Zur Synthetisierung von Kokain und den Beginn seiner Verbreitung in Europa

Das Alkaloid Kokain, das erstmals von Albert Niemann 1859 synthetisiert werden konnte, wurde zum Ausgangsstoff einer neuen Arzneimittelklasse.

Nach seinem frühen Tod 1861 setzte die Arbeit von Albert Niemann sein Kollege Wilhelm Lossen (1838–1906) fort. Er bestimmte 1862 die Summenformel des Kokains mit C17H21NO4. Lossen beobachtete, dass Kokain, mit Salzsäure versetzt, in Benzoesäure und Ecgonin zerfällt.

Schon 1862 wurde Kokain in der Firma Merck hergestellt und zu einem hohen Preis zum Verkauf angeboten. Merck produzierte anfangs nur einige hundert Gramm und musste die Produktion dann wegen Lieferschwierigkeiten um 1885 unterbrechen, später aber verkaufte Merck Tonnen von Kokain.

In den USA wurde Kokain bereits in den 1870er Jahren medizinisch eingesetzt, vor allem zur Morphin- und Alkoholentwöhnung.
„By 1883, for example, the Index-Catalogue of the Library of the U.S. Surgeon-General’s Office listed well over 50 scientific papers concerned with the therapeutic potential of coca. By 1883, for example, the Index-Catalogue of the Library of the U.S. Surgeon-General’s Office listed well over 50 scientific papers concerned with the therapeutic potential of coca.“ (Petersen, 1977)
Die „Detroit Therapeutic Gazette“ porpagierte Kokain besonder bei der Behandlung der „opium habit“ (ebd.).
„Between 1880 and 1884 the Detroit Therapeutic Gazette published 16 reports of cures of the opium habit by coca. The fluid  extract of coca was admittcd to the U.S. Pharmacopoeia in 1882.“ (Grinspoon et al, 1981)
Nach Greenspoon war damals auch in den USA die Wirkung von Kokain nicht klar definiert, die Qualität der Kokain-Präparate unzuverlässig und „cocaine had not attained the renown some thought it deserved“. Das hätte sich erst 1884 mit der Publikation von Sigmund Freud „Über Cocain“ und der Entdeckung von Kokain als Lokalanästhesie und seine Anwendung bei der Operation am Auge geändert. Freuds Empfehlung von Kokain zur Behandlung von Morphin- und Alkoholsucht, die auf den amerikanischen Publikationen der Detroit Gezatte und eigenen Erfahrungen basierten, hatte beträchtliche Rückwirkung in den USA (Byck, 1974). Obwohl die anästhetische Wirkung von Kokain schon lange zuvor bekannt war, hatte niemand an die Anwendung von Kokain als Anästhetikum in der Chirurgie gedacht. Nun begann eine neue Ära nicht nur in der Augenchirurgie sondern in der gesamten Chirurgie.
Von Juli bis Dezember 1885 erschienen zur Anwendung von Kokain allein im New York Medical Journal 27 Artikel, Berichte und Briefe (Grinspoon, 1981) und Parke publizierte sein 101 Seiten starkes Pamphlet zu „Coca Erythroxylon and It’s Derivatives“.

Sigmund Freud wurde auf die Substanz über Beiträge in der „Detroit Therapeutic Gazette“ aufmerksam, dort wurde sie als Therapeutikum beim Morphinentzug diskutiert. Er kannte auch den Bericht von Aschenbrandt, der bei den Herbstmanövern 1883 die stimulierende Wirkung des Cocains an erschöpften bayrischen Soldaten demonstrierte. Aschenbrandt war schon zuvor, während seiner Zeit am Pharmakologischen Institut an der Universität Würzburg an der Wirkung von Kokain auf Menschen interessiert, die stark und gesund aber erschöpft waren und Hunger und Durst litten. Erst später, während der Manöver konnte er Kokain unter diesen Voraussetzungen einsetzen und es zeigte unter diesen Umständen seine leistungssteigernde Wirkung.

Mit seiner Studie „Über Coca“ (1884e) trug Freud zur Verbreitung von Kokain in Europa in seinen Anwendungen in der Medizin wesentlich bei.
Freud machte entsprechend den damaligen wissenschaftlichen Gepflogenheiten Selbstversuche, Tierversuche, untersuchte und beschrieb die Wirkung von Kokain und verwendete Kokain auch in der Krankenbehandlung gegen Verstimmung, Schwäche, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und Morphiumsucht. Die Anwendung erfolgte oral oder als Lokalinjektion.
Freud verwendete Kokain in einer Dosierung von 50 bis 100 Milligramm über den Selbstversuch hinaus für einige Zeit auch persönlich –  wegen seiner stimulierenden, antidepressiven Wirkung, zur Steigerung seiner Arbeitsfähigkeit und gegen allerlei Beschwerden. Seine Briefe an seine Braut Martha Bernays (1882-1886) zeugen davon. Vieles spricht dafür, dass Freud nach seiner Heirat 1996 seinen Kokainkonsum einstellte.
Aus seinen Briefen an Wilhelm Fließ wissen wir von Kokainpinselungen der Nase in den 1890er Jahren, mit denen entsprechend der Theorie der nasalen Reflexneurose, die Freud eine Zeit lang mit Wilhelm Fließ teilte, unterschiedlichste körperliche Beschwerden gelindert werden sollten.

Merck (Darmstadt) – Parke, Davis & Company (Detroit)
Am 30. April 1884 ließ sich Freud von Merck (Darmstadt)cerstmals – auf Kredit –  1 Gramm Cocain schicken.
Das Kokain, das Merck damals produzierte, war sehr teuer, weil es aus von Lateinamerika importierten Coca-Blättern gewann. 1885 musste Merck, die bisher nur einige 100 Gramm erzeugt hatte, die Produktion wegen Leieerschwierigkeiten ganz einstellen. (Später wird Merck viele Tonnen Kokain verkaufen.)
Parke, Davis & Company (Detroit), das größte Pharmaunternehmen in den USA, die auch die Zeitung „Detroit Therapeutic Gazette“ herausgaben, erzeugten das Kokain in Lateinamerika direkt und damit viel kostengünstiger. Es hatte die gleiche Wirkung wie die Substanz von Merck, war reiner und wasserlöslich.
Freud wird über das Parke-Cocaïn 1885 ein Gutachten erstellen.
Karl Koller - angeregt durch Freud - untersuchte und beschrieb in einer vorläufigen Mitteilung erstmals die lokalanästhetische Wirkung des Kokains am Auge, was schmerzlose Augenoperationen ermöglichte.

Ernst von Fleischl-Marxow hatte sich im Labor eine Infektion an einem Daumen zugezogen, der Daumen musste amputiert werden, es entwickelte sich ein schmerzhaftes Neurom, das weitere Operationen und Schmerzen nach sich zog, die mit Morphium bekämpft wurden. Fleischl wurde süchtig und sein Zustand verschlechterte sich zunehmend.
Als Sigmund Freud 1884 seine Untersuchungen und Experimente mit Kokain aufnahm, berichtete er seinem Kollegen und Freund Fleischl  von der therapeutischen Anwendung des Kokains bei der Behandlung von Morphium-Entzugssymptomen und empfahl ihm Kokain. Nach einer kurzen Besserung war Fleischl bald von beiden Substanzen abhängig und sein Befinden verschlechterte sich trotz der Unterstützung, die er durch Obersteiner, Brücke, Breuer, Exner und Freud erfuhr, immer mehr. Freud, der die Anwendung von Kokain bei der Behandlung der Morphiumssucht empfahl,

Kokain, das man anfangs als unschädlich ansah, fand bald als Droge in Europa weite Verbreitung.

John Pemperton (1831-1888), Apotheker, Oberstleutnant im konföderierten Heer während des US-Bürgerkrieges, begann 1855 mit dem Mixen von Produkten. Seit 1885 morphiumsüchtig interessierte er sich für die Coca-Pflanze, experimentierte mit Mixturen von Coca-Blättern und hoffte, mit ihrer Hilfe vom Morphium loszukommen.
Am 6. Juni 1887 beantragte er für die Coca-Cola-Formel das Patent, das er am 28. Juni 1887 erhielt.
Sein Coca-Cola, als Allheilmittel angeboten, enthielt einen Extrakt aus Coca-Blättern, in dem auch noch Kokain war.,
1891 lagen bereits mindestens 200 Berichte über Cocainintoxikationen vor und 13 Todesfälle wurden bekannt. Bis 1903 enthielt 1 l „Coca-Cola etwa 250 mg Cocain. 1914 wurde in den USA der Zusatz von Cocain in Getränken und rezeptfreien Arzneimitteln verboten und für Cocain auch in den europäischen Staaten strenge Suchtgiftbestimmungen erlassen.“ (Jankovic, 2007)

1905: Albert Einhorn synthetisierte das Procain (Synonym: Novocain, das neue Cocain), das als Lokalanästhetikum wirkt ohne vasokonstriktorisch zu sein. Es wird im Körper rasch abgebaut und ist daher nicht toxisch.

1943: Nils Löfgren (1913–1967) und Bengt Lundqvist gelang die Synthese von Lidocain (Handelsname z.B. Xylocain). Es war das erste Amino-Amid-Lokalanästhetikum

Quellen:

Aschenbrandt, Theodor (1883): Die physiologische Wirkung und Bedeutung des Cocain. muriat. Auf den menschlichen Organismus. Deutsche medizinische Wochenschrift, 9, 12. Dezember 1883, 730-732

Becker, H. K.  (1963): Carl Koller and Cocaine. Psychoanalytic Quaterly, 32, 309-373

Byck, Robert (Ed.) (1974): Sigmund Freud. Cocaine Papers. Introduction by Robert Byck. Notes by Anna Freud. New York: Stonehill

Detroit Therapeutic Gazette, eine Publikation der Parke-Davis Pharmaceutical Company

  • Editorial (1880): Erythroxylon Coca as an Antidote to the Opium Habit. Detroit Therapeutic Gazette,1880, June 15,19-26
  • Palmer, E.R. (1880): Erythroxylon Coca as an Antidote to the Opium Habit. Detroit Therapeutic Gazette,1880, 1, 163–164
  • Hole, James W. (1880): Coca Erythroxylon in exhaustion. Detroit Therapeutic Gazette, October 1880
  • Parke Davis Company (1885): Coca Erythroxvlon and It’s Derivatives. Detroit, New York
  • Holmes, E. W. (1886): Erythroxylon coca and It’s Alkaloid Cocaine. Detroit Therapeutic Gazette 10, 3rd ser., 2, no.8. 1996, 53

Fichtner, Gerhard; Hirschmüller, Albrecht (1988): Sigmund Freud, Heinrich Obersteiner und die Diskussion über Hynose und Kokain. Jahrbuch der PSychoanalyse, 21, 105-137

Fleischhacker, Wilhelm (2006): Fluch und Segen des Cocain. ÖAZ, 60. Jahrgang, Nr. 26, 18.12.2006
https://www.apotheker.or.at/Internet/oeak/newspresse.nsf/ca4d14672a08756...$FILE/OAZ-2006-26.pdf [9.12.2016]

Hirschmüller, Albrecht (Hg.) (1996): Sigmund Freud: Schriften über Kokain. Herausgegeben und eingeleitet von Albrecht Hirschmüller. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996

Friedrich, Christoph (2011): Albert Niemann, Entdecker des Kokains. Pharmazeutische Zeitung online.
http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=36513 [8.12.2016]

Grinspoon, Lester; Bakalar, James, B. (1981): Coca and Cocaine as Medicines: An Historical Review. Journal Ethnopharmacology, 3, 3, 1981, 149-159
http://www.repositorio.cedro.org.pe/bitstream/CEDRO/187/1/1835-BRCM-S.pdf [8.12.2106]

Jankovic, Danilo (2007): Die Geschichte der Regionalanästhesie.In: Regionalblockaden & Infiltrationstherapie – Lehrbuch und Atlas. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag.

Jones, Ernest (1960-1962): Das Leben und wErk von Sigmund Freud. Band 1-3. Bern, Stuttgart: Hans Huber

Markel, Howard (2011): An Anatomy of Addiction. Sigmund Freud, Wiliam Halsted, and the Miracle Drug Cocaine. New York: Pantheon Books

Albert Niemann (1860). „Ueber eine neue organische Base in den Cocablättern“. Archiv der Pharmazie. 153 (2): 129–256

Petersen, Robert C. (1977): History of Cocaine. In: Peterson, Robert C.; Stillman, Richard C. (1977): COCAINE: 1977: NIDA Research Monograph #13. Washington: U.S. Government Pritning Office. 17-32. https://archives.drugabuse.gov/pdf/monographs/13.pdf [8.12.2016]

Swales, Peter (1989): Freud, Cocaine and Sexual Chemistry: The Role of Cocaine in Freud’s Conception of the Libido. In: Spurling, Laurence (Ed.) (1989): Sigmund Freud: Critical Assessments. Volume 1. London: Routledge, 273-30

Tögel, Christfried Hg.) (2015): SFG, Band 1 und Band 2: Editorische Anmerkungen zu Freuds Arbeiten zu Kokain:
1884-07, SFG 1, 273f; 1884-08, SFG 1, 303; 1885-01, SFG 1, 375f; 1885-02, SFG 1, 385f; 1885-03, SFG 1, 397f;  1887-37, SFG 2, 186

http://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Sigmund%20Freud%20und%20das...
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Pemberton [9.12.2016]
https://de.wikipedia.org/wiki/Lidocain

Redaktion: CD, 9.12.2016