Ferenczi, Sándor (1908/1938): Psychoanalyse und Pädagogik 

Ferenczi, Sándor (1908/1938): Psychoanalyse und Pädagogik. 
In: Bausteine zur Psychoanalyse. Band III, 9-22. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. 
 

Vortrag, gehalten auf dem I. Psychoanalytischen Kongress in Salzburg. (1908).

Editorische Anmerkungen: 
Vortrag, gehalten auf dem I. Psychoanalytischen Kongress in Salzburg. (1908).

(1908g), Pszichoanalízis és pedagógia. (The shortened version of the lecture in Salzburg in 1908.) Gyógyászat, (48) 1908, 43, 712–714.
German: Psychoanalyse und Pädagogik [Abstract des Vortrags, der 1908 in Salzburg gehalten wurde] In: Zentralblatt für Psychoanalyse, (1) 1910–11. S. 129.). 
Englisch: Psychoanalysis and education. In: The International Journal of Psychoanalysis (30), 1949, pp. 220-224. (In: (1916, 1922, 1950,) Contributions to Psychoanalysis. R. G. Badger, Boston, (1952, 1994), under the title: First Contributions to Psychoanalysis, Ed. Ernest Jones, Hogarth Press; Karnac, London, pp. 280-290; (1999) Selected Writings. Edited with an introduction by Julia Borossa. Penguin Books, London, pp. 25-30.

Der vorliegende Text erschien in: Bausteine zur Psychoanalyse. Band III. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.

Die Herausgeber der Bausteine merkten an: 
„Unter demselben Titel ist zuerst in der „Gyógyászat“ (Jg. 1908), später im Sammelband „Lélekelemzés“ (1909) eine ungarische Version dieses Vortrages erschienen. Diese weicht von der - im handschriftlichen Nachlass aufgefundenen - deutschen Version erheblich ab: a) die sozialen Wirkungen der Verdrängung werden ausführlicher geschildert, b) die zweite Hälfte bis zum Schluss ist eine unabhängige Konzeption. Diese zwei Teile erschienen hier als Anhang. Im deutschen Text haben wir angegeben, wo sie eingefügt werden sollen. (Herausgeber.)“ (1938, 9)

Das eingehende Studium der Werke Freuds und selbst durchgeführte Psychoanalysen können jeden darüber belehren, daß eine fehlerhafte Erziehung die Quelle nicht nur von Charakterfehlern, sondern auch von Krankheiten sein kann, ja daß die heutige Kindererziehung die verschiedensten Neurosen förmlich hochzüchtet. Indem wir unsere Patienten analysieren und dabei - ob wir wollen oder nicht - auch unser eigenes Selbst und dessen Entwicklungen einer Revision unterziehen müssen, kommen wir zur Überzeugung, daß sogar eine von edelsten Intentionen geleitete, unter den günstigsten Verhältnissen durchgeführte Erziehung - da sie auf die allgemein herrschenden fehlerhaften Prinzipien gegründet ist - die natürliche Entwicklung des Menschen in mancher Hinsicht schädlich beeinflusst, so daß, wenn wir trotzdem gesund geblieben sind, wir dies nur unserer robusteren, widerstandsfähigeren seelischen Organisation zu verdanken haben. Wir erfahren übrigens bald, daß auch derjenige, der zufällig nicht krank geworden ist, der Unzweckmäßigkeit der pädagogischen Methoden und Auffassungen viel überflüssige Seelenqual zuzuschreiben hat, und daß die Persönlichkeit der meisten Menschen infolge derselben schädlichen Erziehungseinflüsse mehr oder minder unfähig geworden ist, die naturgegebenen Freuden des Lebens unbefangen zu genießen.

Wie selbstverständlich drängt sich also wohl jedem die Frage auf, welchen praktischen Nutzen die Pädagogik aus diesen Erfahrungen ziehen könnte? Die Frage ist keine rein wissenschaftliche, sie verhält sich zu der uns hauptsächlich interessierenden Disziplin, der Psychologie, wie die Gartenbaukunst zur Botanik. Wenn wir aber schon sehen, daß Freud von einem gleichfalls praktischen Wissenszweig, der Neurosenpathologie, ausgehend ungeahnte psychologische Ausblicke gewinnen konnte, dürfen wir vor einem Ausflug in das Gebiet der Kindergärtnerei nicht zurückschrecken. Ich will vorwegnehmen, daß ich die Frage durch einen Einzelnen unlösbar erachte. Das Zusammenwirken unser aller ist hierzu notwendig, darum habe ich den Gegenstand hier als Frage aufgerollt und bitte alle Kollegen, in erster Linie aber Prof. Freud, sich hierüber zu äußern. Die allgemeinen Gesichtspunkte, die sich mir aufgedrängt haben, möchte ich aber zuvor in Kürze mitteilen. 

Die Tendenz, sich schmerz- bzw. reizlos zu erhalten, das sog. Unlustprinzip, müssen wir mit Freud als den ursprünglichen und natürlichen Regulator des psychischen Apparates ansehen, wie es beim Neugeborenen erscheint. Trotz der späteren Überlagerung durch kompliziertere Mechanismen bleibt ein gleichsam sublimiertes Unlustprinzip auch in der Seele des erwachsenen Kulturmenschen vorherrschend, mit der natürlichen Tendenz, bei der mindestmöglichen Belastung die meistmögliche Befriedigung zu erleben. Dieser Tendenz müßte jede Pädagogik Rechnung tragen. Die heute herrschende tut das aber nicht; sie belastet die Seele mit mehr Zwang, als es selbst die genug drückenden äußeren Verhältnisse fordern, sie tut das, indem sie die Verdrängung, eine ursprünglich zweckmäßige Schutzvorrichtung, die aber im Übermaß zu Krankheitserscheinungen führt, großzieht. [Anhang I, S. 18-19]. 

Das vorläufig ins Auge zu fassende Ziel der pädagogischen Reform wäre, die kindliche Seele von der Belastung unnötiger Verdrängung zu verschonen. Die spätere, bedeutendere Aufgabe wäre eine solche Reform der sozialen Einrichtungen, die den freien Abfluss des nicht sublimierten Teiles der Wunschregungen ermöglicht. Den Vorwurf der ›Kulturfeindlichkeit‹ solcher Ansichten dürfen wir unbeachtet lassen. Für uns bedeutet die Kultur keinen ›Selbstzweck‹, sondern ein möglichst zweckmäßiges Mittel zur Kompromißbildung zwischen eigenen und fremden Interessen. Läßt sich das durch weniger komplizierte Mittel erreichen, so braucht uns vor dem Worte ›Reaktion‹ nicht bange zu sein. Als selbstverständliche Grenze jener Freiheit wird das Respektieren der berechtigten und natürlichen Interessen Anderer stets aufrecht bleiben müssen. Die Unkenntnis der wirklichen Psychologie des Menschen und Nichtbeachtung derselben bei der Erziehung haben zur Folge, daß in der heutigen gesellschaftlichen Existenz überhaupt zahlreiche krankhafte Erscheinungen, Äußerungen der illogischen Arbeitsweise des Verdrängten zu beobachten sind. Handelte es sich bloß um die zu Neurosen spezifisch disponierten Individuen, so dürfte man ihrethalben an der bestehenden Ordnung nicht rütteln. Ich stütze mich aber auf eine mündliche Äußerung Prof. Freuds, wenn ich auch die übertriebene Ängstlichkeit der meisten Kulturvölker, ihre Todesfurcht und Hypochondrie auf die anerzogene Verdrängung der Libido zurückführe. Aber auch das Festhalten an unsinnigen religiösen Aberglauben und Gebräuchen des Autoritätskultus, das Sich-Anklammern an abgelebte Gesellschaftseinrichtungen, all das sind pathologische Erscheinungen der Volksseele, völkerpsychologische Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen, deren Triebkräfte unbewußte, durch falsche Erziehung großgezogene, verdrängte Wunschregungen sind. [Anhang II, S. 19-22]

In den lesenswerten Vorlesungen über die erzieherischen Pflichten der Ärzte wirft der Breslauer Kinderarzt Prof. Czerny den Eltern vor, daß sie ihre Kinder darum nicht erziehen können, weil sie sich an ihre eigene Kindheit gar nicht oder falsch erinnern. Wir können ihm zustimmen, könnten ihm sogar auf Grund des von Freud Gelehrten erzählen, welch ein merkwürdiger seelischer Mechanismus diese infantile Amnesie verursacht. Jedenfalls ist diese allein eine zureichende Erklärung dafür, daß die Pädagogik seit undenklichen Zeiten keinen nennenswerten Fortschritt zu verzeichnen hat. Es ist eben ein Circulus vitiosus. Das Unbevußte läßt die Erwachsenen ihre Kinder unrichtig erziehen - die falsche Pädagogik führt dann bei den Kindern zur Anhäufung unbewußter Komplexe. Irgendwo rnuß man in diesen Zirkel eingreifen. Sofort mit einer radikalen Reform der Kindererziehung hervorzutreten, wäre ein aussichtsloses Beginnen. Viel mehr könnte man sich von der Korrektur der infantilen Amnesie durch Aufklärung der Erwachsenen versprechen. Der erste und wichtigste Schritt zur Besserung wäre also meiner Ansicht nach die Verbreitung der Kenntnisse über die wirkliche Psychologie des Kindes, die wir Freud verdanken. Diese Massenaufklärung wäre ein Heilmittel der an übertriebenen Verdrängungen leidenden Menschheit, eine Art innere Revolution, die übrigens jeder Einzelne von uns, der Freuds Lehren akzeptiert hat, selbst durchgemacht haben muß. Die Befreiung von unnötigem innerem Zwang wäre die erste Revolution, die der Menschheit eine wirkliche Erleichterung schüfe, während es sich bei politischen Revolutionen nur darum handelt, daß die äußeren Mächte, d. h. Zwangsmittel aus einer Hand in die andere wandern oder daß die Zahl der Bedrängten steigt oder fällt. Erst die so befreiten Menschen wären dann imstande, einen radikalen Umsturz in der Pädagogik herbeizuführen und hiedurch der Wiederkehr ähnlicher Zustände für immer vorzubeugen.

Nebst dieser Vorarbeit für die Zukunft dürften wir aber auch die Sache der heute heranwachsenden Generationen nicht vernachlässigen und müßten feststellen, was sich schon heute an der Kindererziehung im Sinne unserer besseren Einsicht ändern läßt.

Zuvor muß man sich aber mit dem Einwand der Nativisten auseinandersetzen, die der Erziehung jede Wirksamkeit absprechen und die ganze psychische Entwicklung für eine organisch präformierte halten. Die von Freud erhärtete Ansicht, daß eine und dieselbe Sexualkonstitution je nach der weiteren Verarbeitung der Affektzuflüsse verschiedene Ausgänge zuläßt, und daß Kindheitserlebnisse den weiteren Entwicklungsgang mitbestimmen, spricht für die Wirksamkeit des erzieherischen Momentes. Nicht nur ungünstige Zufälle, auch die zielbewußte günstige Beeinflussung, d. i. die Erziehung, kann sich die kindliche Haftbarkeit und Fixierbarkeit nutzbar machen.

Zur Reform der Erziehungsgrundsätze halte ich die Kooperation mit den Kinderärzten, die sich bei der Menge eines großen Einflusses erfreuen, für wünschenswert. Auch könnten sie durch die unmittelbare Beobachtung des kindlichen Seelenlebens neue Stützen für die Schlüsse darbringen, die wir nach Freud aus dem Traumleben Gesunder und den Symptomen Psychoneurotiker auf die Arbeitsweise und den Entwicklungsgang der Kinderseele ziehen. Es ist anzunehmen, daß diese Beobachtungen auch auf die Neurosenpsychologie nicht ohne fruchtbare Rückwirkung bleiben. 

 

Einstweilen scheinen die neuen Lehren dem Verständnis und dem Interesse der Pädiater ganz zu entgehen. Um so interessanter ist es, daß nichtsdestoweniger zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Freudschen Psychologie und den von Freud gar nicht angesteckten pädiatrischen Beobachtungen sich von selbst ergeben.

Nehmen wir das oben zitierte Buch Czernys zum Muster, so sehen wir mit Vergnügen, welch große Wirkung er der richtigen Behandlung des Kindes schon im ersten Lebensjahr für dessen spätere psychische Entwicklung zuschreibt. Mit Freuds Terminologie würden wir die Frage so stellen: soll man überhaupt, und wie soll man das Kind während der fast ausschließlichen Herrschaft des unbewußten psychischen Systems erziehen?

Nach dem, was wir von der späteren Rolle der unbewußten Triebregungen wissen, müssen wir uns auf den Standpunkt stellen, daß man die motorischen Entladungen des Kindes so wenig wie möglich hemmen soll. Von diesem Standpunkte halte ich das auch heute übliche Wickeln, d. h. Fesseln des Kindes, für verwerflich. Das Kind soll sich ›austoben‹. Das einzige, was in diesem Lebensalter einer ›Erziehung‹ gleichkäme, wäre eine richtige Dosierung der auf das Kind einwirkenden äußeren Reize. - Czerny hat vollkommen recht, wenn er die allzufrühe Fesselung der Aufmerksamkeit der Kinder durch starke optische und akustische Reize verurteilt.

Als Beruhigungsmittel erwähnt Czerny das Nahrungsverabreichen, natürlich nur in hygienisch richtigen Zeitabständen, auch hält er das von vielen Ärzten verdammte Schaukeln, Wiegen und Ludein für vollkommen harmlose Maßnahmen. Wüßte er aber von den späteren möglichen Folgen der übertriebenen Reizung einer erogenen Zone und von den sexuellen Nebenwirkungen der rhythmischen Erschütterung, so würde er in all diesen Dingen zur Vorsicht mahnen. Es ist ja sicher, daß die Kinder dieser und ähnlicher Sensationen für ihre volle sexuelle Entwicklung bedürfen, aber eine vernünftige Kinderpflege wird diese im Übermaß nicht unschädlichen Reize quantitativ abstufen müssen.

Interessant ist, daß unser Autor für die Ernährung an der Mutterbrust auch damit argumentiert, daß nur hiedurch jene psychischen Beziehungen zwischen Mutter und Kind zur Entfaltung gelangen, »die man am höchsten schätzt, wenn sie zwischen Eltern und Kindern vorhanden sind«. Eine wahre Beobachtung, zugleich aber eine sehr vorsichtige Umschreibung des ausgesprochen sexuellen Charakters dieser Beziehungen.

Das sexuelle Thema wird in diesem - wie überhaupt allen ähnlichen Werken - sehr stiefmütterlich behandelt; wenige Bemerkungen über die Säuglingsonanie sind alles, was man uns bietet. Wüßten die Kinderärzte nur etwas von Freuds Entdeckungen, so beurteilten sie das Küssen des Kindes auf den Mund nicht nur vom Standpunkte der Infektionsmöglichkeit und hielte z. B. Escherich die Frage des Wonnesaugens durch seine Entdeckung des antiseptischen Borsäureschnullers nicht für erledigt. 

Die einzige Quelle unserer Einsicht in dieses Gebiet sind Freuds ›Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‹. Die dort niedergelegten Erfahrungen müßte man also pädagogisch zu verwerten suchen und darüber nachdenken, ob und wie man die Prävalenz von erogenen Zonen, Partialtrieben, Inversionsneigungen verhüten und übermäßige Reaktionsbildungen hintanhalten soll. Die Pädagogik müßte sich aber vor Augen halten, daß es sich nicht darum handelt, diese beim Aufbau der normalen Sexualität unentbehrlichen Komponenten zu ersticken, sondern nur darum, daß sie die ihnen zugewiesenen Schranken nicht überschreiten. Eine umsichtige Kindererziehung wird es zu erreichen wissen, daß den sexuellen Affektverwandlungen, Verdrängungsschüben die krankmachende Wirkung benommen wird. Das heutige Vorgehen, bei dem man die Kinder in den heftigsten Krisen ihrer sexuellen Entwicklung ohne Stütze und Unterweisung, ohne Erklärung und Beruhigung allein läßt, ist eine Grausamkeit. Die der Intelligenzstufe des Kindes entsprechende sukzessive Aufklärung muß hier Wandel schaffen. Erst wenn die Geheimnistuerei in sexuellen Fragen aufhört, wenn man über die Vorgänge im eigenen Körper und in der eigenen Seele richtige Vorstellungen hat, kann man die sexuellen Affekte wirklich beherrschen und sublimieren, während das ins Unbewußte Verdrängte unserer Kontrolle entzogen ist und als ein wesensfremdes Element die Ruhe des Seelenlebens stört. Der Doppelsinn im Worte >selbstbewußt< beweist, daß das Volk die Beziehung zwischen Selbsterkenntnis und Charakter dunkel ahnen muß. 

Wie man aber der möglichen Durchbrechung der sexuellen Latenzzeit, der Fixierung auto-erotischer Mechanismen, inzestuöser Phantasien, den leider so häufigen Verführungen durch Erwachsene vorbeugen könnte, davon kann ich mir einstweilen keine Vorstellung machen.

Die Methoden der Korrektion: Belohnung, Befehl, Strafe, körperliche Züchtigung, bedürfen einer genauen Revision. Hier wird am meisten gesündigt und oft der Keim späterer Neurosen eingeimpft. 

Daß andererseits auch die Verzärtelung der Kinder seitens Erwachsener, die Überhäufung mit Liebesbezeugungen unheilvolle Spätwirkungen zeugen können, ist jedem, der nur einige Analysen gemacht hat, selbstverständlich. Sind erst die Eltern über die Tragweite all dieser Dinge im Reinen, dann wird gerade ihre Liebe zum Kinde sie von Übertreibungen abhalten. 

Der Entwicklung der Sprachsymbolik und des höheren psychischen Systems, der fast ausschließlichen Objekte der heutigen Pädagogik, wird man selbstverständlich nach wie vor die größte Aufmerksamkeit schenken und die Kinder mit entsprechenden Spielen und rationellem Unterricht beschäftigen. Die Erkenntnis, daß das Denken in Worten eine neuerliche Besetzung des Trieblebens bedeutet, wird die mit der fortschreitenden Bildung parallel steigende Fähigkeit des Kindes zur Selbstbeherrschung den Lehrern erklärlich machen. Die Zügellosigkeit taubstummer Kinder dürfte ja gerade auf den Entgang dieser Überbesetzung zurückzuführen sein. Allenfalls müßte dafür gesorgt werden, daß der Unterricht etwas unterhaltender wird und der Lehrer nicht als gestrenger Tyrann, sondern wie ein Vater - dessen Vertreter er eigentlich ist - mit den Kindern umgeht. 

Ob es je gelingen wird, den Charakter des Menschen durch entsprechende Beeinflussung in der ersten Kindheit zu lenken und zu formen, dies zu entscheiden, wird die Aufgabe einer zukünftigen experimentellen Pädagogik sein. Nach dem, was wir von Freud in allerletzter Zeit erfahren haben - ich denke an den Artikel ›Charakter und Analerotik‹ -, ist eine solche Disziplin nicht ganz undenkbar. Es muß aber noch sehr viel gearbeitet und gelernt werden, ehe man ernstlich daran denken kann, diese Idee in die Tat umzusetzen. 

Doch auch ohne diese neue Hilfswissenschaft wird der Sieg der Freudschen Lehren in der Pädagogik viel Gutes schaffen können. Eine diesen Lehren entsprechende rationellere Kindererziehung wird einen großen Teil der drückenden psychischen Lasten wegräumen. Und werden auch die Menschen - da sie keine so kolossalen Hindernisse mehr zu überwinden haben - auch keine so intensiven Lustbefriedigungen erleben, so wird ihnen dafür ein ruhigeres, heiteres Dasein zuteil, das bei Tage nicht durch überflüssige Ängstlichkeit, bei Nacht nicht durch Angstträume gequält ist.

Anhang I

Was ist Verdrängung? Man könnte sie noch am ehesten damit charakterisieren, daß sie eine Ableugnung von Tatsachen ist. Während aber der Verlogene andere betrügt, indem er die Wahrheit verheimlicht oder nicht Existierendes fingiert, will die heutige Kindererziehung erreichen, daß die Menschen sich selbst belügen, die in ihrem Inneren sich regenden Gedanken und Gefühle vor sich selbst ableugnen. 

Die Psychoanalyse lehrt nun, daß die auf diese Art aus dem Bewußtsein verdrängten Gedanken und Strebungen durchaus nicht vernichtet, sondern im ›Unbewußten‹  aufgespeichert werden und sich im Laufe der Erziehung zu einem gefährlichen Komplex antisozialer und selbstgefährlicher Instinkte einer gleichsam parasitären ›zweiten Persönlichkeit‹  organisieren, deren Tendenzen zu den bewußtseinsfähigen meist diametral im Gegensatz stehen.

Man könnte meinen, diese Einrichtung sei zweckmäßig, da sie das sozial zweckmäßige Denken gleichsam automatisiert, und, indem sie die anti- oder asozialen Strebungen unbewußt macht, deren schädliche Wirkung verhindert. Aber die Psychoanalyse beweist, daß diese Art der Neutralisierung der asozialen Tendenzen unzweckmäßig und unökonomisch ist. Die im Unbewußten verborgenen Strebungen können nur durch das automatische Wirken gewaltiger Schutzvorrichtungen unterdrückt und verborgen gehalten werden, deren Tätigkeit zu viel psychische Energie verbraucht. Die verbietenden und abschreckenden Verordnungen der auf der Basis der Verdrängung stehenden moralischen Erziehung sind mit der posthypnotischen Suggestion einer negativen Halluzination zu vergleichen, denn so wie man bei einem hypnotisierten Individuum mit entsprechendem Befehl erreichen kann, daß es, erwachend, unfähig ist, optische, akustische oder taktile Eindrücke auch nur teilweise aufzunehmen oder sie zu apperzipieren, so wird die Menschheit heutzutage zu introspektiver Blindheit erzogen. Aber der so erzogene Mensch entzieht - gerade so wie der hypnotisierte - dem bewußten Teil seines Ichs viel seelische Energie und beeinträchtigt erheblich seine Funktionstätigkeit einerseits dadurch, daß er in seinem Unbewußten eine andere, sozusagen parasitäre Persönlichkeit ernährt, welche mit ihrem natürlichen Egoismus, ihrer Tendenz zu schonungsloser Wunscherfüllung gleichsam das Schattenbild, das Negativ all des Guten und Schönen bildet, in welchem sich die höhere Bewußtheit gefällt; andererseits dadurch, daß das Bewußtsein zum Schutz vor der Einsicht und Zurkennmisnahme der hinter der vielen Güte verborgenen asozialen Regungen seine beste Kraft vergeudet, indem es dieselben mit moralischen, religiösen und sozialen Dogmen umschanzt. Solche Schanzen sind z. B. Pflichterfüllung, Ehrlichkeit, Schadhaftigkeit, Ehrfurcht vor Autoritäten und den gesetzlichen Einrichtungen usw., mit einem Wort alle jene moralischen Begriffe, welche uns zum Respekt vor dem Recht des Anderen und zur Unterdrückung unseres Egoismus zwingen.

Anhang II

Der Anästhesie hysterischer Frauen und der Impotenz neurotischer Männer entspricht die seltsame und naturwidrige Tendenz unserer Gesellschaft zur Askese (Abstinentismus, Vegetarismus, Antialkoholismus usw.). Gleichwie hinter den übertriebenen Reaktionen der unbewußt Perversen, den krankhaften Reinlichkeitsprozeduren und der Oberanständigkeit verpönte schmutzige Gedanken und abgewehrte libidinöse Regungen lauern, so sehen wir, daß auch hinter der ehrfurcht-gebietenden Maske des überstrengen Moralisten alle jene Gedanken und Wunschregungen unbewußt vorhanden sind, die er bei anderen so stark verurteilt. Die Überstrenge schützt den Moralisten vor der Einsicht in sich selbst und ermöglicht ihm zugleich das geheime ›Ausleben‹ eines seiner verdrängten, unbewußten Wünsche, der Aggressivität. 

Alldies soll keine Anklage sein; die Besten unserer heutigen Gesellschaft sind Menschen dieser Art; es sollte nur gezeigt werden, in welcher Weise die auf die Verdrängung gegründete moralische Erziehung auch in den Gesunden ein gewisses Maß von Neurose hervorruft. Nur auf diese Weise werden solche sozialen Verhältnisse möglich, wo sich hinter dem Schlagwort der Vaterlandsliebe offenbar egoistische Tendenzen verstecken können, wo unter dem Namen Volksbeglückung das tyrannische Unterjochen der individuellen Freiheit propagiert wird, die Religiosität teils als Medikament gegen die Todesangst, teils als eine erlaubte Form der gegenseitigen Unduldsamkeit geehrt; wird und wo schließlich auf dem Gebiete der Sexualität niemand offen, zur Kenntnis nehmen will, was im Geheimen er selber tut. Neurose und hypokritischer Egoismus sind die Folgen der dogmatischen, die wahre Natur des Menschen nicht kennenden, nicht berücksichtigendem Erziehung. Was wir in erster Reihe verurteilen müssen, ist aber nicht der Egoismus, ohne den kein Lebewesen denkbar wäre, sondern die Hypokrisie, dieses bezeichnendste Symptom der Neurose des heutigen Kulturmenschen. 

Es gibt Leute, welche wissen, daß all dies wahr ist, und denen trotzdem bei dem Gedanken bange wird, was wohl von der menschlichen Kultur übrig bliebe, wenn die Erziehung, der Lebenslauf des Menschen nicht mehr durch diese unappellierbaren und keine Erklärung zulassenden dogmatischen Prinzipien überwacht würden. Werden die von ihren Fesseln befreiten egoistischen Triebe nicht alle Werke der Jahrtausende alten menschlichen Kultur vernichten? Gibt es einen Ersatz für den kategorischen Imperativ der Moral? 

Die Psychologie hat uns bereits gelehrt, daß es einen solchen Ersatz wirklich gibt. Wenn am Ende der psychoanalytischen Behandlung der bis dahin neurotisch Kranke die unbewußten, von der herrschenden Moral oder von der eigenen bewußt-moralischen Auffassung verpönten Wünsche und Tendenzen seiner Seele kennengelernt hat: erfolgt die Heilung seiner Symptome. Und dies erfolgt auch dann, wenn der Wunsch, der sich im neurotischen Symptom symbolisch offenbarte, zufolge unbezwingbarer Hindernisse auch weiterhin unbefriedigt bleiben muß. Die Psychoanalyse führt also nicht etwa zur zügellosen Herrschaft der egoistischen, für das Individuum eventuell unzweckmäßigen Triebe, sondern zur Befreiung von den die Selbsterkenntnis hindernden Vorurteilen, zur Einsicht in die bisher unbewußten Motive und zur Kontrolle über die nunmehr bewußt gewordenen Velleitäten [Neigungen].

Die Verdrängung wird durch die bewußte Verurteilung abgelöst, sagt Freud. Die äußeren Verhältnisse, die Lebensführung brauchen sich kaum zu ändern.

Der Mensch mit einer wahren Selbsterkenntnis, abgesehen von dem erhebenden Gefühl, welches ihm dieses Wissen verschafft, wird bescheiden. Gegen die Fehler anderer nachsichtig, zum Verzeihen geneigt, beansprucht er für sich aus dem Spruch »tout comprendre c’est tout pardonner« nur das Verstehen - fühlt sich nicht berufen, zu vergeben. Er analysiert die Motive seiner Affekte und verhindert dadurch, daß sie in Leidenschaften ausarten. Die unter verschiedenen Schlagworten kämpfenden Menschengruppen betrachtet er mit einer Art von heiterem Humor, läßt sich in seinen Handlungen nicht von der großmäuligen ›Moral‹, sondern von der nüchternen Zweckmäßigkeit führen, welche ihn auch anspornt, diejenigen seiner Wünsche, deren Befriedigung die Rechte anderer Menschen beeinträchtigen würde (d. h. welche in ihren Reaktionen für ihn selbst gefährlich werden können), einzuschränken und gewissenhaft zu überwachen, ohne aber ihre Existenz zu verleugnen. 

Wenn ich vorhin behauptet habe, daß heute die ganze Gesellschaft neurotisch ist, so wollte ich damit nicht etwa eine entfernte Analogie, ein Gleichnis aufstellen. Und es ist keine poetische Wendung, sondern meine ernste Überzeugung, daß das einzige Medikament gegen diese gesellschaftliche Krankheit die unverhüllte Einsicht in die wahre und volle Natur des Menschen ist, vornehmlich aber in die heute nicht mehr unzugängliche Werkstatt des unbewußten Seelenlebens; ihre Prophylaxe aber: die auf die Einsicht, auf die Zweckmäßigkeit und nicht mehr auf Dogmen basierte, richtiger erst aufzubauende Pädagogik.