Aichhorn Th. Bericht über mein Archiv (2022)
Thomas Aichhorn
Gentzgasse 125/13
1180 Wien
thomas.aichhorn@chello.at
Bericht über mein Archiv.
Als meine Großmutter im Mai 1969 gestorben war, hatte ich es übernommen, ihre Wohnung aufzulösen. Ich hatte damals in der Wohnung gewohnt, sie hatte ihre letzten Lebensjahre bei meinen Eltern verbracht.
Da ihre bisherige Wohnung in der Schönbrunnerstraße 110 unbewohnbar geworden war, waren die Großeltern im Herbst 1945 in diese Wohnung im Ersten Bezirk in der Rathausstraße 20 gezogen. Im Dezember 1945 hatte Aichhorn an Margret Mahler-Schönberger geschrieben: „Für die Vereinigung, das Ambulatorium und die Erziehungsberatung waren Räume zu finden. Da meine Wohnung in der Schönbrunnerstraße durch 2 Bombenvolltreffer im Hinterhaus und den Zerstörungen durch eines in meinem Arbeitszimmer während der Kampftage explodierten Artilleriegeschosses unbewohnbar geworden war, fasste ich den Entschluß, meine Wohnung und das Heim der Vereinigung zusammenzulegen. Auf einem recht langen Leidensweg gelang es, in der Rathausstraße 20 eine sehr schöne 6 ½ Zimmer Wohnung zu bekommen. 3 Räume verwende ich für mich, 3 ½ Räume bekommt die Vereinigung als mein Untermieter. Einer der Räume, 8.70 m lang und 5.80 m breit, wird als Sitzungs- und Kurszimmer für 40 – 50 Personen eingerichtet. Ich fand einen Gönner, der die Einrichtung dieses großen Raumes durch Prof. Haerdtl besorgen lässt (im Februar soll der Raum eingerichtet sein). Die restlichen 2 Zimmer, die wenn es notwendig werden sollte in 4 Räume abgeteilt werden können, sind Behandlungsräume, das Kabinett wird für den Leiter des Ambulatoriums eingerichtet, Küche und Dienerzimmer, die nebeneinander liegen, werden als Bibliothek verwendet. Das Vorzimmer ist der Warteraum. Der besondere Vorteil dieser Wohnung ist, daß sie 2 getrennte, gegenüberliegende Eingänge hat, so daß der Ambulatoriumsbetrieb sich völlig ungestört von meiner Privatwohnung abspielen kann.“
Im Februar 1946 hatte Aichhorn an seinen Freund und Schüler, den in Chikago lebenden Psychoanalytiker Paul Kramer geschrieben: „Mir macht augenblicklich außer meiner Alltagsarbeit die Wiederinbetriebsetzung der Wiener psychoanalytischen Vereinigung viel Arbeit. Ich sorge nicht nur für den inneren Aufbau, sondern mit Hilfe eines Mäzens, der mir die Mittel zur Verfügung stellt, schaffe ich der Vereinigung auch ein wirklich würdiges Heim. Es ist hier nicht leicht, von den Fensterscheiben, die alle zerbrochen sind, bis zu fertigen Einrichtung […] alles zu beschaffen. Man macht sich bei Euch wahrscheinlich keine Vorstellung was es heißt, Maurer, Tischler, Tapezierer, Schlosser, Glaser u.s.w. in Bewegung zu setzen und das Material zu beschaffen. Es ist nicht leicht, Menschen zu geregelter beruflicher Arbeit zu finden, in einer Zeit, in der durch den Schleichhandel so viele Menschen durch ungeheuren Verdienst demoralisiert werden. Es macht mir aber große Freude über die Hindernisse hinwegzukommen und das Werk langsam wachsen zu sehen.“ Und im März desselben Jahres schrieb er ihm: „Du willst wissen, ob es mir gelungen ist, Möbel aus der Schönbrunnerstraße zu retten. Durch 2 Bombenvolltreffer im Hinterhaus, die 2 Stockwerke glatt abtrugen, sind die Möbel stark beschädigt worden, waren aber reparierbar. In meinem Arbeitszimmer explodierte beim Kampf um Wien eine Artilleriegranate. Nachher war der Anblick verheerend: einzelne Möbelstücke in Staub aufgelöst, andere so schwer beschädigt, dass sich eine Instandsetzung nicht lohnt. In der Rathausstraße, wo ich jetzt wohne, habe ich für mein Arbeitszimmer völlig neue Möbel.“
Nach dem Tod meines Großvaters im Oktober 1949 war die Wohnung geteilt worden. Übrig geblieben waren zwei Zimmer und der große Sitzungssaal. Einer der Räume war das Wohn- und Schlafzimmer meiner Großmutter, die anderen Räume benützten – als ihre Untermieter – die Wiener Psychoanalytische Vereinigung und die bereits im Herbst 1949 gegründete August-Aichhorn-Gesellschaft. Im ehemaligen Arbeitszimmer meines Großvaters fanden kleinere Sitzungen statt und Kandidaten der Vereinigung behandelten dort ihre ersten Patienten.
Obwohl die Wohnung bereits 1949 viel kleiner geworden war, wurde es dennoch zu einer recht mühsamen und ziemlich zeitraubenden Arbeit, das Inventar zu sichten. Die Möbel, die Bilder, die Teppiche und die anderen Wertgegenstände wurden von der Familie übernommen. Die Couch, die ich bekommen habe, verwende ich immer noch.
Am Nachlass meines Großvaters aber, der sich vor allem in seinem seit seinem Tod nahezu unveränderten Arbeitszimmer befand, zeigte niemand Interesse – weder die Familie noch die Vereinigung. Obwohl dieses Desinteresse nicht ermutigend war, hatte ich mich dennoch dazu entschlossen, so viel wie nur möglich zu aufzubewahren. Es war für mich eine schwierige Entscheidung zu beschließen, was aufzuheben und was wegzugeben war, wobei ich bedenken musste, dass ich in der Wohnung, in die ich damals übersiedelte, unmöglich alles unterbringen konnte. Es ist leider nicht mehr rekonstruierbar, was ich damals weggeben habe.
Der Nachlass bestand – und besteht – aus Dokumenten zur Biographie meines Großvaters und aus Unterlagen zu seinen unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Tätigkeiten, aus der Zeit der Knabenhorte, der Fürsorgeerziehungsanstalten in Oberhollabrunn und St. Andrä, der Erziehungsberatungsstellen an den Jugendämtern der Stadt Wien und später an der der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Auch zahlreiche Dokumente aus der Zeit seiner Tätigkeit von 1938 bis 1945, im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung im Jahre 1946 und einige der Patientenkalender sind erhalten geblieben. Auch Bücher, vor allem die zur Psychoanalyse, habe ich zum Großteil aufbewahrt.
Nur wenige Briefe und Briefwechsel aus der Zeit vor 1938 sind erhalten geblieben. Ich denke, dass sie durch die Zerstörung seines Arbeitszimmers in der Schönbrunnerstraße verloren gegangen sind. Der Großteil der Briefe, die ich aufgefunden und aufhoben habe, stammte daher aus der Zeit nach 1945. Eine Auswahl aus den Briefwechseln mit K. R. Eissler und Heinz Kohut habe ich – zusammen mit Michael Schröter – herausgegeben, einen Brief Kata Lévys habe ich 2013 veröffentlicht.
Im Nachlass fand ich auch zahlreiche Fotos und Negative, darunter ein Album mit den Engelmann Fotos von Freuds Wohnung in der Berggasse 19. Im November 1948 hatte August Aichhorn K. R. Eissler geschrieben: „Etwas verrate ich Dir noch. Weißt Du, daß ich, ehe Prof. Freud Wien verlassen hat, von seiner Wohnung photographische Aufnahmen gemacht habe, weil ich der Meinung war, einmal wird die Zeit kommen, in der man in Wien, in der Berggasse, ein Freud Museum errichten wird, dann aber niemand mehr weiß, wie die Wohnung eingerichtet war. Die Filme sind erhalten. Ich habe nun von einem Architekten einen Grundriß der Wohnung, die Fassade des Hauses und einen Querschnitt durch Freuds Wohnung machen lassen. In Lausanne hatte ich den Grundriß der Wohnung und Kopien der gemachten Aufnahmen mit und ließ mir von Anna genau die Blickrichtungen von der aus die Aufnahmen gemacht wurden, angeben. All dieses Material wird nun in einem Album vereinigt. Anna und Du sollst als Weihnachtsgeschenk dieses Album bekommen.“
Die Fertigstellung der Alben hatte sich offensichtlich verzögert, erst im Juli 1949 konnten sie versandt werden. Aichhorn am 17. 8. 1949 an Anna Freud: „Es wurden vier Alben angefertigt. Ein Album erhielten Sie, das zweite Dr. Eissler, das dritte Dr. Fleischmann, das vierte behielt ich mir selbst. Die Alben für Sie und Dr. Eissler wurden gleichzeitig aufgegeben und Dr. Eissler hat das Einlangen schon bestätigt. Sie wissen, daß ich auch mehr Filme von der Wohnung besitze als im Album aufscheinen. Ich will nun wissen, ob ich Ihnen die Filme (Negative) zur eventuellen späteren Verwertung überschicken oder ob ich sie Dr. Eissler zur treuhändigen Verwahrung übergeben soll. Mir wäre eine Antwort sehr wichtig, weil dieses historische Material nicht verloren gehen darf.“
Endlich, am 19. 8. 1949, als sie das ihr zugedachte Album erhalten hatte, schrieb Anna Freud: „Ehe ich London verlassen habe, ist das Album angekommen. Gerade zum Geburtstag meiner Mutter (88!). Sie hat sich ungeheuer gefreut. Da ist die ganze Vergangenheit und schaut aus, als ob man noch einmal in sie hineingehen könnte. Die Bilder sind unglaublich gut und das Ganze ist ein wunderbares Geschenk von Ihnen. Ich weiß nicht, wie ich genug Danke dafür sagen soll. Ihre Anna.“ Letztlich wurde vereinbart, dass die Negative an Anna Freud gehen sollten.
Auch Kopien der Lehrman-Filme fand ich damals. Ich habe Lynne Lehrman Weiner versprochen, von diesen Filmen – öffentlich – keinen Gebrauch zu machen.
Der wertvollste Fund, den ich gemacht hatte, war zweifellos ein Freud Autograph. Es handelte sich um das handgeschriebene „Geleitwort“ zu Aichhorns Buch „Verwahrlose Jugend“. Als ich in eine finanzielle Notlage geraten war und daran denken musste, es zu verkaufen, wandte ich mich zunächst an das Wiener Freud Museum. Nach einem überaus unangenehmen Gespräch mit Ella Lingens, damals Sekretärin der Freud Gesellschaft, musste ich das „Geleitwort“ zu einem vergleichsweise niedrigen Betrag der Österreichischen Nationalbibliothek überlassen. Das Denkmalamt hatte ein Ausfuhrverbot erlassen, ich konnte daher K. R. Eisslers freundliches Angebot, mich beim Verkauf zu unterstützen, nicht in Anspruch nehmen. Es war mir damit aber immerhin möglich, mit dem Erlös den Beginn meiner Analyse zu finanzieren.
Ein wesentlicher Bestandteil des Nachlasses sind die Manuskripte und Typoskripte der Vorträge, Kurse und Seminare August Aichhorns, die nahezu lückenlos erhalten geblieben sind. Aus diesem Bestand sollten späterhin zahlreiche Arbeiten hervorgehen.
Ein erstes Zeichen dafür, dass mein Entschluss richtig war, soviel wie nur irgend möglich aufzubewahren, war die Ausstellung der Sigmund Freud Gesellschaft anlässlich des 25. Todestages August Aichhorns im Dezember 1974. Sie wäre ohne die Unterlagen, die ich zur Verfügung gestellt hatte, kaum möglich gewesen. Im Anschluss daran veröffentlichte ich bei Löcker & Wögenstein 1976 unter dem Titel „Wer war August Aichhorn“ Briefe, Dokumente und unveröffentlichte Arbeiten aus dem Nachlass.
In den Folgejahren besuchten mich zahlreiche Studenten, die nicht zu letzt auf der Grundlage meiner Archivbestände Arbeiten zu August Aichhorn verfassten. In den 1980er Jahren befasste sich eine Gruppe des Wissenschaftlichen Zentrums II der Universität Kassel, die von Hilde Kipp geleitet wurde, im Rahmen eines Forschungsprojekts zu August Aichhorn eingehend mit dem Nachlass. Einer der Mitarbeiter war Achim Perner, der zahlreiche Arbeiten über und zu Aichhorn veröffentlichte. Die damals geplante Werkausgabe der Schriften und Briefwechsel ist leider nicht zustande gekommen.
2007 veröffentlichten Florian Houssier und Françoise Marty im Verlag Champ Social Éditions, Nîmes, den Band „August Aichhorn, cliniques de la délinquance“, in dem auch zuvor noch nicht veröffentlichte Arbeiten August Aichhorns enthalten sind. 2011 habe ich im Löcker Verlag, Wien, den Band „August Aichhorn, Pionier der Psychoanalytischen Sozialarbeit“ herausgegeben, 2015, zusammen mit Karl Fallend, ebenfalls im Löcker Verlag, „August Aichhorn – Vorlesungen. Einführung in die Psychoanalyse für Erziehungsberatung und Soziale Arbeit“. Es sind das Vorlesungen aus 1945, die im Nachlass erhalten geblieben waren. Einzelne noch nicht – oder nicht auf Deutsch – veröffentlichte Arbeiten und auch Seminare August Aichhorns habe ich, versehen mit ausführlichen Einführungen, in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Auch meine Beiträge zur Biographie meines Großvaters und zur Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung beruhen zum Großenteil auf Unterlagen aus dem Nachlass August Aichhorns.
Als einer der Bände der geplanten Kasseler Werkausgabe war die Veröffentlichung des Briefwechsels Anna Freud/August Aichhorn vorgesehen gewesen. Die Arbeit an diesem Briefwechsel hatte ich mir vorbehalten, er ist 2012 veröffentlicht worden.
Der gesamte Briefwechsel wird im Archiv der Library of Congress in Washington aufbewahrt, da diese Briefe – mit Ausnahme einiger weniger aus der Zeit vor 1938, die ich im Nachlass gefunden hatte – ihr nach dem Tod August Aichhorns zurückgegeben worden waren. Ich war einige Male im Archiv in Washington, wo ich den Briefwechsel und zahlreiche Unterlagen, die ich für die Anmerkungen und Kommentare der Briefe benötigte, kopiert habe. Weiter Unterlagen habe ich im Archiv der New York Psychoanalytic Society und in dem der British Psychoanalytical Society gefunden. Meine Reisen in die USA habe ich zudem zu Interviews mit Zeitzeugen – u. a. mit K. R Eissler, Peter Blos, Friedl und Hans Aufreiter und Gertrude und Ernst Ticho – genutzt. Die Kopien, die ich gesammelt habe, stellen nunmehr einen wichtigen Teil meines Archivs dar.
Unter der Leitung von Mitchell Ash konstituierte sich ab 2005 im Rahmen der Wiener Psychoanalytischen Akademie eine Gruppe – die kontinuierlichen Teilnehmer waren Th. Aichhorn, E. Brainin, Ch. Diercks, B. Johler, Ch. Rothländer und S. Teicher – die an dem vom Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderte Forschungsprojekt „Brüche und Kontinuitäten in der Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1938-1971“ arbeitete. Diese Forschungsarbeit beruht im Wesentlichen auf den Dokumente aus dem Nachlass August Aichhorns, die ich zur Verfügung gestellt hatte. Die Ergebnisse dieses Projekts – „Materialien zur Geschichte der Psychoanalyse in Wien 1938-1945“ – wurden 2012 im Verlag Brandes & Apsel veröffentlicht.
Ein weiterer, gewichtiger Bestandteil meiner Sammlung ist der Nachlass Rosa Dworschaks, der Freundin und wichtigsten Mitarbeiterin August Aichhorns. Auch dieser Nachlass besteht aus zahlreichen Dokumenten zur Biographie, aus Briefwechseln und aus den wissenschaftlichen Arbeiten und Vorträgen Rosa Dworschaks. Aus diesem Bestand habe ich 2014 im Löcker Verlag den Band „Rosa Dworschak, zur Praxis und Theorie der psychoanalytischen Sozialarbeit“ und im selben Jahr, ebenfalls im Löcker Verlag, ihre „Dorfgeschichten aus der Großstadt“ herausgegeben.
Über die Jahre habe ich nicht nur die beiden Nachlässe verwaltet, sondern sie auch durch zahlreiche Unterlagen und Dokumente, die ich gesammelt habe, ergänzt und erweitert. Aber manchmal sehe ich mich immer noch im nun schon weit vergangen Jahr 1969, in dem alles begonnen hat, umgeben von Stößen von Papier. Ich hätte nur allzu gern die Möglichkeit, mit meinem heutigen Wissen in diese längst vergangene Situation in das Arbeitszimmer meines Großvaters zurückkehren zu können. Andererseits freut es mich immer wieder, Dokumente, Briefe und andere Schriftstücke zu finden, die ich aufbewahrt habe, weil ich offenbar bereits damals ihre Bedeutung erkannt hatte.