Muriel Gardiner - Chronologie

geboren am 23. November 1901 in Chicago
gestorben im Februar 1985 in Pennington, New Jersey

Muriel Gardiner wurde in Chicago geboren und stammte aus einer Industriellenfamilie (Fleischverarbeitung), die in einer schlossartigen Villa mit vielen Dienstboten lebte. Ihr Mutter war von puritanischer Gesinnung, ihr Vater verstarb, als sie (jüngstes von fünf Kindern) elf Jahre alt war. Die Berichterstattung über den Untergang der Titanic 1912, in der vor allem der Tod der Reichen und der Verlust ihrer Juwelen beklagt wurden, ihre erste Schiffsreise und die Beobachtung der zusammengepferchten Menschen auf den Unterdecks machten sie sensibel für soziale Frage. Sie war von der russischen Revolution beeindruckt.

1918 -1922 studierte sie in Boston Literatur und Geschichte, lebe trotz ihres Reichtums bescheiden, engagiere sich in einem Hilfskomitee für das Nachkriegs-Europa, als zeitweilige Präsidentin einer liberal-sozialistischen Studentenorganisation oder durch das öffentliche Eintreten für Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti (die als vermeintliche Terroristen verurteilt und schließlich trotz weltweiter Proteste 1927 hingerichtet worden sind).

1926 kam sie nach Aufenthalten in Italien und Oxford mit ihrer Tochter Connie (aus geschiedener Ehe mit einem Engländer namens Gardiner) wegen der Psychoanalyse nach Wien zu Freud. „I decided to go to Vienna to explore the possibility of being psychoanalyzed by Freud.“ Sie machte schließlich  bei Ruth Mack Brunswick eine Analyse und studierte in Wien Medizin, um Psychoanalytikerin zu werden.

Auf Seiten der Sozialisten engagiert, war sie nach dem Februar 1934 als „reiche Amerikanerin“ ins Zentralkomitee der Untergrundgruppe „Funke“ berufen worden, in der auch ihr späterer Mann Joseph Buttinger arbeitete, den sie im Sommer 1934 kennenlernte. Aus den einzelnen, nach der Zerschlagung der SPÖ sich bildenden illegalen Gruppen setzten sich die „Revolutionären Sozialisten“ durch, deren Obmann Buttinger (Deckname „Richter“) von 1935-1938 war.

Sie arbeitete nach dem Bürgerkrieg 1934 im Untergrund, stellte ihre Wohnungen in der Rummelhardtgasse und in der Lammgasse (nahe der Universität, die sie zum Studieren benützte) und ihr Ferienhaus in Sulz im Wienerwald nach 1934 für konspirative Treffen für untergetauchte Sozialisten zur Verfügung.
Sie war im österreichischen antifaschistischen Widerstand engagiert und verhalf  nach dem „Anschluss“ 1938 vielen mit falschen Pässen und finanzieller Unterstützung zur Ausreise und stellte Gelder für die illegale Parteiarbeit der Sozialisten zur Verfügung.

Selbst nunmehr als „Mischling ersten Grades“ angesehen promovierte sie in Wien im Juni 1938 noch in Medizin und reiste dann nach Paris aus, wo sie wieder Josef Buttinger zusammentraf. Das Paar heiratete und emigrierte 1939 in die USA, wo Muriel Gardiner als Ärztin und Psychoanalytikerin arbeitete.

„Mit Kriegsausbruch wurde Joseph Buttinger wie viele geflohene Deutsche und Österreicher in Frankreich interniert, aber Ende 1939 gelangte er mit Muriel Gardiner (sie hatten in Paris geheiratet) in die USA. Sie waren dann beide jahrelang in der Flüchtlingshilfe engagiert und er konzentrierte sich nach dem Krieg besonders auf die Problematik Vietnams.
Erst mit dem zeitgeschichtlichen Tauwetter anfangs der 70er Jahre wurde der Name Buttinger hierzulande wieder geläufiger und die Arbeiter-Zeitung konnte es sich erlauben, von ihm Artikel zu drucken. Schließlich bekam er sogar noch das „Große goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ und sie - die als Psychiater und Fachpublizistin tätig ist - einen Orden etwas minderer Güte. Anna Freud, deren Vater sie einst als Patientin abgelehnt und an eine Kollegin verwiesen hatte, schrieb ihr, nachdem einmal ein kurzer Bericht über Muriel Gardiners Wiener Zeit erschienen war: I had not known of the intensity of your political activities in Vienna, only in vaguest rumors.“ (Reder, 1983)

Die amerikanischen Dramatikerin Lillian Hellman veröffentlichte 1973 den Memoirenband „Pentimento“, dessen berühmtestes Kapitel “Julia” erfolgreich mit Jane Fonda und Vanessa Redgrave verfilmt wurde. Der Film zeigt, wie Hellman durch ihre heldenhafte Freundin Julia zu heroischer Tat inspiriert wird. “Julia” basiert auf Teilen der Biographie Muriel Gardiners, die Hellman mit frei erfundenen Aussagen über ihr eigenes Leben verknüpfte.

Muriel Gardinger veröffentlichte 1983 ihre Lebenserinenrungen unter dem Titel „Code Name Mary“.
1989 wurde in Wien im 10. Gemeindebezirk Favoriten ein Platz nach ihr benannt, der „Muriel-Gardiner-Buttinger-Platz“.

„Sie blieb, gegen alle Vernunft - scheinbar, um ihr Medizinstudium abzuschließen, mehr noch aber, um ihren Freunden zu helfen. Von diesen ausgehend verbreitete sich die Kunde von ihrer Hilfsbereitschaft und ihrem Mitgefühl zu deren Freunden, zu den Freunden dieser Freunde, schließlich zu allen, die in Schwierigkeiten waren, … bis sie von einer großen Menge potentieller Opfer umgeben war, die in ihr ihre einzige Hoffnung auf Rettung sahen.“
(Anna Freud, zitiert nach Luise Pusch in: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/muriel-gardiner-but...)

Literatur:

Buttinger, Josef (1953): Das Ende der Massenpartei. Am Beispiel Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung. 1953, Neuauflage: Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1972 / englisch: In the Twilight of Socialism, New York, 1953
Buttinger, Josef (1979): Ortswechset. Die Geschichte meiner Jugend, Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1979
Gardiner, Muriel (1972): The Wolf-Man and Sigmund Freud. London:  Hogarth press
Gardiner, Muriel (1976): The Deadly Innocents: Portraits Of Children Who Kill. Vorwort: Stephen Spender. New York. Basic Books.
Gardiner, Muriel: (1983) Code Name “Mary”: Memoirs of an American Woman in the Austrian Underground. New Haven; London. Yale UP.
Hellman, Lillian: (1989) [1973]. Pentimento: Erinnerungen [Pentimento: A Book of Portraits]. Aus d. Engl. von Eva Buchmann. München. Frauenbuchverlag.
Wright, William. 1986. Lillian Hellman: The Image, the Woman. New York. Ballantine. 
Reder, Christian (1983): Twilight of Socialism. Drei Biografien zu Österreichs Zeitgeschichte. Kommentiert von Christian Reder. Falter, Wien, Nr. 20/1983

Tonspur: https://soundcloud.com/ccoh/muriel-gardiner-vienna-1938

Redaktion: CD, 2014 07 02