedankengänge von “Totem und Tabu” angeknüpft, sie fortgeführt, vertieft oder berichtigt. Ich selbst bin später noch einige Male auf sie zurückgekommen, bei Untersuchungen über das “unbewußte Schuldgefühl”, dem auch unter den Motiven des neurotischen Leidens eine so große Bedeutung zukommt, und bei Bemühungen, die soziale Psychologie enger an die Psychologie des Individuums zu binden (“Das Ich und das Es” — “Massenpsychologie und Ich-Analyse”). Auch zur Erklärung der

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 94

Hypnotisierbarkeit habe ich die archaische Erbschaft aus der Urhordenzeit der Menschen herangezogen.
Gering ist mein direkter Anteil an anderen Anwendungen der Psychoanalyse, die doch des allgemeinsten Interesses würdig sind. Von den Phantasien des einzelnen Neurotikers führt ein breiter Weg zu den Phantasieschöpfungen der Massen und Völker, wie sie in den Mythen, Sagen und Märchen zutage liegen. Die Mythologie ist das Arbeitsgebiet von Otto Rank geworden, die Deutung der Mythen, ihre Zurückführung auf die bekannten unbewußten Kindheitskomplexe, der Ersatz astraler Erklärungen durch menschliche Motivierung war in vielen Fällen der Erfolg seiner analytischen Bemühung. Auch das Thema der Symbolik hat zahlreiche Bearbeiter in meinen Kreisen gefunden. Die Symbolik hat der Psychoanalyse viel Feindschaften eingetragen; manche allzu nüchterne Forscher haben ihr die Anerkennung der Symbolik, wie sie sich aus der Deutung der Träume ergab, niemals verzeihen können. Aber die Analyse ist an der Entdeckung der Symbolik unschuldig, sie war auf anderen Gebieten längst bekannt und spielt dort (Folklore, Sage, Mythus) selbst eine größere Rolle als in der “Sprache des Traumes”.
Zur Anwendung der Analyse auf die Pädagogik habe ich persönlich nichts beigetragen; aber es war natürlich, daß die analytischen Ermittlungen über das Sexualleben und die seelische Entwicklung der Kinder die Aufmerksamkeit der Erzieher auf sich zogen und sie ihre Aufgaben in einem neuen Lichte sehen ließen. Als unermüdlicher Vorkämpfer dieser Richtung in der Pädagogik hat sich der protestantische Pfarrer O. Pfister in Zürich hervorgetan, der die Pflege der Analyse auch mit dem Festhalten an einer allerdings sublimierten Religiosität vereinbar fand; neben ihm Frau Dr. Hug-Hellmuth und Dr. S. Bernfeld in Wien sowie viele andere. (1) Aus der Verwendung der Analyse zur vorbeugenden Erziehung des gesunden und zur Korrektur des noch nicht neurotischen, aber in seiner Entwicklung entgleisten Kindes hat sich eine

Editorische Anmerkung psyalpha: In den GW XIV findet sich folgende Fußnote:

„1) Fußnot ezu Seite 95 aus dem Jahre 1935: Seither hat gerade die Kinderanalyse durch die Arbeiten von Frau Melanie Klein und meiner Tochter Anna Freud einen mächtigen Aufschwung gewonnen.“

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV die Seite 95

praktisch wichtige Folge ergeben. Es ist nicht mehr möglich, die Ausübung der Psychoanalyse den Ärzten vorzubehalten und die Laien von ihr auszuschließen. In der Tat ist der Arzt, der nicht eine besondere Ausbildung erfahren hat, trotz seines Diploms ein Laie in der Analyse und der Nichtarzt kann bei entsprechender Vorbereitung und gelegentlicher Anlehnung an einen Arzt auch die Aufgabe der analytischen Behandlung von Neurosen erfüllen.
Durch eine jener Entwicklungen, gegen deren Erfolg man sich vergebens sträuben würde, ist das Wort Psychoanalyse selbst mehrdeutig geworden. Ursprünglich die Bezeichnung eines bestimmten therapeutischen Verfahrens, ist es jetzt auch der Name einer Wissenschaft geworden, der vom Unbewußt-Seelischen. Diese Wissenschaft kann nur selten für sich allein ein Problem voll erledigen; aber sie scheint berufen, zu den verschiedensten Wissensgebieten wichtige Beiträge zu liefern. Das Anwendungsgebiet der Psychoanalyse reicht ebensoweit wie das der Psychologie, zu der sie eine Ergänzung von mächtiger Tragweite hinzufügt.
So kann ich denn, rückschauend auf das Stückwerk meiner Lebensarbeit, sagen, daß ich vielerlei Anfänge gemacht und manche Anregungen ausgeteilt habe, woraus dann in der Zukunft etwas werden soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein wird oder wenig. Aber ich darf die Hoffnung aussprechen, daß ich für einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe.

Editorische Anmerkung psyalpha: : In den GW XIV findet sich am Ende des Textes folgende Anmerkung: „ ‘Nachschrift 1935’ zur Selbstdarstellung ist im Band XVI enthalten. Anm. d. Herausgeber.“

Editorische Anmerkung psyalpha: Hier endet in den GW XIV der Text mit Seite 96

 

(Bearbeitet von Christine Diercks, 2010)