IZP, XIV: III. allgemeiner ärztlicher Kongreß für Psychotherapie in Baden-Baden

IZP, XIV, 1928, 280-281:
III. allgemeiner ärztlicher Kongreß für Psychotherapie in Baden-Baden,
20. bis 22. April 1928

„Man könnte von einem ärztlichen Kongreß für Psychotherapie zweierlei erwarten: entweder die Vermittlung elementarer psychotherapeutischer Kenntnisse für den praktischen Arzt, die Aufdeckung der neuen Problemlage, die durch die Erkenntnis des Hineinragens der unbewußten psychischen Vorgänge auch in das Somatische entstand, oder den Versuch, eine Auseinandersetzung zwischen den bestehenden Richtungen heutiger Psychotherapie anzubahnen. Dieser Kongreß, wie schon die früheren, hatte sich offenbar das letztere zum Ziel gesetzt.

Diesmal stand die Individualpsychologie zur Diskussion.
Es ist bedauerlich, daß die Möglichkeit einer wirklichen Auseinandersetzung dadurch erschwert wurde, daß die Probleme auf ein Niveau verschoben wurden, wo sie am wenigsten wirklich angreifbar sind, nämlich ins Weltanschauliche.
Nicht konkrete Fragen der Praxis wurden erörtert, kaum psychologische Theorien entwickelt, sondern abgeschlossene philosophische Systeme als private Denkresultate standen einander gegenüber. Zunächst machte sich eine gewisse Annäherungstendenz zwischen individualpsychologischen und psychoanalytischen Referenten bemerkbar. Künkel betonte, daß die finale Betrachtungsweise nicht genügt, um die Probleme der Neurosenätiologie zu erschöpfen, auch kausale Faktoren müssen berücksichtigt werden, doch strebt er eine Vereinigung finaler und kausaler Gesichtspunkte in einer dialektischen Methode an. Schultz-Hencke zeigte, daß sämtliche Thesen der Individualpsychologie in der Psychoanalyse enthalten sind; sie werden nur aus einem umfassenden Gebiet einseitig herausgehoben und mit dem Anspruch aufgestellt, die Fülle der Probleme zu lösen. Eine Aufgabe, die notwendig zum Scheitern verurteilt ist. Der Scheinfriede, kaum hergestellt, wurde nun vollends zerstört durch Schilders prinzipielle, sehr treffende Kritik der bekannten Lehre der Organminderwertigkeit. Nun sprach sich auch von individualpsychologischer Seite Adlers gegen eine Verständigung aus, da man einander so kraß widersprechende Denkweisen wie Psychoanalyse und Individualpsychologie doch nicht durch Kompromisse überbrücken kann.

Als zweites Hauptthema war das Problem des Charakters vorgesehen. [Hervorhebung Redakion psyalpha]
Hauptreferenten waren Klages und Haeberlin aus Basel. Es ist anerkennenswert, daß die Kongreßleitung mit der Einladung zweier Nichtmediziner zeigen wollte, daß die Psychotherapie sich von der Enge rein ärztlichen Denkens lossagen muß. Doch die Art, wie die Referenten ihr Thema behandelten, bleibt für die psychopathologische Problematik ziemlich steril. Über Entwicklung, Aufbau der Charaktere haben wir wenig gehört, anstatt dessen wurde Metaphysik geboten, noch dazu, von Klages, eine recht zweifelhafte. Simmel betont in einer Diskussionsbemerkung mit vollem Recht, daß man erwarten
könnte, diese Fragen auf einem ärztlichen Kongreß für Psychotherapie aus dem Aspekt einer klinischen Kasuistik dargestellt zu hören, wie sie sich dem Arzte spontan darbieten. Aus der Fülle der Vorträge, die teils die Hauptthemen, teils selbständige Fragen behandelten, seien hier nur zwei hervorgehoben, Groddeck sprach über seine Erfahrungen aus einer zwanzigjährigen psychotherapeutischen Praxis. Bei ihm fühlte man, was in den meisten Vorträgen fehlte: lebendige Erfahrung, sicheres Wissen um die Grundtatsachen der erkrankten Seele und die Kraft einer großen ärztlichen Persönlichkeit. Kurt Lewin sprach über die Beziehungen heutiger experimentell-psychologischer Forschung zu den Problemen der Psychotherapie. Er berichtete über seine Experimente aus dem Gebiet der Trieb- und Affektpsychologie und zeigte, daß man an diese schwierigen Fragen der Forschung nicht ohne Aussicht auf Erfolg mit der Forderung der Exaktheit herantreten muß. Der Kongreß schloß mit der begrüßenswerten Versicherung der Kongreßleitung, bei dem nächsten Zusammentreffen den klinischen Gesichtspunkten mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“
Gerö (Wien)

Redaktion: CD, 2013