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Lackinger, F; G. Dammann; B. Wittmann (): Psychodynamische Psychotherapie bei Delinquenz

Vorspann

Der in diesem Buch hauptsächlich vorgestellte psychotherapeutische  Ansatz geht auf  konzeptionelle Weiterentwicklungen der psychoanalytischen bzw. der psychodynamischen Behandlungstechnik zurück. Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) versteht sich als indiziert bei schweren Persönlichkeitsstörungen, sofern eine minimale Reflexionsfähigkeit vorhanden ist und das therapiegefährdende Agieren in einem gewissen Rahmen gehalten werden kann.
TFP wurde von den Herausgebern dieses Bandes für die forensische Population weiterentwickelt, und wird in dieser Variante dann TFFP genannt. TFFP sieht sich in erster Linie für die Behandlung von Borderline-Delinquenten zuständig, die die größte Gruppe bei den inhaftierten Delinquenten stellen, aber auch bei bedingt Verurteilten häufig vorkommen.
Das Buch ist empfehlenswert natürlich für Psychotherapeuten, die in forensischen Kontexten arbeiten, aber auch für solche, die in benachbarten Bereichen tätig sind, etwa in der Drogentherapie oder in der Arbeit mit auffälligen Jugendlichen. Interessant ist das Buch aber auch sicher für all jene, die Stellungnahmen, Gutachten, Beschlüsse oder Urteile im Kontext gerichtlicher Weisungen verfassen oder überlegen müssen, also für Sozialarbeiter, Psychiater, Psychologen, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Richter, die in der Strafrechtssprechung, im Strafvollzug oder in der forensischen Nachbetreuung tätig sind.

Geschichtliches

Das vorliegende Buch ist eng mit der Entwicklung der Forensischen Nachbetreuungsambulanz (FRANZ) bzw. des Forensisch-Therapeutischen Zentrums (FTZW) verbunden.
Nach dem sogenannten „Fall Haas“ und dem Abgang von Dr. Wolfgang Berner als ärztlichem Leiter der JA Mittersteig nach Hamburg hat es verschiedene Versuche gegeben, die von Berner 1992 gegründete und bis 1996 geleitete FRANZ umzugestalten und eigentlich zu demontieren.
Offen wurde die therapeutische Wirksamkeit v.a. aber die ökonomische Effizienz der Forensischen Ambulanz in Frage gestellt. Ihre traditionell psychodynamisch ausgerichtete Psychotherapie-Kompetenz sollte ausgelagert und einer verhaltenstherapeutischen Neuausrichtung unterworfen werden. Die Ambulanz selbst sollte auf eine fast ausschließlich forensisch-psychiatrische Nachsorgefunktion beschränkt werden.
Die PsychotherapeutInnen der Einrichtung wehrten sich dagegen, indem sie versuchten, die Bedeutung einer psychodynamisch orientierten Psychotherapie für Straftäter nachzuweisen und ihre Konzepte und Methoden bekannter zu machen. In diesem Zusammenhang begannen im Herbst 2002 einige Mitarbeiter der Forensischen Nachbetreuungsambulanz mit der Vorbereitung eines Arbeitskreises, in dem die Möglichkeit der Anwendung der Übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP) auf die Behandlung von Delinquenten diskutiert werden sollte.
Als im März 2004 das erste TFP-Curriculum in Wien gestartet wurde, waren dann mehr als zehn forensische Psychotherapeuten und –therapeutinnen unter den Teilnehmern. Ab 2005 engagierte die JA Mittersteig gezielt TFP-TherapeutInnen für die Behandlung von persönlichkeitsgestörten Straftätern. Inzwischen läuft das dritte TFP-Curriculum im Rahmen der Psychoanalytischen Akademie, und wieder sind fünf Forensiker unter den Teilnehmern.
Mitarbeiter des TFP-Instituts München, mit dem wir regelmäßig in Kontakt stehen, machten „die Wiener“ darauf aufmerksam, dass es auch in Deutschland eine Gruppe von forensischen Psychotherapeuten gab, die TFP in einem forensischen Kontext anzuwenden gedachten.
Im Jahre 2003 hatte die Sektion forensische Psychotherapie an der Universitätsklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Ulm die Projektidee entwickelt, in Zusammenarbeit mit zwei forensischen Kliniken in Nordrhein-Westfalen die Wirksamkeit einer psychodynamischen und einer kognitiv-behavioralen Psychotherapiemethode empirisch zu vergleichen.
Es kam schließlich dazu, dass im forensischen Therapiezentrum „Bilstein“ in Marsberg die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) implementiert und ihre Durchführung später untersucht wurde. Mitarbeiter des TFP-Instituts München führten die Ausbildung und Supervision der beteiligten Psychotherapeuten durch. Und, da sie beide kannten, brachten sie „die Marsberger“ mit „den Wiener“ Forensikern in Kontakt.
Im Dezember 2005 fand in Wien die erste gemeinsame (internationale) Tagung über „TFP in der Forensik“ statt. Aus den zahlreichen und als äußerst fruchtbar empfundenen theoretischen und klinischen Diskussionen auf dieser Tagung entstand u.a. auch die Idee, die wichtigsten Inhalte und Projekte aus diesem Bereich einer breiteren Öffentlichkeit in Form eines Buches vorzustellen. Rasch fand sich eine Herausgeber-Gruppe zusammen, bestehend aus je einem Vertreter aus Österreich, Deutschland und der Schweiz:
Ich selbst vertrete darin die Wiener „forensische TFP-Szene“, die außer den TFP-Therapeuten aus der inzwischen in Forensisch-Therapeutisches Zentrum Wien (FTZW) umbenannten Nachbetreuungsambulanz auch Psychotherapeuten aus der Justizanstalt Mittersteig und vom Verein Männerberatung umfasst. Meine beiden Hauptbeiträge fokussieren einerseits die Spezifizierung der Kernbergschen Borderline-Diagnostik für den Bereich der Deliquenz und andererseits die besonderen Übertragungskonstellationen, die bei der Behandlung von perversen Patienten auftreten.
Bernhard Wittmann steht für die TFP-Erfahrungen, die im Therapiezentrum „Bilstein“ in Marsberg gemacht wurden, und darüber hinaus für die bundesdeutsche forensische TFP-Landschaft. Sein Hauptbeitrag untersucht die Abwehrkonstellationen bei antisozialen Patienten und entwirft eine gegenübertragungsgeleitete Behandlungsstrategie für diese Patientengruppe.
Und Gerhard Dammann repräsentiert die theoretische und klinische Erfahrung des TFP-Instituts München, wo er Trainer und Supervisor ist. Als Chefarzt und Spitalsdirektor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen und der Psychiatrischen Dienste Thurgau ist er allerdings auch im eigenen Wirkungsbereich für forensische Behandlungen zuständig und vertritt hier den Schweizerischen Erfahrungshintergrund. In einem (für dieses Buch leicht aktualisierten) Beitrag gibt er einen komprimierten Überblick über TFP als Behandlungsmethode der Wahl bei Borderline-Störungen. Sein Hauptbeitrag konzentriert sich auf konzeptuelle und empirische Zusammenhänge zwischen Dissozialität und Borderline-Pathologie.
Viele Autoren des vorliegenden Buches entstammen diesen durch die drei Herausgeber repräsentierten Hintergründen: Aus dem Wiener Diskussionszusammenhang kommen Reingard Cancola, Joachim Voitle, Doris Fischer-Danzinger und Patrick Frottier.
Reingard Cancola analysiert – gestützt auf ihre reiche Erfahrung im Rahmen der Begutachtungsstation der JA Mittersteig – in ihrem Beitrag eine Reihe von psychodynamischen Diagnoseinstrumenten (Strukturelles Interview, STIPO, OPD, AAI, AAP, RSFS) und befragt diese nach ihrer therapieindikativen Bedeutung.
Joachim Voitle und Doris Fischer-Danzinger untersuchen gemeinsam mit mir Natur und Bedeutung von Settings- und Therapievereinbarungen bei übertragungsfokussierten Behandlungen von Straftätern, wobei ein besonderes Augenmerk auf den Vergleich zwischen intra- und extramuralen Rahmenbedingungen forensischer Psychotherapien gelegt wird. Inhaltlich folgt dieser Artikel jenen allgemeineren Überlegungen zu den Rahmenbedingungen von TFP mit persönlichkeitsgestörten Delinquenten, die schon 2006 in einem Beitrag von Lackinger und Dammann entwickelt wurden und der in diesem Buch wieder abgedruckt wurde.
Patrick Frottier legt in seinem Beitrag über das Therapiekonzept der Justizanstalt Mittersteig für zurechnungsfähige, jedoch gefährliche und geistig abnorme Patienten die spezifische Rolle dar, die der TFP als Einzeltherapiemodalität im Rahmen einer umfassenderen Behandlungsplanung zukommen kann. Mit sieben Argumenten begründet er, warum TFP als Baustein eines stationären forensischen Gesamttherapiekonzeptes sinnvoll ist.
Ein weiterer österreichischer Beitrag findet sich (als Reprint) im Abschnitt über empirische Befunde. Reinhard Eher et al. referieren eine 7-Jahres-Katamnese-Studie, in der die Behandlungen in eben jener Forensischen Nachbetreuungsambulanz nachuntersucht werden, deren geplante Demontage in Wien zum Anlass für die Einführung von TFP in den forensischen Kontext wurde. Schon vor der formalen Einführung von TFP war die Wirksamkeit der dort praktizierten psychodynamisch orientierten Therapie durchaus beeindruckend, v. a. im Bereich der Gewalttäterbehandlung. Einen Überblick über die Ergebnisse können sie auch auf einem der Plakate des FTZWIGF finden
Der Beitrag von Isabel Fontao et al. referiert die Methode und die empirischen Ergebnisse der Marsberger Pilotstudie, soweit sie TFP betreffen. Kurz gesagt: Für die TFP-Patienten zeigten sich positive Veränderungen in den dimensionalen Scores der Persönlichkeitsstörungen und der allgemeinen psychopathologischen Belastung. Der Beitrag von Franziska Lamott et al. reflektiert viele der institutionelle Prozesse, die die TFP-Implementierung im Therapiezentrum Marsberg ausgelöst hat, und zwar aus einer gewissermaßen ethnopsychoanalytischen Perspektive von Forschern, die als Besucher eine fremde Kultur untersuchen.
Die Sichtweise der Supervisoren, die die TFFP-Behandlungen während der Projektphase begleiteten, widerspiegelt sich in dem Beitrag von Agnes Schneider-Lehmann und Mathias Lohmer. Sie können zeigen, wie das Doppelspiel und die Spaltungsdynamik, die sich als Inszenierung der Borderline-Pathologie in den therapeutischen Prozessen immer aufs neue wiederholen, auch in die Beziehung zwischen Therapeuten und Supervisoren transponiert wird. 
Der Abschnitt über komplementäre therapeutische Ansätze enthält drei Beiträge aus bundesdeutschen Federn:
Wilhelm Preuss und Wolfgang Berner stellen ein ambulantes Gruppenpsychotherapiemodell zur Behandlung von pädophilen Sexualstraftätern vor („Hamburger Modell“), das sich in einigen Punkten entscheidend von den Prinzipien des TFP unterscheidet, aber auch manche Überschneidung mit diesen aufweist.
Prof. Friedemann Pfäfflin et al. entwickeln die aus der psychoanalytischen Bindungsforschung stammenden Konzepte der Mentalisierung und der reflexiven Funktion, beziehen sie auf den forensisch-therapeutischen Kontext und empfehlen, dass MBT (mentalization based treatment) weiter in diesem Zusammenhang erprobt werden sollte. 
Wolfgang-Friedrich Schneider und Norbert Weißig untersuchen in ihrem Beitrag die Bedeutung der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) für den Maßregelvollzug, entwickeln diese zu einem integrativ-behavioralen Therapieansatz weiter und zeigen schlüssig die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zu forensischer TFP auf.

Wie schon erwähnt, werden in diesem Buch viele Fragen der therapeutischen Diagnose im Bereich der Straftäter-Behandlung untersucht. Eine psychodynamisch-strukturelle forensische Diagnostik erlaubt eine weitere Differenzierung. Dabei spielen folgende Faktoren die Hauptrolle:
•    Das Verhältnis zwischen reifen und primitiven Abwehrmechanismen (Abwehrstruktur)
•    Die Stärke des pathologischen Narzissmus
•    Die Stärke der in das narzisstische Ideal eingebauten Aggression (Psychopathie)
•    Das Ausmaß der primitiven, defensiven Sexualisierung (Perversion, vgl. Lackinger 2005)

Die zentrale Rolle im TFFP spielt aber  - wie der Name schon sagt - die Arbeit mit der Übertragung. In der Praxis der TFFP haben wir es häufig mit speziellen Ausprägungsformen der Borderline-Übertragung zu tun. In der Anfangsphase begegnen wir fast immer der so genannten psychopathischen Übertragung. Das Auftreten dieser Übertragungsform bedeutet nicht notwendigerweise, dass der Patient eine psychopathische Persönlichkeitsstörung aufweist. Als Übertragungsmuster kann sie auch einen anfänglich in den Vordergrund gestellten Persönlichkeitsanteil des Patienten repräsentieren, der das Sich-Einlassen auf die Therapie dadurch verhindern möchte, dass er den Therapeuten belügt.
Die perverse Übertragung stellt insofern noch eine Steigerung der psychopathischen Übertragung dar, als sie die Vermeidung und Zerstörung der therapeutischen Beziehung lustvoll betreibt und inszeniert. Auch diese Übertragungsform verweist lediglich auf perverse Persönlichkeitsanteile, nicht aber auf das notwendige Vorhandensein etwa einer sexuellen Perversion.
Wenn die anfänglichen psychopathischen oder perversen Übertragungswiderstände gegen die therapeutische Beziehung zumindest vorübergehend überwunden werden konnten, treten in aller Regel deutliche paranoide Übertragungen auf. Paranoide Übertragungen können bei delinquenten Borderline-Patienten auch bereits von Beginn der Therapie an vorhanden sein. Sie zeigen sich darin, dass der Patient manifeste Angst vor dem Therapeuten entwickelt.
Die heftigen und rasch wechselnden Affekte in der Übertragung von Borderline-Patienten rufen auf Seiten des Therapeuten Gefühle und evt. Verhaltensweisen hervor, die den Umgang mit ihnen besonders erschweren. Borderline-Patienten verstehen es meisterhaft, den Therapeuten quasi „an seiner schwachen Stelle zu erwischen”, und damit Gefühle in ihm hervorzurufen, die er selbst aus unbewussten Gründen abzuwehren versucht. Der Therapeut ist damit unversehens in eine Abwehrbewegung verwickelt, auf Grund der er nicht mehr adäquat auf die Übertragung des Patienten reagieren kann.
Die TFP-Ausbildung und die laufende TFP-Supervision zeigen dann immer wieder Wege heraus aus den therapeutischen Engpässen und Sackgassen, sodass der Prozess in Richtung Integration und Mentalisierung weiter gehen kann.

Der vorliegende Band beinhaltet neben den nun erwähnten deutschsprachigen Autoren auch noch einige weitere internationale Autoren. Sabine Hörz hat zusammen mit John F. Clarkin, dem Erstautor des TFP-Manuals, einen Überblicksartikel über die empirische Forschungslage in Bezug auf TFP geschrieben. Die fortschreitende Forschung nährt die Hoffnung, dass mit TFP ein tatsächlich auch empirisch überprüfbar wirksames Verfahrung zur Behandlung von Borderline-Störungen gefunden wurde.
Der Beitrag von Isabel Fontao et al. referiert die Methode und die Ergebnisse der empirischen Pilotstudie, sofern sie TFP betreffen. Kurz gesagt: Für die TFP-Patienten zeigten sich positive Veränderungen in den dimensionalen Scores der Persönlichkeitsstörungen und der allgemeinen psychopathologischen Belastung. Der Beitrag von Franziska Lamott et al. reflektiert viele der institutionelle Prozesse, die die TFP-Implementierung im Therapiezentrum Marsberg ausgelöst hat, und zwar aus einer gewissermaßen ethnopsychoanalytischen Perspektive von Forschern, die als Besucher eine fremde Kultur untersuchen.
Die Grundidee des hier vorgestellten Buches  ist es, dass die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) für Borderline-Störungen in modifizierter Form gut forensisch angewendet werden kann. Delinquente Borderline-Pathologie unterscheidet sich nicht prinzipiell, aber doch in einigen wesentlichen Punkten von ihrer nicht-delinquenten Erscheinungsform. Im Bereich der Diagnostik wird darauf hingewiesen, dass das Delikt häufig eine spezifische Form der projektiven Identifizierung darstellt, die staatliches Eingreifen in Form von Zwangsmassnahmen nach sich zieht. Forensische Psychotherapie steht sehr oft in eben diesem Zwangskontext und muss die psychodynamische Bedeutung desselben nicht nur reflektieren, sondern auch in den Therapievereinbarungen mit den Patienten berücksichtigen. Fragen der Eigenmotivation des Patienten zur Therapie, der Folgen eines Therapieabbruch für ihn, der Substanz und der Grenzen der therapeutischen Verschwiegenheit, der Unverzichtbarkeit der Deliktbearbeitung u. ä. stehen daher in den Therapievereinbarungsgesprächen vor Beginn einer TFFP stark im Vordergrund.
Aber auch der therapeutische Prozess selbst unterscheidet sich in forensischen und nicht-forensischen Therapiekontexten. Die delinquente Pathologie führt zu einem Vorherrschen psychopathischer und/oder perverser Elemente in der Übertragung, und zwar nicht nur in der ersten Anfangsphase. Auch wenn durch ein erstes Sich-in-die-Therapie-Einlassen bereits ängstliche und paranoide Übertragungen auftreten, gibt es häufig wiederkehrende Rückfälle in das psychopathisch/perverse Muster. Erst nach sehr langer Zeit treten depressive Elemente in der Übertragung auf, was übrigens ein wichtiger Grund dafür ist, dass forensische Psychotherapien in der Regel langfristige Therapien sein sollten.