Eckstein, Friedrich (1936): Ältere Theorien des Unbewußten

Seit Eduard von Hartmann sein bekanntes Werk über die „Philosophie des Unbewußten“ veröffentlicht hat, ist es die landläufige Ansicht geworden, daß der Begriff des Unbewußten zuerst von Leibniz für das wissenschaftliche Denken entdeckt worden sei. Man kennt ja seine verschiedenen Äußerungen über die „petites perceptions“, jene kleinsten Bewußtseins-Differentiale, von welchen jedes für sich allein, eben der Kleinheit wegen, nicht bewußt werden könne, während sie durch das Zusammenwirken einer großen Menge oder aber durch eine graduelle Steigerung der Intensität jedes einzelnen zum klaren Bewußtsein vorzudringen vermögen. Die Perzeptionen unserer Sinne müssen nach Leibniz „notwendig eine Art verworrener Empfindung einschließen“, denn, da die Körper des ganzen Universums miteinander in Verbindung stehen, so empfängt der unsere Einwirkungen von allen anderen, und, „wenngleich unsere Sinne sich auf alles beziehen, so ist es doch nicht möglich, daß unsere Seele auf alles im besonderen achthaben kann …“ „Ähnlich kommt ja auch das verworrene dumpfe Rauschen, das man bei der Annäherung an den Meeresstrand vernimmt, von der Anhäufung der Geräusche, die durch das Zurückprallen unzähliger Wellen entstehen … Die unendliche Vielheit der Perzeptionen macht es uns unmöglich, sie voneinander zu unterscheiden, wie man auch bei dem gewaltigen verworrenen Geräusche einer großen Volksmenge die einzelnen Stimmen nicht voneinander zu unterscheiden vermag.“

„So nehmen wir stets ein verworrenes Gesamtergebnis aller Bewegungen wahr, die in uns vorgehen; aber wir apperzipieren sie nur dann distinkt und mit Bewußtsein, wenn, wie in den Anfängen von Krankheiten, eine bedeutungsvolle

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Änderung eintritt.“ Es wäre in der Tat zu wünschen, meint Leibniz, daß „die Mediziner es sich zur Aufgabe machten, diese Arten von verworrenen Empfindungen, die wir in unserem Körper haben, genauer zu unterscheiden“.

Es mußten aber beinahe zwei Jahrhunderte vergehen, bis „die Mediziner“ diese von Leibniz ausgegangene Anregung sich zu eigen gemacht haben, und erst die Psychoanalyse ist imstande gewesen, alle Konsequenzen daraus zu ziehen.

Die hier erwähnten Gedankengänge sind jedem Leibniz-Kenner geläufig; weniger allgemein bekannt scheint aber zu sein, daß schon nahezu anderthalb Jahrtausende vor Leibniz auch ein anderer großer Philosoph, Plotinos, der Begründer der neuplatonischen Schule, eine eigenartige Theorie des Unbewußten aufgestellt hat. Der besondere Reiz dieses Systems liegt in seiner neuartigen Psychologie des Unbewußten und in der Lehre von der Herkunft des Schönen aus diesen Quellen, deren enge Beziehung zu den antiken Mysterien-Kulten offenbar ist. Hierin mag wohl auch der Grund zu erblicken sein, warum gerade Goethe sich mit solchem Eifer dem Studium der Plotinschen Schriften hingegeben hat, so daß diese einen bedeutenden Einfluß auf sein gesamtes Denken gewonnen haben.

Nach Plotin ist die Seele die „Mittlerin“ zwischen dem Reiche der „Ideen“ und der Sinnenwelt; sie ist aber, wie er sich ausdrückt, „nicht in ihrer Ganzheit in das Sinnliche eingetaucht“, und ein gewisser Teil von ihr befindet sich stets in dem unvergänglichen „Intelligiblen“. Der im Sinnlichen befindliche Teil der Seele läßt uns aber nicht zur Anschauung jenes anderen, des „oberen“ Teiles von ihr gelangen.

Wenn wir den Versuch unternehmen wollen, die Sprache Plotins, in beabsichtigter Einseitigkeit, in jene der

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Psychoanalyse zu übertragen, ohne dabei auf die rein logische und erkenntniskritische Bedeutung von Plotins Ausführungen Rücksicht zu nehmen, so müssen wir uns zunächst vor Augen halten, daß das Reich der „Platonischen Ideen“, von dem hier die Rede ist, oder die Welt des „Intelligiblen“, in psychologischer Hinsicht als das Produkt einer Art von „Regression“, eines Zurückfallens in frühe infantile Zustände des Denkens, angesehen werden muß; sei es nun eine Regression des einzelnen Individuums, sei es eine solche des ganzen Menschengeschlechtes zu seinen primitiven Stufen. Es ist die sehnsuchtsvoll herbeigewünschte Traumwelt des Kindheits-Paradieses und des goldenen Zeitalters, mit ihrer besonderen, biogenetisch bedingten, symbolhaften Traum-Logik, wie sie ja auch dem Mythos, den Sagen und Märchen und allem Mysterienwesen zum Grunde liegen. Jeder Traum, jede künstlerische Vision, bringt uns Kunde aus dieser, im übrigen verschütteten, unzugänglichen Welt; aber auch unser gesamtes Denken und unsere Handlungen unterliegen unaufhörlich Einflüssen aus diesen sonst unbewußten Sphären des „Intelligiblen“, die, wie Plotin sich drastisch ausdrückt, nur zum Teil in die Welt der Sinneswahrnehmungen „eingetaucht“ sind.

„Nur dann“, heißt es im achten Buche von Plotins vierter „Enneade“, „tritt der Denkinhalt wirklich in uns hinein, wenn er bis zur Perzeption herab gelangt. Denn nicht alles, was sich in irgend einem Teile der Seele zuträgt, erkennen wir deshalb schon; wir erkennen es vielmehr erst, wenn es die ganze Seele durchdrungen hat.“

„Es kommt nämlich jeder Seele ein niederes, dem Körper zugewandtes, und ein höheres, der Vernunft zugewandtes Vermögen zu; und die ganze, die Allseele, schmückt mit ihrem dem Körper zugewandten Teile das All in müheloser Erhabenheit, nicht mit Überlegung und Berechnung wie wir, sondern vermöge der

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Vernunft, gleich dem künstlerischen Schaffen, wobei nur der niedere Teil des Alls ordnet und schmückt.“

Diese letzten Sätze sind nur richtig zu verstehen, wenn man bedenkt, daß Plotin unter „Vernunft“ die Tätigkeit des intuitiven Erkennens versteht, und daß dieser Begriff der Vernunft bei ihm zugleich auch der der „Freiheit“ ist. Alle „höhere“ Erkenntnis beruht also nach Plotin in einem intuitiv-regressiven Bewußtwerden des Unbewußten, von Inhalten, die sich „in irgendeinem Teil der Seele“ zutragen, und die wir erst zu erkennen vermögen, wenn sie „die ganze Seele durchdrungen“ haben.

Und gerade darin liegt ihre erschütternde, reinigende Wirkung und ihre Bedeutung für die seelische Erneuerung des Menschen. „Auf, lasset uns flieh’n zum geliebten Lande der Väter!“ Vielleicht ist Plotins ganze Lehre in diesem einen, von ihm selbst mit Emphase angeführten Satze Homers enthalten.

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Erschienen in:
Eckstein, Friedrich (1936): Ältere Theorien des Unbewußten. Almanach der Psychoanalyse, 11, 241-244

Redaktion: CD, 29.12.2016