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Pfaller, Robert (2011): Über Heiterkeit und Wahrheit

Über Heiterkeit und Wahrheit
Univ.-Prof. Dr. Robert Pfaller   
Ordinarius für Philosophie, Universität für angewandte Kunst Wien

Lieber August Ruhs,
sehr geehrte Damen und Herren,

der
Satz, dass zwischen Heiterkeit und Wahrheit eine sehr enge Beziehung
besteht, ist in diesem Rahmen, wie ich vermute, alles andere als eine
gewagte Behauptung. Denn viele von Ihnen werden Vorträge oder
Vorlesungen von August Ruhs
besucht oder seine Texte gelesen haben, und dort konnten sie diesen Satz
bestätigt finden und ihn als gelebte Erfahrung, sozusagen am eigenen
Leib und nicht selten an den eigenen Lachmuskeln, verifizieren.
Darum
ist es hier zunächst viel weniger notwendig, diesen Satz zu behaupten
oder zu begründen, als vielmehr vor allem einmal in Erinnerung zu rufen,
wie ungewöhnlich dieser Satz ist - wie sehr die Behauptung, dass
Heiterkeit und Wahrheit zusammengehören, sich abhebt sowohl von den
geläufigsten philosophischen Grundannahmen als auch von den
verbreitetsten Habitusformen im aktuellen Wissenschaftsbetrieb.
Den
Eindruck, dass die Wahrheit, wenn schon nicht eine traurige Sache ist
(wie es das Sprichwort „traurig, aber wahr“ suggeriert), so doch
zumindest eine sehr ernste Sache, kann man leicht gewinnen, wenn man
bestimmten Philosophen oder Wissenschaftlern zuhört. Sie machen dann ein
sehr ernstes oder gar verbissenes Gesicht, werden beim Sprechen
mitunter fast feierlich - wobei sie sich freilich auch unter dem
Feierlichen wieder etwas sehr Ernstes, und nicht, wie es in anderen
Kulturen üblich ist, auch etwas Ausgelassenes, Heiteres vorstellen.
Dies
hat zur Folge, dass andere Philosophen oder Wissenschaftler, die ihre
Gedanken in heiterer und verständlicher Form darzustellen vermögen und
die darum in der Lage sind, auch ein außeruniversitäres Publikum zu
erreichen und zu begeistern, wie zum Beispiel Peter Sloterdijk oder
Slavoj Zizek, von ihren Kollegen oft alleine schon deshalb systematisch
aus der akademischen Welt verbannt werden. Was so lustig und populär
ist, so die verbreitete, freilich selten explizit ausgesprochene, aber
umso selbstverständlicher vorausgesetzte Grundauffassung, das könne doch
weder wahr noch auf der Höhe der Forschung sein.

Scheinbar in
Einklang mit solchen Auffassungen - die uns oft des Besten berauben, was
die wissenschaftliche Produktion hervorbringt und die die notwendige
Auseinandersetzung oft um Jahrzehnte verzögern oder sie räumlich um
Kontinente verschieben – scheinbar in Einklang damit befinden sich
bestimmte Bemerkungen Sigmund Freuds, der die Wissenschaft als
„Lossagung vom Lustprinzip“ begreift. Freud schreibt 1910:

„Die
Wissenschaft ist eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die
unserer psychischen Arbeit möglich ist.“ (Freud [1910h]: 187)

Nicht
allein die Wissenschaft jedoch wurde von Freud so begriffen, sondern
die Kultur als ganze – zumindest die europäische Kultur des 20.
Jahrhunderts. Bekanntlich beschrieb Freud diese Kultur (im Gegensatz zu
anderen) als eine, die Triebunterdrückung bzw. Triebverzicht
voraussetzt. So formuliert Freud 1908:

„Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut.“ (Freud [1908d]: 18)

Dieser
Satz enthält freilich eine scharfe Kritik Freuds an unserer Kultur – es
ist schließlich diese triebunterdrückende Kultur, so der rebellische
Freud von 1908, welche die Menschen krank und ihre Behandlung notwendig
macht. Da es aber diese selbe Kultur ist, die auch die kulturelle Praxis
namens Wissenschaft hervorgebracht hat, scheint jedenfalls für die
Wissenschaft zu gelten, dass sie im Gegensatz zum Lustprinzip und zur
Triebbefriedigung steht. Eventuelle lustvolle Nebenwirkungen von
Wissenschaft scheinen damit ausgeschlossen - und erst recht der Gedanke,
die Heiterkeit könnte in einer notwendigen Beziehung zur Wahrheit
stehen.

Allerdings gibt es bei Freud, wie Sie wissen, noch eine
zweite Theorie der Kultur. Ihr Ausgangspunkt ist die Einführung des
Narzißmus, 1914. Diese zweite Theorie charakterisiert erwachsene
Menschen nicht (wie es die erste getan hatte) als schwer erziehbare
Triebwesen, sondern vielmehr als Wesen, deren Gefühlsleben bzw. deren
gesamte Libidoökonomie rund um ein „verlorenes Objekt“ aufgebaut ist –
eben rund um das Ich als Objekt des Narzißmus, welches den Menschen
verlorengeht, wenn sie beim Durchgang durch den Ödipuskomplex in die
symbolische Ordnung eintreten.
Mit dem Narzißmus waren bestimmte
Vorstellungen bzw. Illusionen verbunden, die bei diesem Verlust
aufgegeben werden – zum Beispiel die Vorstellung von der „Allmacht der
Gedanken“. Als aufgegebene, überwundene bilden solche Vorstellungen in
der Folge, wie Freud zeigt, die Grundlage für elementare ästhetische
Erfahrungen, die dem Erwachsenenleben eigen sind: zum Beispiel die
Erfahrungen des Unheimlichen und des Komischen. Man muss nämlich, so
Freud, wissen, dass es keine Gespenster gibt, um bestimmte Erfahrungen
als unheimlich zu empfinden. Würde man an Geister glauben, wie es das
Märchen tut, dann wäre deren Erscheinen nicht unheimlich (sondern zum
Beispiel furchterregend – aber das ist etwas ganz anderes). Wirklich
ängstigen kann man darum nur Menschen, die nicht an Gespenster glauben.
Auch der ästhetische Genuss an Gespenstergeschichten und Horrorfilmen
ist darum nur Erwachsenen zugänglich. Und dasselbe gilt zum Beispiel
auch für die Freude an Zaubertricks im Variété. Hätten wir die
narzißtischen Vorstellungen nicht überwunden und würden wir angesichts
des Zauberkünstlers wirklich glauben, Zeugen eines spirituellen
Geschehens zu sein, so wäre sein Zaubertrick für uns nicht amüsant,
sondern irgendetwas anderes – vielleicht zwar furchterregend, aber
nichts Ungewöhnliches; eben so, wie wenn jemand eine Naturkraft
einsetzt, die wir selbst nicht beherrschen.
Dasselbe wie für das
Unheimliche gilt für die Erfahrung des Komischen, das übrigens eine ganz
eigentümliche und enge Beziehung zum Unheimlichen unterhält. In beiden
Fällen, beim Komischen wie beim Unheimlichen, ist ein bestimmtes
besseres Wissen notwendig, durch das eine Illusion überwunden wurde. Um
unheimlich oder komisch berührt zu werden, müssen wir das Wissen
besitzen, dass die Wirklichkeit unmöglich so sein kann, wie wir es
einmal geglaubt haben, und doch muss sie einen Augenblick lang den
Anschein erwecken, als ob sie genau so wäre. Ich möchte Ihnen dies
anhand einer kleinen Anekdote illustrieren.

An einem Ort in der
Nähe von Wien lebt ein Paar von Zwillingsbrüdern, die beide
Polizeibeamte sind. Sie sollen sich des öfteren einen kleinen Scherz
erlaubt haben. Der eine von ihnen hielt alle Autos auf, die zu schnell
unterwegs waren und ermahnte die Lenker, nicht so riskant zu fahren.
Einige Kilometer weiter wartete der andere Zwillingsbruder. Über Handy
informiert, hielt er dieselben Autos wieder auf und sagte zu den
Fahrern: „Habe ich Ihnen nicht gerade gesagt, daß Sie nicht so schnell
fahren sollen?“
Klarerweise ist die Erfahrung des Komischen bei
dieser Geschichte auf der Seite der Polizisten und derer, die die
Geschichte hören. Die Erfahrung des Unheimlichen bleibt den Autofahrern.
Ich für mein Teil kann mir gut vorstellen, dass ich mich gescheut
hätte, auch nur irgendjemandem von dieser Sache zu erzählen, wäre sie
mir passiert. Sowohl das Komische als auch das Unheimliche setzen
allerdings besseres Wissen, und mithin die Überwindung einer Illusion
voraus: Nur wenn man weiß, dass selbst Polizisten nicht an zwei Orten
gleichzeitig sein können, dann ist das unheimlich. (Würde man hingegen
naiv an eine magische Allmacht der Polizei glauben, dann wäre es nicht
weiter erstaunlich.)

Daraus ergibt sich eine neue Perspektive auf
das Verhältnis von Heiterkeit und Wahrheit. Die Psychoanalyse als
Theorie des überwundenen Narzißmus und der daraus resultierenden
ästhetischen Effekte (wie Unheimliches und Komisches) läßt uns erkennen,
dass die Erkenntnis der Wahrheit eine Bedingung von Heiterkeit ist.
Dies
steht im Gegensatz zu der eingangs geschilderten, traditionellen
Auffassung, wonach Wahrheit jegliche Heiterkeit notwendigerweise
ausschließe, da sie etwas Ernstes, wenn nicht Trauriges sei.
Wir
können hier den entscheidenden Punkt des Gegensatzes zwischen den beiden
Auffassungen über Heiterkeit und Wahrheit erfassen. Das Traurige der
Wahrheit wird in der traditionellen Auffassung damit begründet, dass die
Wahrheit Ernüchterung und Desillusionierung mit sich bringe: Denn
plötzlich steht der Planet des Menschen nicht mehr im Zentrum des
Kosmos, weiters erweist sich der Mensch als Verwandter des Affen, und
schließlich müssen wir auch noch einsehen, dass dieser Mensch gar nicht
Herr im eigenen Haus ist, sondern vielmehr Gedanken hat, von denen er
nichts weiß, und Lustgefühle, die er nicht als lustvoll erlebt. Das ist
doch alles nicht lustig, bitteschön – oder etwa doch?

Klarerweise
bestreitet die Psychoanalyse, die ja selbst zu solcher Ernüchterung
erheblich beigetragen hat, nicht, dass dieses Moment der Ernüchterung
der wissenschaftlichen Erkenntnis oft innewohnt. Aber sie bestreitet,
dass Ernüchterung nicht erheiternd sein könne. Die Psychoanalyse lehrt
vielmehr: Das Erkennen der Wahrheit, und die Überwindung der Illusion
ist gerade die Bedingung von Erheiterung. Heiterkeit entsteht nur dank
Wahrheit. Und Erkenntnis der Wahrheit erheitert. Denn nicht der
Narzißmus dient dem Lustprinzip, sondern vielmehr die Überwindung des
Narzißmus. Das Lustvolle besteht nicht darin, in der Illusion zu
verharren und ihr Gefangener zu bleiben, sondern vielmehr darin, aus ihr
zu entfliehen und von außen liebevoll auf sie zurückzublicken. Wir
werden nur dann heiter, wenn wir die Illusion hinter uns gelassen haben.
Nicht der Narzißmus dient dem Lustprinzip, sondern der Ausgang aus ihm –
der Eintritt in die symbolische Ordnung. Aus diesem Grund hat Freud das
Über-Ich als Instanz des Humors charakterisieren können (s. Freud
[1927d])

Als jemand, der das Erbe Sigmund Freuds nicht zuletzt
hinsichtlich des darin enthaltenen Humors aufzunehmen und zu vermehren
verstand, hat August Ruhs
eine Reihe entscheidender Erkenntnisse und Klärungen formuliert, die
gleich mehreren Generationen von Forschern den Zugang zu einer
avancierten Psychoanalyse eröffnet haben. Es waren immer wieder - das
kann ich aus langjähriger eigener Erfahrung versichern - äußerst
erhellende und äußerst erheiternde Desillusionierungen. Und zugleich
brachten sie eine Desillusionierung zweiten Grades mit sich: Sie
befreiten von jener Illusion, derzufolge die Befreiung von Illusionen
nichts Erheiterndes sein könne.
Darum möchte ich dir, lieber August Ruhs,
im Gefühl, stellvertretend für sehr viele zu sprechen, ein Dankeschön
sagen, das nicht laut und groß genug ausfallen kann – und Alles Gute.

Literaturverzeichnis:

Freud, Sigmund

[1905d] Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders. Studienausgabe, Bd. V, Frankfurt am Main: Fischer, 1989: 37-146
[1908d]
Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität, in: ders.,
Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M.: Fischer, 1989: 9-32

[1910h] Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens I: Über einen
besonderen Typus der Objektwahl beim Manne, in: ders., Studienausgabe,
Bd. V, Frankfurt/M.: Fischer, 1989: 185-195
[1912-13] Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M.: Fischer 1993: 287-444
[1914c] Zur Einführung des Narzißmus, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/M.: Fischer, 1989: 37-68
[1919h] Das Unheimliche, in: ders., Studienausg. Bd. IV, Frankfurt/M.: Fischer, 1989: 241-274
[1927c] Die Zukunft einer Illusion, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M.: Fischer, 1989: 135-189
[1927d] Der Humor, in: ders., Studienausgabe, Bd. IV, 7. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer: 275-282
[1930a] Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M.: Fischer, 1993: 191-270

 

Lacan, Jacques
1969-70 Le Séminaire, livre XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris: Seuil, 1991

 

Ruhs, August
2003 Der Vorhang des Parrhasios. Schriften zur Kulturtheorie der Psychoanalyse, (hg. v. R. Pfaller), Wien: Sonderzahl
2010 Lacan. Eine Einführung in die strukturale Psychoanalyse, Wien: Löcker

Redaktion CD, 13.12.2011