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Lackinger, Fritz (): Von Freud zur gegenwärtigen psychoanalytischen Forensik in Wien

Einleitung:

Psychoanalytiker beginnen ihre theoretischen Reflexionen meistens bei Freud, und zwar aus gutem Grund. In vielen Fällen wird man bei Freud auch heute noch in einem reichem Maße fündig und so ist es auch im Falle der forensischen Psychotherapie. Donald Winnicott hat einmal gesagt: „Mehr als jeder andere hat FREUD dem Verstehen des antisozialen Verhaltens und des Verbrechens als Folge einer unbewussten kriminellen Intention und als Symptom des Versagens  in Pflege und Erziehung des Kindes den Weg gebahnt“.
Freud hatte als junger Arzt im Wiener AKH die Gelegenheit, viele gewalttätige Patienten zu sehen. Er behandelte auch zumindest einen Pädophilen, was Anfang des vorigen Jahrhunderts noch völlig unüblich war, und, obwohl forensische Patienten für ihn kein Schwerpunkt waren, supervidierte er die Therapie eines Pädophilen durch Theodor Reik (Kahr 1999).
Freud behielt eine interessierte Einstellung gegenüber forensischen Fragen. In einem Brief an den Schwerverbrecher Georg Fuchs (Freud 1931f) bedauerte Freud die unmenschlichen Strafen, die damals noch gegen Kriminelle verhängt wurden.
Besonders berühmt geworden ist aber die Arbeit „Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit“ (Freud 1916d), weil sie jenen Abschnitt über die „Verbrecher aus Schuldgefühl“ enthält, der zum Ausgangspunkt der forensischen Psychotherapie werden sollte. Dort formulierte er erstmals den Gedanken, dass Kriminalität in der Phantasiewelt des Delinquenten beginnt und dass abweichendem Verhalten unbewusste Ideen zugrunde liegen. Indem er unterstrich, dass Delinquenz verstehbare motivationale Ursachen hat, lieferte Freud das Fundament der nachfolgenden Theorien in der forensischen Psychotherapie.
Leider nahm Freud selbst eine Gelegenheit nicht wahr, die zur bedeutendsten forensisch-therapeutischen Begegnung des 20. Jahrhunderts hätte werden können. 1924 erhielt Freud eine Einladung, um als gut-bezahlter Experte in dem hoch-publiken US-amerikanischen Mordfall gegen Nathan Leopold und Richard Loeb auszusagen. Die zwei jungen Männer hatten in Chikago einen - wie sie meinten - „perfekten Mord“ begangen. Sie wurden dennoch überführt. Ihre reichen Familien versuchten sie mit allen Mitteln vor der Todesstrafe zu bewahren, was ihnen schließlich auch gelang. In diesem Zusammenhang erhielt Freud folgendes Telegramm: „Offerieren Freud 25000 Dollar oder beliebige Summe, wenn er die Mörder von Chikago analysiert“. Freud antwortete folgendermaßen: „In Erwiderung möchte ich sagen, dass man mir nicht zumuten kann, mich nur auf Grund der Zeitungsberichte und ohne Möglichkeit einer persönlichen Untersuchung über die Personen und Taten als Sachverständiger zu äußern. Eine Einladung der Hearst Press, für die Dauer des Prozesses nach New York zu kommen, hatte ich aus Gesundheitsgründen ablehnen müssen“.
Will man die Geschichte der forensischen Psychotherapie in Österreich weiterverfolgen, muss man natürlich Theodor Reik, und v.a. August Aichorn nennen. Aichhorn hatte sich in den 1920er und 30er Jahren als erster mit dem Narzissmus bei Kriminellen befasst und auch eine Technik zu ihrer Behandlung entwickelt. Er legte den Grundstein für eine Tradition, in der Delinquente eher stützend und emotional korrigierend als konfrontativ und deutend behandelt wurden. Auch wir verwenden diese Technik noch gelegentlich, allerdings hat sich seither herausgestellt, dass sie bei der Mehrzahl der Delinquenten keine ausreichend befriedigenden Ergebnisse erzielt.
Hier muss aber - um den Rahmen nicht zu sprengen - ein großer zeitlichen Sprung in die jüngere Vergangenheit gemacht werden. Die meisten hier wissen wahrscheinlich, dass die forensische Psychotherapie innerhalb des Strafvollzuges in Österreich von Willibald Sluga und Josef Grünberger in den 1960er Jahren begonnen wurde. Beide waren keine Analytiker, aber sie ermöglichten doch die Entstehung einer neuen psychoanalytischen Tradition im österreichischen Behandlungsvollzug.
In den frühen 70er Jahren stießen Wolfgang Berner (in der Justizanstalt Mittersteig) und Ernst Federn (in der Justizanstalt Stein und der Sonderanstalt Favoriten) zu diesen Pionieren. Und Wolfgang Berner war es auch, der die Idee zu einer Nachbehandlungs-Einrichtung für entlassene Maßnahmenpatienten hatte, und sie nach Jahren gemeinsam mit Michael Neider und einigen Ärzten aus der Justizanstalt Göllersdorf verwirklichte.
Was das forensisch-psychotherapeutische Konzept betrifft, so stand Wolfgang Berner in seinen Mittersteig-Jahren sicher für eine Betonung der Einzeltherapie, ohne jedoch Gruppentherapien gänzlich auszuschließen, und er stand für eine Betonung der therapeutischen Beziehung als dem eigentlich wirksamen Agens in forensischen Psychotherapien. Die Hochschätzung der Therapeut-Patient-Beziehung leitete sich bei ihm einerseits von seinem objektbeziehungstheoretischen Hintergrund her und andererseits von der praktischen Erfahrung, dass Deutungen, die auf Einsicht beim Patienten zielen, gerade bei forensischen Patienten wenig Wirksamkeit entwickeln. Dies hängt damit zusammen, dass die Persönlichkeit des Delinquenten zu wenig integriert ist, um Deutungen tief in das Ich aufnehmen zu können. Nur wenn auf non-verbale Weise im Rahmen der therapeutischen Beziehung vermittelt werden kann, dass der Therapeut nicht das erwartete böse oder unverlässliche Objekt ist, können Lernprozesse in Gang kommen.
Damit erwies sich Wolfgang Berner nicht nur als Nachfolger von Aichhorn und Eissler, wobei er durch die Betonung der Konfrontation auch über diese hinausging, sondern er erkannte auch etwas, das in den allerletzten Jahren durch strenge empirische Forschung bestätigt wird: Delinquenten fehlt es nicht nur an Opferempathie, was schon lange bekannt ist, es fehlt ihnen häufig noch grundsätzlicher an der Fähigkeit, Gefühle, Wünsche, Vorstellungen und Absichten als subjektive, innere Realitäten klar von den Realitäten der äußeren Welt zu unterscheiden.
Der Londoner Psychoanalytiker Peter Fonagy nennt dies die reflektive Funktion oder Mentalisierung (Fonagy 1995). Und Fonagy konnte empirisch zeigen, dass die reflektive Funktion nicht nur bei Borderline-Patienten charakteristisch gestört ist, sondern dass sie bei Delinquenten besonders stark beeinträchtigt ist. Im Vergleich mit nicht-delinquenten psychisch Kranken und mit lediglich allgemein-medizinisch Erkrankten hatten Strafgefangene am meisten Misshandlung und Vernachlässigung erfahren. Sie waren häufiger ablehnend/geringschätzig in ihrem Bindungsmuster und die reflektive Funktion der Strafgefangenen war signifikant schwerer beeinträchtigt. Nicht unerwartet vielleicht: Gewalttäter zeigten die größten Defizite.
Wir sind nun bereits ganz in der Gegenwart angekommen. Um das Bild der theoretischen Einflüsse abzurunden, die das therapeutisches Arbeiten in der psychoanalytischen Forensik in Wien heute prägen, möchte ich noch die Arbeiten des New Yorker Personality Disorders Institute um Otto Kernberg erwähnen. Kernberg stammt ja ursprünglich aus Wien, seine Familie musste in den 30er Jahren vor den Nazis flüchten. Er hat gemeinsam mit einigen Mitarbeitern in den letzten Jahrzehnten eine eigene psychodynamische Therapiemethode für Borderline-Patienten entwickelt, die mittlerweile als TFP (transference focused psychotherapy) bekannt geworden ist. Da sich Kernberg auch viel mit der Rolle der Aggression in Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen, v.a. aber auch mit der Verdichtung von Aggression und Narzissmus im Syndrom des malignen Narzissmus und mit psychopathischer Antisozialität beschäftigt hat, zeigten sich viele Berührungspunkte zwischen seiner Methode und den Anforderungen der forensischen Psychotherapie. Das Forensisch-Therapeutische Zentrum Wien (FTZW) hat in den vergangenen Jahren eine intensive Aus- und Fortbildung über TFP veranstaltet und einige Mitarbeiter des FTZW, aber auch in der JA Mittersteig, wenden die Methode in ihrer täglichen Praxis an
TFP ist im Grunde von zwei fundamentalen Prinzipien geprägt. Erstens braucht die Therapie mit Borderline-Patienten einen besonders klaren und starken Rahmen, damit der Tendenz zum therapiegefährdenden Agieren Grenzen gesetzt und somit die Therapie überhaupt durchgeführt werden kann.
Und zweitens spielt in der Arbeit mit der Übertragung des Patienten die Aggression eine besondere Rolle, d.h. die manifeste und die latente negative Übertragung stehen zusammen mit den korrespondierenden Gegenübertragungen des Therapeuten oft lange Zeit im Vordergrund von TFP-Behandlungen. An anderer Stelle wird darauf noch näher eingegangen werden.