Erste Annäherungen an die Psychoanalyse - Teil einer Chronolgie zu Jaques Lacan

Die folgende Chronologie basiert wesentlich auf:
Elisabeth Roudinsco (1996): Jaques Lacan. Bericht über ein Leben. Geschichte eines Denkens. Köln: Kiepenheuer & Witsch

Jaques Lacan wurde am 13. April 1901 in Paris als erstes von vier Kindern von Charles Marie Alfred Lacan und Émilie Philippine Marie Baudry geboren. Die Eltern stammten aus wohlhabenden Häusern, sein Vater Alfred arbeitete im Familienunternehmen, das in Orelans einen florierenden Lebensmittelhandel und eine renommierte Essig- und Senfproduktion betrieb, als deren Bevollmächtigter in Paris.
Lacan wird als Liebling seiner Mutter, launenhaft und tyrannisch in seinen Forderungen und später mit seinem, den Vater erniedrigenden, dominanten Großvater in heftigem Streit liegend beschrieben (Roudinesco, 1996, 30)

Erzogen in einem Klima erstickender Religiosität und ständiger häuslicher Konflikte“ (ebd., 31) besuchte er das Collège Stanislas, eine Schule für die Elite des katholischen Bürgertums in Paris. 
Inmitten dieser alten christlichen Festung erhielt so der junge Lacan seine ganze Schulzeit hindurch eine klassische Bildung, die für den Geist der Aufklärung wenig übrig hatte, der Moderne gänzlich verschlossen war und ihr Zentrum in einem christlichen Cartesianismus hatte.“ (ebd., 34)
Er war bestrebt, überall den ersten Platz einzunehmen. „Die Arroganz war der Hauptzug dieses Heranwachsenden, der niemals etwas für die Spiele der Kinderzeit übrig gehabt hatte. […] Aus den Kommentaren der Lehrer für das Jahr 1916-17 läßt sich entnehmen, daß Lacan eher ein Phantast, zudem ein wenig eingebildet, mitunter störend und vor allem unfähig war, seine Zeit zu organisieren und sich wie die anderen zu verhalten.“ (ebd., 35)

Entscheidend für  seine intellektuelle Entwicklung waren sein Lehrer in Philosophie, Jean Baruzi, der ihn mit Spinoza vertraut machte und die Buchhandlung von Adrienne Monnier, in der André Gide, Jules Romains und Paul Claudel Lesungen hielten. Er begann sich für den Dadaismus und den Surrealismus zu interessieren, begegnete André Breton und Philippe Soupalt, hörte um 1923 erstmals von den Theorien Sigmund Freuds, begann auf Deutsch Nietsche zu lesen und war in der Buchhandlung Shakespeare und Co Zeuge der ersten Lesung des Ulysses von James Joyce,

Studien

Jaques Lacan distanzierte sich von den christlichen Werten seiner Familie, wählte schließlich das Medizinstudium und spezialisierte sich in Neurologie und Psychiatrie.
Sein jüngerer Bruder Marc-Marie Lacan fasste 1926 den Entschluss, Mönch zu werden und legte 1931 sein Gelübde ab.

Die aus der Philosophie der Aufklärung entstandene Schule der dynamische Psychiatrie in Zürich, die Psychologie Pierre Janets und die Philosophie Henri Bergsons bildeten zu jener Zeit nach Roudinsco (1996, 41) „eine Konfiguration, die von einem Ideal französischen Kulturbewusstseins beherrscht wurde: man berief sich in der Tat auf eine hypothetische Überlegenheit der sogenannten lateinischen und gewollt universalistischen Zivilisation, um sie einer angeblich minderwertigen, barbarischen oder regionalistischen germanischen Kultur gegenüberzustellen.
Nach Ende des 1. Weltkrieges verstärkte durch eine Germanophobie traf dieses Vorurteil auch die Freudsch Lehre, die des Pansexualismus gezichtigt wurde.
Aber Mitte der 1920er Jahren fasste die Psychoanalyse auch in Frankreich Fuß.
Ihren medizinisch-therapeutisch orientierten Weg nahm sie 1925 über die Bildung der Gruppe Évolution psychiatrique und 1926 mit der Gründung der Société psychoanalytique de Paris.

Parallel dazu griff die literarische und philosophische Avantgarde die Psychoanalyse und ihre erweiterte Lehre der Sexualität begeistert auf,  bestand auf dem Laiencharakter der Psychoanalyse und bewunderte Freud, der den Skandal wagte. Ausgehend vom Dadaismus hatte sich Anfang der 1920er Jahre in Paris die surrealistische Bewegung gebildet. Man erforschte das Unbewusste, übte sich im automatischen Schreiben (écriture automatique), versuchte sich in der Hypnose, der Traum wurde als das Abenteuer dieses Jahrhunderts angesehen. 1924 verfasste André Breton sein erstes Manifeste du surréalisme, den er als „reinen psychischen Automatismus“ definierte.

Einzig das Wort Freiheit vermag mich noch zu begeistern. Ich halte es für geeignet, die alte Flamme, den Fanatismus des Menschen für alle Zeiten zu erhalten. Ohne Zweifel entspricht es meinem einzigen legitimen Wunsch. Unter so viel ererbter Ungnade bleibt uns, wie man zugeben muß, die größte Freiheit, die des Geistes, doch gewährt. Es liegt an uns, sie nicht leichtfertig zu vertun. Zuzulassen, daß die Imagination versklavt wird, auch wenn es um das ginge, was man so leichthin das Glück nennt – das hieße, sich allem entziehen, was man in der Tiefe seiner selbst an höchster Gerechtigkeit findet. Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken?
Bleibt der Wahnsinn, „der Wahnsinn, den man einsperrt“, wie man so trefflich gesagt hat. Dieser oder jener… Jeder weiß in der Tat, daß die Geisteskranken nur auf Grund einer geringen Zahl von gesetzwidrigen Handlungen eingesperrt werden und daß sie ohne diese Handlungen, auf keinen Fall ihre Freiheit (was man schon ihre Freiheit nennt) verlieren würden. Daß sie gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt, ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt, daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie verhängt – sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt. […]
Einzig das Wort Freiheit vermag mich noch zu begeistern. Ich halte es für geeignet, die alte Flamme, den Fanatismus des Menschen für alle Zeiten zu erhalten. Ohne Zweifel entspricht es meinem einzigen legitimen Wunsch. Unter so viel ererbter Ungnade bleibt uns, wie man zugeben muß, die größte Freiheit, die des Geistes, doch gewährt. Es liegt an uns, sie nicht leichtfertig zu vertun. Zuzulassen, daß die Imagination versklavt wird, auch wenn es um das ginge, was man so leichthin das Glück nennt – das hieße, sich allem entziehen, was man in der Tiefe seiner selbst an höchster Gerechtigkeit findet. Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken?
Bleibt der Wahnsinn, „der Wahnsinn, den man einsperrt“, wie man so trefflich gesagt hat. Dieser oder jener… Jeder weiß in der Tat, daß die Geisteskranken nur auf Grund einer geringen Zahl von gesetzwidrigen Handlungen eingesperrt werden und daß sie ohne diese Handlungen, auf keinen Fall ihre Freiheit (was man schon ihre Freiheit nennt) verlieren würden. Daß sie gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt, ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt, daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie verhängt – sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt.
(André Breton (1968): Erstes Manifest des Surrealismus 1924. In: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 11-29. Zitiert nach: http://gams.uni-graz.at/archive/get/o:reko.bret.1924/sdef:TEI/get [17.4.2014])
 

Am 4. November 1926 stellte Lacan erstmals vor der Société neurlogique einen Kranken mit einer Blickstarre vor. 
Lacan, Jaques; Alajouanine, Th.; Delafontaine (1926): Fixité du regard avec hypertonie, prédominant dans les sens vertical avec conservation des mouvements automatic-réflexes; aspect spécial du syndrome de Aprinaud par hypertonie associé à un syndrome extrapyramidal avec troubles pseudo-bulbaires. Revue neurologique, II, 1926, 410-418

Am gleichen Tag wurde auch die Société psychoanalytique de Paris gegründet. Ihre 10 Gründungsmitglieder waren René Allendy, Marie Bonaparte, Adrien Borel, Henri Codet, Angelo Hesnard, René Laforgue, Rudolph Loewenstein, Georges Parcheminey, Édouard Pichon, Eugénie Sokolnicka.
Lacan wird erst später Kontakt zur psychoanalytischen Gruppe finden.

Von 1927 bis 1931 – bildete er sich am Sainte-Anne Krankenhaus in Neurologie und Psychiatrie aus.
Danach arbeitete er im Krankenrevier der Polizeipräfektur, wohin akute, gefährliche Kranke gebracht wurden.
In den zwei Jahren am Krankenhaus Henri-Rouselle diplomierte Lacan als Rechtsmediziner und praktizierte 1930 für zwei Monate im Burghölzli.
Danach kehrte er als Assistenzarzt an das Sainte-Anne zurück, wo er neben anderen auf Henri Ey und Henri Frédéric Ellenberger traf, der in einem Brief an Roudinsco vom 24.1.1990 ein wenig schmeichelhafte Bild von Lacan zeichnete. (ebd., 45)

Trotz aller theoretischen Errungenschaften wurden in den Irrenanstalten von Paris die Kranken weiter weggesperrt und Repressalien ausgesetzt.
Zu den wichtigsten Lehrern Lacans während seiner psychiatrischen Ausbildung zählten:

  • Georges Dumas, ein expliziter Gegner der Psychoanalyse, der wöchentlich in virtuose Demonstrationen Geisteskranken vorführte.
  • Henri Claude, Chef der Klinik und Lehrstuhlinhaber, Beschützer einer Psychoanalyse, die dem romanischen Geist verpflichtet war (Roudinesco, 19566, 51). Er betraute René Laforgue mit der Einrichtung einer Beratungsstelle, in der u.a. auch Eugénie Sokolnicka mitarbeitete. Von hier nahm die dynamische Schule in Frankreich ihren Ausgang, deren führender Vertreter Henri Ey werden sollte.
  • Gaetan Gatian de Clérambault, bis zu seinem Selbstmord 1934  Chefarzt der geschlossenen psychiatrischen Abteilung der Polizeipräfektur, schillernde Persönlichkeit, Frauenverächter mit einer Leidenschaft für die Drapierung von Stoffen bei arabischen Frauen, unbedingte Gefolgschaft einfordernd. Er beschrieb das Syndrom eines mentalen Automatismus und charakterisiert die Erotomanie, die er als leidenschaftlichen Wahn verstand, dem eine keusche Liebe und gewaltige sexuelle Selbstüberschätzung zugrunde liegt – Sujet von Romanen und spektakulären Krankengeschichten. „Trotz seine Konservativismus  in der Lehre Teilte Clérambault  mit Freud und den Surrealisten die Vorstellung, daß Wahnsinn und Wahrheit, Vernunft und Irrsinn, Kohärenz und Regellosigkeit jeweils eine gemeinsame Grenze haben.“ (ebd., 54)

1928 legten Marie Bonaparte und Rudolph Loewenstein eine Übersetzung von Freuds „Dora“ vor.
Lacan stellte am 2. November 1928 mit Maurice Trénel den Fall einer Bretonin vor, deren Bein beim Einsturz ihres Hauses eingeklemmt wurde und die im Gefolge in bizarren tänzerischen Bewegungsstereotypien verhaftet blieb. Lacan sprach von einer „Abasie chez un traumatisée de guerre“ (Abasie einer Kriegstraumatisierten). 1933 sah er nachträglich darin einen Fall von Hysterie.
Lacan, Jaques; Trenel, Maurice (1928): Abasie chez un traumatisée de guerre. Revue neurologique, I, 1928, 233-237

Lacans neurologische Publikationen aus dieser Zeit:
Lacan, Jaques; Lévy-Valensi; J.; Meignant, M. (1928): Roman polcier. Du délire type halluzinatoire chronique au délire d’imagination. Revue neurologique, I, 1928, 738-739; weiters in: Annales médico-psycholoiques, I, 1928, 474-476; und in L’Èncephale, 5, 1928, 550-551
Lacan, Jaques; Marchand, L: Courtois, A. (1929): Syndrome comitio-parkinsonien encéphalitique. Revue neurologique, II, 1929, 128; weiters in: Annales médico-psycholoiques, II, 1929, 185, und in: L’Èncephale, 7, 1929, 672
Lacan, Jaques; Heuyer , G. (1929): Paralie générale aves syndrome d’automatisme mental. L’Èncephale, 9, 1929, 802-803
Lacan, Jaques; Torgowla, R. (1930): Paralysie général prolongée. L’Èncephale, 1, 1930, 83-85
Lacan, Jaques; Cortois, A. (1930): Psychose halluzinatoire encéphalitique. Annales médico-psycholoiques, I, 1930, 284-285; weiters in: L’Èncephale, 4, 1930, 331
Lacan, Jaques; Schiff, P.,; Schiff-Wertheimer (1930): Troubles mentaux homodromes chez deux fréres hérédosyphilitiques. L’Èncephale, 1, 1931, 151-154
Crisis toniques combinées de protrusion de la langue et de trismus se produisant pendant le sommeil chez une parkinsonienne post-encéphalitique. Amputation de la langue consécutive. L’Èncephale, 2, 1931, 145-146; weiters in: Annales médico-psycholoiques, II, 1930, 420

1930 veröffentliche André Breton sein zweites surrealistisches Manifest, in dem er den Surrealismus nunmehr als eine sozial-revolutionäre Bewegung verstanden wissen wollte: „Marx sagt, die Welt verändern. Rimbaud sagt, das Leben verändern.“

Salvtore Dalí stellte in der von ihm und Breton gegründeten Zeitschrift Le Surréalisme au service de la révolution eine eigenständige Theorie der Paranoia vor: L’ane pourri [Der Eselskadaver]: „Durch einen eindeutig paranoischen Vorgang ist es möglich geworden, ein doppeltes Vorstellungsbild zu erhalten: das heißt die Darstellung eines Gegenstandes, die ohne die mindeste figürliche oder anatomische Veränderung gleichzeitig die darstellung eines anderes, völlig verschiedenen Gegenstandes ist, auch sie frei von jeder irgendwie gearteten Verzerrung oder Anomalität, die auf ein Arrangement schließen ließe.“ (Dali, 1930, zitiert nach Roudinesco, 1996, 61) Als Deutung der Wirklichkeit verstanden ist für Dalí der Wahn eine schöpferische Aktivität.
Lacan bat Dalí um eine Unterredung und hörte dessen Ausführungen zum Wahn aufmerksam zu.

In dieser Zeit übersetzte Lacan auch Freuds Arbeit von 1922 „Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität“, die in der Revue francaise des psychoanalyse erschien.

Lacan beschäftigte sich als nächstes mit der Auffassung von Clérambault, beschrieb die pathologische Selbstüberschätzung, Misstrauen, Urteilsverfälschung, Misstrauen, Unangepasstheit und ergänzte diese um das Konzept eines „ Bovarismus“ (Glaube an den freien Willen, Unbefriedigtheit, Phantasien, jemand anders zu sein), das auf Jules de Gaultier 1902 zurückging und 1925 von Genil-Perrin verwendet wurde, der in der Paranoia einen pathologischen Bovarismus sah. Hier erstmals zitierte Lacan wohl Freud, wusste aber mit ihm noch wenig anzufangen.
Lacan, Jaques (1931):  Structures des psychoses paranoiaques. [Strukturen paranoischer Psychosen]. Semaine des hopitaux de Paris, 7.7.1931, 347-445

Nun aber den Ansichten Claudes folgend stellte Lacan zusammen mit Pierre Magault am 21.3.1932 vor der Société médico—psychologique zwei Fälle vor; den Simulationswahnsinn von zwei Mutter-Tochter-Paaren.
Lacan, Jaques; Migeault, Pierre (1931): Folies simulatanèes. Annales médico-psycholoiques, I, 1931, 483-490

Im November 1931 stellt Lacan zusammen mit Lévy-Velensi und Migeault neuerlich die Krankengeschichte einer erotomanen Kindergärtnerin vor, die die Sprache weiterentwickeln wollte und bizarre Schriften verfasste, bei denen die Autoren ein Syndrom mentalen Automatismus feststellten, durchaus ähnlich den Schriften von Breton und Èluard, bei denen Automatismus und Intentionalität zusammentrafen.
Lacan schwankte zu dieser Zeit in seinem Verständnis des Wahns zwischen dem Konzept der Konstitution und der Struktur und einer Auffassung, der von einem sprachschöpferischen Akt - intentional und einem „anderen Schauplatz“ entsprungen – ausgeht. Den Ausdruck „Schizophasie“ hat 1913 Kraepelin eingeführt. Lacan berief sich aber auch auf Delacroix (Lehrer Satres in Philosophie), der wiederum 1930 den „Cours de linguistique générale“ von Ferdinand de Saussure von 1915 zitiert. Hier also kommt Lacan erstmals mit der Theorie der Sprache von Saussure in Kontakt.
Lacan, Jaques; Lévy-Velensi; Pierre Migeault (1931): Troubles du langage écrit che une paranoiaque présentant des élements délirants du type paranoide (schizographie). Zusammenfassung in: Annales médico-psychologiques, II, 1931, 407-408. Zusammenfassung  unter dem Titiel: délire et écrits à type paranoide chez une malade à présentation paranoiaque. èncephale, 10, 1931, 821

Lacan, Jaques (1931): Ècrits inspirés: schizographie. Annales médico-psychologiques, II, 1931, 508-522. Erschienen in: De la psychose paranoiaque dans ses rapports avec la personalité, 1932. 2. Auflage: Paris: Seuil, 1975, 365-382

Lacan, Jaques; Ey, Henri (1931): Parkonsonisme et syndromes démentiels (protusion de la langue dans un des cas. Annales médico-psycholoiques, II, 1931, 418-428

In seinen Überlegungen zur Paranoia konzentrierten seine Kenntnisse der Psychiatrie, von Freuds Theorien, der surrealistische Ansatz und sein philosophischen Kenntnisse zusammen, die er in seiner „thèse de doctorat en médecine, Faculté médecine de Paris“ 1932 vorlegte.
Lacan, Jaques (1932): De la psychose paranoiaque dans ses rapports avec le personalité. (thèse de doctorat en médecine, Faculté médecine de Paris). Paris: Le Francois. 2. Auflage: Paris: Seuil, 1975 und in der Taschenbuchreihe Points, 1980

Thése, 1932:

Im Zentrum seiner Dissertation De la psychose paranoiaque dans ses rapports avec le personalité  [Über die paranoische Psychose in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit] steht die Krankengeschichte einer an Erotomanie erkrankten Frau, die am 18. April 1931 am Höhepunkt einer wahnhaften Entwicklung, beseelt von einer unerfüllbaren Liebe zu einem hohen Herren, gescheitert in ihrem Versuch, als Schriftstellerin Paris zu erobern, eine berühmte Schauspielerin mit einem Küchenmesser angriff und sie am Finger verletzte.Daraufhin wurde sie zuerst in das Frauengefängnis von Saint Lazare und dann im Juni 1931 nach Saint-Anne verlegt wurde, wo Lacan auf sie traf.

Lacan nannte die Patientin in seiner „thèse“ Aimée, ihr Name war Marguerite Pantaine, verheiratete Anzieu. Sie war die Mutter von Didie Anzieu, der sich viele Jahre später bei Lacan einer Analyse unterziehen, sein Mitarbeite und danach sein Kritiker werden wird.
Das Schicksal von Marguerite Pantaine,  ihre Lebens- und Krankengeschichte fasste Elisabeth Roudinesco 1996 (S. 63-92) zusammen.
Diese Geschichte reihte sich ein in eine Reihe von berühmten Fallgeschichten, die Ähnlichkeiten auch mit einem anderen Fall, der damals die Zeitungen füllte, hatte: Marie-Félicité Lefevbre hatte auf ihre Schwiegertochter geschossen, wurde als zurechnungsfähig angesehen und dafür zum Tode verurteilt. Marie Bonaparte setzte sich im Namen der Psychoanalyse für die psychisch kranke Frau ein und der Fall wurde von ihr in der ersten Nummer der Revue francaise des psychoanalyse kommentiert.

Als Ergebnis der Gespräche, die Lacan mit der Patientin über ein Jahr führte, entwarf er einen Fall von Selbstbestrafungsparanoia, der, wie Roudinsco (1966, 82) anmerkte, mehr mit seiner Lehre zu tun hatte, als mit ihrem wirklichen Schicksal, „ohne je eine andere Wahrheit hören zu wollen, als eine, die seine Hypothesen bestätigte.“

In den Details seiner Ausführungen entlehnte Lacan die klinischen Begriffe bereits aus der Psychoanalyse, ging vom Primat des Unbewussten aus und verstand im Freudschen Sinn den Menschen als zwar frei, aber nicht als Herrn im eigenen Haus.
In seiner theoretischen Argumenten stützte er sich aber auf die Philosophie. Von den „drei Ursachen – der Causa efficiens, der Gelegenheitsursache und der spezifischen Ursache ausgehend, verstand  er die Psychose als vielfach determiniert.
Mit seinem Konzept der Selbstbestrafungsparanoia wollte er die nosologischen Kriterien der Psychiatrie erweitern. Von deren  repressiven Maßnahmen distanzierte er sich, in der Tradition der Aufklärung und der dynamischen Psychiatrie stehend, ging er aber nie soweit, sich für die Verbesserung der Behandlung von Geisteskranken einzusetzen.
Auch wenn er die psychoanalytische Kur und ihren prophylaktischen Wert hervorhob, verwahrte er sich strikt gegen die Integration der Psychoanalyse in die Psychiatrie – sonder wies im Gegenteil schon damals das Primat dem Freudschen Unbewussten zu.
Weiters verwahrte er sich gegen die Abwertung der deutschen Philosophie und den französischen Chauvinismus, trat für eine wissenschaftliche Vorgehensweise ein und schloss sich damit den Auffassung der Surrealisten an.
Lacan legte damit eine erste Synthese zwischen den beiden großen Strömungen der Psychoanalyse in Frankreich vor -  die der Psychiatrie und der Therapie und die der Philosophie und Kunst, repräsentiert vor allem von der Surrealisten.

Die theoretischen Überlegungen der thése basierten auf fünf Begriffen:
Persönlichkeit : Inspiriert von Georges Politzer, 1928, Critique des fondements de la psychologie [Kritik der Grundlagen der Psychologie], ohne ihn zu zitierten, entlieh er den Begriff von Ramon Fernandez und handelte ihn entlang der biografischen Entwicklung, der Konzeption seiner selbst und der Spannungen der sozialen Beziehungen ab. Damit entwarf er ein Subjekt, das immer noch der psychiatrischen Phänomenologie verpflichtet war.
Psychogenie: Sich auf Henri Eys Arbeit über den mentalen Automatismus beziehend, nverband Lacan die Organisation der Persönlichkeit mit dem begriff Psychogenie und schuf im Sinne des Dynamismus eine gewisse Distanz zum Konstitualismus. So war für ihn die Ätiologie der Paranoia und der Psychose in der Lebensgeschichte und den Beziehungen des Subjekts begründet, auch wenn organische Aspeke die Symptomatologie beeinflussten. Im weiteren stütze er sich auf Eugène Minkowski (Gründungsmitglied der Évolution psyciatrique).
Prozess: Karl Jaspers Übersetzung der Allgemeinen Psychologie erregte 1928 großes Aufsehen. Ihm auf eigenwillige Weise folgend den Wahn im Kontext eines Prozesses als eine kausale Verkettung und damit als etwas Erklärbaren anzusehen, erlaubte es Lacan, die Dichotomie zwischen Verstehbarem und Erklärbarem aufzuheben.
• Parallelismus: Lacan bezog sich auf Spinozas Parallelismus (2. Buch der Ethik), der in seiner Erklärung der Einheit von Seele und Körper auf die Einheit zwischen dem Mentalen und dem Physischen nicht im Sinnen einer Korrespondenz sondern einer Übersetzungsbeziehung abzielte. Lacan sah die Persönlichkeit weder „den Vorgängen des zentralen Nervensystems noch gar der bloßen Gesamtheit der somatischen Vorgänge des Individuums, sondern der durch das Individuum und durch seine eigene Umwelt gebildete Gesamtheit ‚parallel’.“ (Lacan, 1932, zitiert nach Roudinsco, 1996, 94) Lacan sah im mentalen Phänomen nur ein Element unter anderen. „Weder phänomenologisch noch ontologisch noch konstitutionalistisch: das war ex negativo die spinozistische Konzeption Lacans im Jahre 1932.“ (Roudinesco , 1996, 94)
• Diskordanz: Letztlich eine materialistische Position einnehmend wird diese Sichtweise von den Surrealisten begeistert aufgenommen, die den Wahn nicht mehr als eine defizitäre Anomalie sondern als eine Differenz / Diskordanz in Hinblick auf die normale Ersönlichkeit verstand. Der Begriff Diskordanz wurde ursprünglich von Philippe Chaslin zur Beschreibung der voneinander scheinbar unabhängigen Symptome der Hebphrenie und des Wahnsinns verwendet, die schließlich in der Diagnose der Demenz zusammenliefen. Zur gleichen Zeit sprach man von Dissoziation, 1911 prägte Bleuler den Begriff Schizophrenie. Diese Begriffe bezogen sich auf eine Ätiologie der Psychose, die von einem Defizit ausging. Lacan nun schleuste über eine eigenwillige Übersetzung den Begriff der Diskordanz im 3. Buch der Ethik Spinzoas ein, um zu betonen, dass die pathologischen und normalen Affektionen Momente ein und desselben Wesen sind, das ihre Diskordanz erst definiert. Damit näherte er sich dem Freudschen Konzept der innerpsychischen Ichspaltung an, bei dem das Subjekt von einem Teil seiner Vorstellung getrennt ist.

Lacans Verhältnis zu den Texten, auf die er sich bezog:
Begriffe entlehnt  er nicht sondern übersetzt sie und weist ihnen damit eine neue – seine eigene - Bedeutung zu, die er im Gefolge als die einzig mögliche, wahre verabsolutierte und wies damit eine kritische Haltung den wissenschaftshistorischen Ansatz zurück.

Zur Rezeption:
Beeinflusst auch von Dalí wies er nun die Annahme eines Automatismus zurück und rehabilitierte Paranoia als diskordantes Äquivalent der normalen Persönlichkeit.
Seine thése zeugte von surrealistischen Positionen, ohne diese und ihre Vertreter beim Namen zu nennen, wohl weil diese von seinen psychiatrischen Lehrmeistern und der psychoanalytischen Orthodoxie abgelehnt wurden.
Das half jedoch nicht.
Seine thèse, verteidigt im November 1932 vor 80 Personen, wird von den Analytikern in Paris gänzlich ignoriert werden, was Lacan nicht davon abhielt, sie Freud zu schicken, der ihm lapidar deren Empfang mit einer Postkarte bestätigte.

Seitens der Psychiatrie reagierte als erster Henri Ey mit einer für L’Enc’ephale verfassten, sehr positive Besprechung.
Aber Lacan hat mit seiner thèse nicht in die Geschichte der Psychiatrie eingeschrieben, weder lieferte er, wie nach diesem Text zu erwarten war, eine neue Theorie der Persönlichkeit noch bereicherte er die Nosologie um eine Selbstbestrafungsparanoia.

Vielmehr war des ie literarische Szene, die Lacans thèse begeistert begrüßte und ihn als Vertreter einer materialistischen Anschauung der seelischen Vorgänge aufnahm. Dies trug wesentlich dazu bei, „aus Lacan den Meisterdenker einer zukünftigen französischen psychoanalytischen Bewegung zu machen, die imstande war, mit dem chauvinistischen und konservativen Ideal der Älteren zu brechen.“ (ebd., 103)
Paul Nizan veröffentlichte am 10.2.1933 in L’Humanité ein Besprechung.
Im Mai 1933 folgte ein Artikel von René Crevel in Surréalisme au service de la Révolution.
Im Juni 1933 wurde Lacans Text von Salvator Dalí in der ersten Nummer des Minotaure geehrt.
Jean Bernier schriebe einen Betrag für La critique sociale, in dem auch kritische Töne wegen Lacans dunklem Stil, mangelnder Reflexion von Aimées infantiler Sexualität und der Dürftigkeit des therapeutischen Aspektes anklangen.

Lacan, wiewohl theoretisch schon etwas mit Freud vertraut, betonte, dass er mit Aimée keine psychoanalytische Kur durchgeführt hatte.
Seine eigene Lehranalyse bei Rudolph Loewenstein begann im Juni 1932.
Lacan wird 1934 membre adhérent (außerordentliches) und 1938 membre titulaire (ordentliches Mitglied) der Société psychoanalytique de Paris werden.

Société Psychanalytique de Paris
IV. Quartal 1934

16. Oktober. Eröffnungssitzung unter dem Vorsitz des Präsidenten Dr. A. Borel. M.
Malinowski, der eben von einer Forschungsreise nach Afrika zurückgekehrt ist, ist als Gast anwesend. Die Gesellschaft nimmt die Kandidatur von Mme. Odette Codet und Dr. Lacan zur Kenntnis. Der Zusammentritt der IX. Tagung französischer Psychoanalytiker wird auf Ende Jänner 1935 verschoben.
Wissenschaftliche Sitzung. Dr. R. Loewenstein: Quelques réflections sur les troubles de la puissance. Da der Inhalt dieser Arbeit die Dissertation zum staatlichen Doktorat wiedergibt, muß der Text unveröffentlicht bleiben.
20. November 1934: „Mme. Codet und Dr. Lacan werden einstimmig zu außerordentlichen Mitgliedern gewählt.

(IZP / XXI / 1935  /159)
Redaktion: CD, 17.4.2014