Elisabeth von Samsonow: Francois Tosquelles und seine Bedeutung für das Denken von Félix Guattari

„Psychoanalyse als fröhliche Wissenschaft“:
Abschiedssymposium für August Ruhs: 16. September 2011

mit Dank an Angela Melitopoulos und Maurizio Lazzarato, die mich mich Francois Tosquelles bekannt gemacht haben

„Die Erneuerungstendenzen in der französischen Psychiatrie gingen aus vom Krankenhaus Sait-Alban, im hintersten Winkel der Lozère. Unter dem Einfluss von Dr.Francois Tosquelles – einem nach Frankreich geflüchteten katalanischen Revolutionär – machten mehrere Generationen von Psychiatern außergewöhnliche Erfahrungen mit der Transformation eines traditionellen Krankenhauses. Vom Kampf gegen den Hunger im Jahre 1941, der materiellen Veränderung des Krankenhauses bis hin zur Einführung psychotherapeutischer Techniken in die Institution, von der Anwendung der Theorien über die Arbeitstherapie von Hermann Simon, der Organisierung des sozialen Lebens, der Gründung des ersten ‚Therapeutischen Klubs’, dem Entwurf einer lokalen Bezirkspolitik, einer neuen Sicht der Probleme des psychotischen Kindes bis zur Ausbildung der Pfleger etc. gibt es keinen für die heutige Arbeit  wichtigen Bereich, der nicht in Saint-Alban erforscht worden wäre.“[1]
(Félix Guattari aus: Über die Beziehungen zwischen Pflegern und Ärzten. Ein Diskussionsprotokoll. FN [2])

Mein Text hat drei Teile:

Der erste beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Psychiatrie und Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert. Hier gilt es etwas auszuholen, damit leichter verständlich wird, was ich im zweiten Teil meines Vortrages in Bezug auf Guattari sage.
Im zweiten Teil gehe besonders auf die Klinik von St.Alban ein, nach deren Vorbild La Borde von Jean Oury 1951 gegründet wurde. Félix Guattari ist auf einem Diwan der Klinik von La Borde gestorben. Das bedeutet etwas. Ich glaube, dass Guattaris Arbeit in Zusammenhang mit der psychiatrischen Praxis von La Borde verstanden werden muss oder erst verständlich wird. Francois Tosquelles wäre heuer 100 Jahre alt geworden wäre. Es kann also das Jahr 2012 auch dazu dienen, Tosquelles ein Denkmal zu setzen, was ich hiermit versuche zu tun.
Über die Geschichte von Saint-Alban oder La Borde wissen die Menschen außerhalb Frankreichs so gut wie nichts. Im Zuge meiner Vorarbeiten zu diesem Text hat sich herausgestellt, dass keine von Österreichs Bibliotheken über ein Werk von Tosquelles verfügt. Es gibt nur eine längst vergriffene deutsche Übersetzung.
Die Schriften von Francois Tosquelles sind das eine; viele gibt es nicht, - die wichtigsten: Èducation & psychothérapie institutionelles und Enseignement de la folie - : im Verhältnis zu dem, was er in einer Reihe von im Film aufgezeichneten Interviews von sich gegeben, man müsste vielmehr sagen: statuiert hat, wirken sie eher zurückgenommen und akademisch. Ich konzentriere mich in meinem Vortrag auf die Beziehung zwischen dem Denken Guattaris und der institutionellen Psychiatrie, vertreten durch Tosquelles, und lasse die politischen Konsequenzen und Aktionen der sechziger und siebziger Jahre, von denen Bifo bedeutend mehr weiss als ich, beiseite.
Im dritten Teil meines Textes gehe ich näher auf Guattaris Konzept der Schizoanalyse auf dem Hintergrund der institutionellen Psychiatrie ein.
Alle drei Teile zusammengenommen werden dann, so hoffe ich, deutlich machen, dass und warum Guattaris Beitrag zur Philosophie bzw. innerhalb des gemeinsam mit Deleuze verfassten Werkes einen ganz gewaltigen Teil einnimmt.

1. Verhältnis zwischen Psychiatrie und Philosophie

Ein Ausgriff in die jüngere Geschichte einerseits der Psychologie und andererseits der Philosophie erscheint mir unumgänglich, um besser begreifen zu können, warum die Kooperation zwischen Guattari und Deleuze unmittelbar als folgerichtig einleuchtete und diesen durchschlagenden Erfolg hatte. Zwischen dem Herzog von Puységur, Franz Anton Mesmer und den bedeutenden Therapeuten Bernheim und Charcot liegt nur eine kurze Zeitspanne. Es sind dies die hundert Jahre, in welcher es der französischen Psychologie und Psychiatrie gelingt, ein beispielloses Interesse für die spezifische Mischung aus Klinik und Analyse auf sich zu ziehen. Aus dieser Perspektive erscheint die Freudsche Psychoanalyse wie ein after-effect einer langen und gewichtigen Entwicklung.

Aus philosophischer Sicht handelt es sich um ein mehrfache Explikationsbewegung hinsichtlich jenes Schattens, den die idealistische Philosophie zum ersten Mal nachgezeichnet hatte. Es geht um den inneren kompensatorischen Effekt selbst, den die Philosophie regelmässig produziert und reproduziert, wenn sie sich Pantheismus, Biologismus, Vitalismus und dergleichen aufs Banner schreibt. Die Philosophie simuliert sich selbst als ihre eigene Gegenbewegung, indem sie in einer Inversion der üblichen Ordnung, die Gesamtausgaben der Meisterdenker durchzieht, die hinteren Bände mit den Miscellanea und den unfertigen Gedanken zu neuen Leitlinien erklärt. Was Descartes in die weniger beachteten Bände gepackt hatte (Affektenlehre, Physiologie), Kant in die Anthropologie verbannt, Fichte bereits als beunruhigende Töne in der Ich-Reflexion hat hören lassen, erzwingt eine permanente Revision der philosophischen Position.

Dieses Problem verschärft sich im neunzehnten Jahrhundert, welches etwa Alois Dempf durch die Tantalus-Aufgabe einer Synthese zwischen Vernunft, Natur und Geschichte charakterisiert. In Bezug auf die Seelenfrage sollte sich herausstellen, dass eine durch Säkularisation und Aufklärung aus der hoheitlichen Verwaltung durch die Religion philosophisch endgültig freigesetzte Psyche als rätselhafter erschien als je zuvor. Die zur Religion alternativen Seelenkonzepte waren samt und sonders entweder antiken oder prämodernen Ursprungs, so dass die Revision der Psyche zunächst auf deren beunruhigende  Unzeitgemässheit stieß. Jeder, der in das Massiv der seelischen Substanz ein sondierendes Bohrloch trieb, stieß unweigerlich auf Altertümer. Die Gleichung, die sich durch die Freudsche Psychoanalyse zieht, nämlich die Gleichung zwischen Psychologie und Archäologie, kommt nicht von ungefähr zustande. In dem Augenblick also, in dem die wissenschaftliche Untersuchung der Seele besiegelte Sache ist, am Fin de Siècle, koexistieren vielfältige psychohistorische Regime der Beseelung, - wie die Mediumismen und ihre jeweilige Praxis, z.B. Schamanismus, Hypnotismus, Exorzismus, etc. - wenn auch erodiert, und färben die avantgardistische Theoriebildung ein.

Die Aufklärung markiert den Beginn eines langwierigen Auszuges der Seele aus der Philosophie selbst, insofern diese durch die Krise der Metaphysik das Grundlagenwissen bzw. eine Ontologie, die das Psychische zu integrieren gewusst hätte, zur Disposition stellt. Seitdem fristet die Psychologie oder das, was man als Beschäftigung mit Psyche bezeichnen könnte, gegen die Folie der Philosophie ein seltsam subordiniertes Dasein, eine Art folkloristischer displaced Existenz, ungefähr wie ein Oktoberfest in Peking.

Die Verwissenschaftlichung selbst der Seele ist bereits in den Narrenhäusern des späten achtzehnten Jahrhunderts insofern am Werke, als die Möglichkeit, noch eine Heiligkeit der Symptome auszumachen, in Europa endgültig zerstört ist. Diese Zerstörung läuft parallel zur Verschiebung der archaischen Eigenschaften der Seele, die eine Sakralisierung zulassen würden, in die fremden Kontinente als Beschäftigungsfeld der Ethnologie. Die Theorie der Seele selbst ist also einem tiefgreifenden Spaltungsgeschehen unterworfen, das bis heute kaum thematisiert worden ist. Der Spaltung der Seele selbst in verschiedene Etagen oder Bewusstseinszustände entspricht der Zwiespältigkeit oder Mehrspältigkeit derjenigen, die sich ihrer annehmen. Wenn die Seele einmal ein Medium der Einheit gewesen war – bis zu zum Phantasma einer Weltseele, die den gesamten Kosmos durchzieht – so ist sie spätestens seit dem neunzehnten Jahrhundert genau das Gegenteil: nämlich ein unbekannter, sich in einem unendlichen Spaltungsgeschehen verästelnder Stoff, in welchen historische, ideologische, soziale, ökonomische und epistemologische Differenzen eingetragen sind.

Die neue Wissenschaft von der Seele funktioniert daher folgerichtig auf der Grundlage einer Differentialdiagnostik, die die privativen Zustände ins Zentrum rückt. Die Verrücktheit wird zum Maßstab, an welchem ein zu verwissenschaftlichendes und zu normierendes  Menschenbild festhält und die Nuance zwischen Zerrbild und Regel einstellt. Die Klinik ist Antistruktur oder Heterotop, das Andere der Gesellschaft, mit den Worten Michel Foucaults, und wiederum ist es ein Spaltungs- und Absonderungsgeschehen, das die Angelegenheiten der Seele steuert. Ein Defekt, der Abjekt wird, regelt die Norm und umgekehrt; wie nie zuvor fängt der schmale Grat zwischen Normalität und Verrücktheit an, die konstitutive Grenze zu bilden, von der aus nicht zur geurteilt wird, sondern dekretiert und Macht ausgeübt. Dieser Grat, diese Schwelle bildet den entzündlichen Ort öffentlicher Hysterien, der, gerade weil er sich selbst undurchsichtig bleibt oder erhält, politisch wird.

Die Bedingungen für Operationen im Feld der Seele sind um 1900 geradezu traumhaft: die Ethnographie liefert detaillierte Berichte über psychische Archaismen und Andersheiten, die umstandslos in die Deutung der Seele integriert werden, sofern sie wiederum dem Zwecke ihrer Aufteilung oder der Isolation von Primitivität dienlich sind, wie sich beispielsweise in Charcot und Richers Schrift „Les Démoniques dans l’Art“ und in Leo Kaplans „Psychoanalyse und Animismus“ gut sehen lässt.

Die technischen Medien, bereits ab ovo über den Medienbegriff mit dem Seelischen auf missverständliche Weise verkoppelt, steuern einen zunehmend elaborierten Begriff des Automaten bei, der sich zwar von der aristotelischen Vorstellung erhabener Selbsttätigkeit weit entfernt, jedoch eine moderne mechanische Dimension transportiert (Pierre Janets: De l’Automatisme).

Hinzu tritt die Gehirnphysiologie in Gestalt einer Biologie der Seele, die ebenfalls um die Jahrhundertwende eine Reihe von prominenten Vertretern wie etwa Theodor Meynert, den Lehrer von Freud und Schnitzler, von dem man selbst in Wien zu wenig weiss, hervorbringt. Durch den ersten Weltkrieg erfährt die Wissenschaft von Seele eine beträchtliche Symptom- und Materialzufuhr im Gebiete der physischen und der psychischen Traumata.

Die Schulphilosophie ist inzwischen ausreichend geschwächt, zum sich selbst historisierenden Betrieb verkommen und massiv bedroht durch die ideologisch normierte Wissensvermittlung. Nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs wurde eine Explikation einer Kooperation von Philosophie und Psychologie oder Psychoanalyse – als handele es sich um eine zweite Auflage der Konstellation um 1900 - mehr oder minder verpflichtend.

Dieses Gebot befolgte die Frankfurter Schule im Gestus von Kritik, also Ideologiekritik und Dialektik, während sich die französische Philosophie etwas früher wieder auf ihre Moderne besann, welche bereits Ansätze zu einer revolutionären Psychosophie oder Philopsychie gezeigt hatte. Die neue Komplizität zwischen Philosophie und Psychologie in all ihren Facetten konnte jetzt als  subversiver Akt verstanden werden, der das falsche Bewusstsein zerstört. Die Ausrichtung der Philosophie auf die Psychiatrie oder die Psychoanalyse war nicht nur sozialwissenschaftliches und politisches Instrument, sondern Mittel, die Selbstvergessenheit der philosophischen Reflexionsfiguren und der philosophischen Weltbeschreibung zu heilen. Die Philosophie selbst als Symptom einer bürgerlichen, in ideologischem Schlummer befangenen Gesellschaft hatte sich selbst zu therapieren. Der selbstvergessene Professor der Philosophie auf dem Katheder war endgültig zur Farce geraten, zur öffentlichen Zuschaustellung einer deformation professionelle, die nichts weiss über ihre eigenen Symptome.

Foucault setzt sich ganz unmittelbar kritisch zu diesem Standpunkt ins Verhältnis, wobei er es schließlich ist, der die Vorlage gibt für jenes Thema, welches für Guattari eine so gewaltige Rolle spielt: nämlich die Produktion von Subjektivität als Problem. Sofern Subjektivität in der Form, wie sie die idealistische Philosophie in Fassung gebracht hatte, im Spiegel der vitalistischen Postulate des Fin de Siècle selbst nur als Fragment und als geteilte, in sich zersplitterte Sphäre zu haben war, legen Deleuze und Guattari den Horizont der Subjektivität nicht in Ergebnissen, sondern in Möglichkeiten an. Die Brisanz von Deleuzes und Guattaris Denken liegt genau darin begründet, dass sie die logische Differenz zwischen Menschen als Subjekte und Menschen als Objekte, die das gewaltige Problem der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts und gewesen waren, in Denkfiguren eingeholt haben, die Subjektivation als eine komplexe reversible oder zumindest veränderliche Bewegung verstehen lassen, also eigentlich als kontingente Schöpfungen einer Formation von jeweils unterschiedlich zusammenzuschließenden Kräften.

Schließlich wird Deleuze, nach dem Modell einer Geistesgeschichte, in welcher der eine Denker dem anderen von hinten ein Kind macht, wie Deleuze in einem treffendem Bild sagt, in Guattari das Tantra des einverleibten Psychiaters performen, womit sie beide der Philosophie eine Legitimation wiederzuverleihen imstande waren, die sie längstens verloren hatte. Die Doppelautorschaft von D&G entspricht genau jener Produktion von Spaltung, die Inhalt der Schizoanalyse als Sichtbarwerden der Spaltung selbst ist. Die Doppelsubjektivität von D&G, die das historische Konzept von Subjektivität überschreitet, ist selbst der archimedische Punkt des Manifests. Aber nicht nur das. Guattari stellt der Philosophie jene Parameter zur Verfügung, die er aus der psychiatrischen Praxis extrahiert, und zwar genau genommen aus jener elaborierten institutionellen Form, die diese Praxis in St.Alban und schließlich La Borde seit 1951 angenommen hatte.

2. Saint-Alban, La Borde

Felix Guattari war aktiv in der psychiatrischen Klinik von La Borde bis zu seinem Tod, der ihn an Ort und Stelle in La Borde ereilte. Er war also nicht nur ein Theoretiker der Psychiatrie oder der Psychoanalyse, welcher als autorschaftliches Segment heute in vielen DenkerInnen waltet. Guattari war praktisch vertraut mit den Prinzipien der institutionellen Psychotherapie, wie sie von Francois Tosquelles und Jean Oury implementiert worden waren. Der institutionellen Psychotherapie liegt ein Institutionsbegriff zu Grunde, der nichts zu tun hat mit der Institution, die den Gegenstand der Institutionskritik bildet. Die institutionelle Psychotherapie von Tosquelles und Oury steht der generellen Verwerfung der Institution, die ein zentrales Argument der Anti-Psychiatrie ist, diametral entgegen. Das ist sehr wichtig. Das Modell von Saint-Alban im Lozère ist keinesfalls ein anti-psychiatrisches im landläufigen Sinne, auch wenn Tosquelles eine spezifische Auffassung der debilité profonde hatte, die sich von derjenigen der Schulpsychiatrie unterscheidet. Tosquelles kritisiert vielmehr die Antipsychiatrie, sofern diese die Notwendigkeit, einen geeigneten Ort für die Psychose zu schaffen, nicht erkannt hätten. Wie man weiss, hat die Auflösung der Asyle in Italien als Konsequenz des Antipsychiatrie-Gesetzes von 1978, forciert durch Franco Barsaglia, eine beispiellose Welle von Selbstmorden ehemaliger Anstaltsinsassen zur Folge gehabt, die nach ihrer definitiven Entlassung feststellen mussten, dass ihre Familien mit ihrer Rückkehr überfordert waren.

Es handelt sich bei Tosquelles’ Institutionsbegriff  um einen affirmativen Begriff von Institution, der mehrere bedeutende Funktionen hat.

a. Erstens verhindert die Institution, so wie sie Tosquelles versteht, die Isolation des Patienten und sein Zurückgeworfensein auf sich selbst und seine von der Psychose ausgefüllte Innerlichkeit. Die Therapie ist keine Sache eines Innenlebens oder einer Privatheit, ganz im Gegenteil. Das Private und Intime ist die Verrücktheit selbst, die die jeweilige Lösung oder Antwort des Patienten auf eine Reihe von Lebensumständen und Erfahrungen darstellt. Der Patient soll nicht in ein Zimmer getan und eingeschlossen, sondern in eine Institution integriert werden, die die Gesellschaft als bloße Struktur in ihren Funktionen abbildet. Diese Institution ist sozial und politisch. Sie hält die grundsätzliche Bezogenheit des Patienten und dessen Verantwortung  aufrecht, und fixiert ihn in Relation zu einem autrui.

Die Institution ist ein Mittel, auch moyen oder Medium, der Therapie. Tosquelles zitiert Théodule Ribot: „Séparer la vie affective des institutions sociales, morales er religieuses, des centres d’interêts esthetiques et culturels qui la traduisent et l’incarnent, c’est la réduire à une abstraction vide et morte“.[2] Es ist daher wichtig, dass die Institution funktional diejenigen Bereiche abbildet, die die Welt besitzt, also den Strom des Kapitals, die Öffentlichkeit, die Theatralisierung, die Verantwortung, das Spiel etc etc.

Tosquelles schreibt: „Pour nous, le ‚malade mental’ est d’abord et surtout un aliéné, c’est-à-dire un homme qui a rompu le contrat social, en devenant étranger au milieu social, un homme exclu de la vie sociale, un homme dé-socialisé. …nous sommes …pénétrés de l’idée dialectique d’une consubstantialité de l’homme et de son milieu. Ce qui signifie encore que nous croyons à la permanence sociale de l’individu humain, fût-il aliené, à la dimension social ontologique de son existence dans le monde.”[3]

“Schématiquement, on s’accroche à l’autre, de deux facons, soit en l’embrassant, soit en lui tirant les cheveux.”[4]

b. Die Institution antwortet den Patienten. Tosquelles gibt eine Reihe von Beispielen. Leute, die an der Kasse der Cafeteria arbeiten, denen diese Kasse zum besten Therapeuten wird. Autisten, die Trinkgeld geben. Schwer paranoide Vorsitzende von Sozialklubs, die mit ihrem Budget verantwortlich umgehen. Mitglieder der Redaktion der Zeitung und Mitarbeiter der Druckerei, die ihre Vorstellungen debattieren und versuchen, ihre Artikel durchzusetzen bzw. ihre Gestaltungsideen. Die Institution hat daher die Aufgabe, die gélification des spontanéités sociales élémentaires anzuschieben. Diese gélification bereitet dann neuen Organe vor.

Das Beispiel: „ un paranoide persecuté. Le voici à la cantine. Il vient à l’instant d’offrir un café à quelques copains et à un infirmier, il discute, plaisante avec la cantinière, lui offre un pourboire. (…) C’est un transfusé. Il a retrouvé à la cantine le ritual des hommes. Il vient de renouer le contrat social.”[5]

c. Der Klub. Der Patient nimmt ist also aktives Mitglied eines Sozialklubs, in welchem er seine Interessen teilen kann und Verantwortung übernimmt, indem er sich beispielsweise um das Budget kümmert. Das heisst, die Leute verdienen auch und bleiben so an den Fluss des Geldes oder Tausch angeschlossen. „Il faut parier pour l’aliené contre lui-même, parier pour sa chance sociale contre la fatalité lamentable de son destin. Le club de Saint-Alban vit et tire sa raison d’être de ce seul pari. Sa signification? Offrir aux hospitalises des centres d’interêt. Son ambition? Leur transfuser une vie sociale.”[6] Der Klub baut auf zwei Prinzipien auf: einmal: “Le mythe de l’agitation et celui de l’indifférence“, zum zweiten: „Celui de l’irresponsabilité du malade.“[7] Die starke Orientierung „nach Außen“ hat Tosquelles Therapie den Vorwurf eingebracht, er würde seine Kranken nach dem Gesichtspunkt der Brauchbarkeit und der Leistungsfähigkeit konditionieren. Es ist im Gegenteil so, dass diese Orientierung das Gewicht der Psychose mindern soll. Tosquelles ist überzeugt, dass die allmähliche gélification, die neue Plastiken im Sinne sozialer Organe vorbereitet, die Zerstörung der sozialen Organe, also die Bedingung der Psychose reversibel macht.

Ferner, und das ist in Hinblick auf die Psychoanalyse wohl die entscheidende Überlegung, dient die Institution, wie Tosquelles mehrfach betont, dem Ziele einer Vermeidung der Gegenübertragung und ihrer fatalen Folgen für den Psychiater, die meist in einem forcierten Sado-Masochismus enden. Die Übertragung ihrerseits, die Tosquelles im Sinne Freuds als Basis der Kur anerkennt, fällt im Rahmen der institutionellen Psychiatrie weniger personenbezogen aus; die primitiven Quanten der Urbeziehung können sich über Person des Psychiaters und die gesamte Institution verteilen.

d. Die Therapie selbst – die Interaktion mit dem Psychiater. Tosquelles nennt die Psychiatrie in einem legendären Interview eine „déconniatrie“, in der jeder der beiden Interakteure, wenn nun er dran ist, spinnen darf („chacun déconne à son tour“). Sein erster Analytiker sei ein Ungar gewesen, der überhaupt kein Spanisch konnte. Von ihm habe er gelernt, dass es nicht darauf ankommt,  zu verstehen oder verstehend zu synthetisieren. Sondern nur zu rhythmisieren, indem man beispielsweise bei jedem „merde!“ ein Zäsur macht. Das Besondere dieser anektdotischen Definition ist Tosquelles’ Weigerung, einen Meisterdiskurs in Bezug auf die Krankheit zu entwickeln. Die Krankheit selbst sieht er als Akt der Autonomisierung, den man als solchen zu respektieren hat. „La structure étant racine de l’histoire passé faite chair“.[8]

Es sei von gewissem Vorteil gewesen, daß er Französisch mit katalanischem Dialekt gesprochen habe. So hätten die Patienten leicht denken können, dass er sowieso nichts verstehe, und die Sprache habe auf diese Weise ihre Bedeutung verloren, aber nicht ihre soziale Kraft, die in das Ritual des alternierenden Sprechens investiert zu werden hatte. Er habe im Übrigen vorgezogen, sich genau anzusehen, wo und wie die Leute ihren Fuß aufsetzen. Am Fuß hafte doch die ganze Frage nach dem eigenen Standpunkt und Weltbezug. Es habe da also eine gewisse Bevorzugung des Wo vor dem Wie gegeben. Aus der Bedeutung dieses Wo leitet sich der doppelte Sinn des Begriffs „Asyl“ ab, mit welchem nicht nur die Zuflucht des psychotischen Ich gemeint ist, sondern auch die des Flüchtlings, der vor einer ihm feindlich gesonnenen Macht Schutz sucht. In diesem Sinne war Saint-Alban auch Herberge für Widerstandskämpfer, also politisches Asyl.

e. Molekularisation. Die auf uns so außerordentlich anziehend wirkenden Grundbegriffe der Therapie bei Tosquelles scheinen uns mächtig gestört von seiner Apologie des Elektroschocks. Er verfolgt mit der Verabreichung dieser Therapie die Idee, dass durch sie die Nervenstruktur auf einer primitiven Ebene angeregt würde, so dass es zu einer Zerstäubung käme, die die Re-Organisation in einer neuen gélification begünstige. Der Elektroschock wirke wie eine Art Sprengstoffanschlag auf die verhärtete Struktur des Traumas. Diese wird dann gewissermaßen von einem leeren Trauma überschrieben, wodurch es zu einer Zurücksetzung oder einem re-set kommt. In gewisser Weise müsste man zu diesem Punkt auch aus der Warte des maschinischen Unbewussten Stellung nehmen. Tosquelles hat sich vorgestellt, dass dieser leere Reiz am Ende eine positive Stimulierung nach sich ziehe, als würde man die Maschine in Fahrt bringen müssen. Mit dem maschinischen Unbewussten muss man auf Maschinenebene kommunizieren – aber eben nicht sprechen. Sondern Empfindungen transfundieren. Der Elektroschock ist nach Tosquelles Auffassung eine solche reine Transfusion von starker Empfindung.

3. Tosquelles und Guattari

Was Guattari in seinem Modell der Schizoanalyse übernimmt, liegt mehr oder weniger auf der Hand. Im Vergleich zu Tosquelles, der seinem Wesen nach sozialer Experimentator in einem äußerst positiven Sinne war, besitzt Guattari phantastische theoretische Fähigkeiten als Psychiater. Was in La Borde vielleicht der Geist von Tosquelles und der gesamten Bewegung der institutionellen Psychiatrie war, wird bei Guattari zum komplexen System, welches die analytischen, auch die kritischen soziologischen und politischen Besonderheiten der Bewegung transportiert. Tosquelles allerdings hatte – im Unterschied zu Guattari - immerhin noch an der ödipalen Triangulation festgehalten, auch wenn seine Vorstellungen von Therapie weit über das Setting, das Freud dafür wählt, hinausgehen.

Folgende Punkte in Guattaris Schizoanalyse scheinen mir wesentlich von der Bewegung der institutionellen Psychiatrie inspiriert, es sind nicht von ungefähr die vier Hauptpunkte oder Funktoren, die ich für meine sehr stark zusammengefasste Untersuchung gewählt habe, nämlich Territorialität (T), Flux der Libido und des Kapitals (F), das maschinische Phylum (Ph) und die unsichtbaren Universen (U).

Territorialität

Im Begriff der Territorialität bzw. ihrer Bedeutung im Rahmen der vier Funktoren der Schizoanalyse lässt sich die Spur hin zu Tosquelles Auffassung von Institution und der Beziehung zwischen Fuß und Boden verfolgen. Das Asyl selbst ist eine Einrichtung, in der eine territoriale Frage beantwortet wird bzw. auf eine territoriale Frage geantwortet. Das Asyl selbst ist die gute Maschine der Reterritorialisation, abgehoben von der schlechten des Kapitalismus, der eine falsche Reterritorialisation im Modus simulierter Territorialität verhängt. Während für die Psychoanalyse die Kategorie Wo nicht wirklich eine Rolle gespielt hat, außer etwa für die symbolische Topographie der seelischen Architektur selbst, ist sie für den institutionellen Materialismus von Tosquelles elementar.

Flux der Libido und des Kapitals

Tosquelles hat ausdrücklich die ökonomischen Dinge nicht von den Patienten ferngehalten, sie also nicht infantilisiert oder ökonomisch depersonalisiert. Für ihn ist klar hat, dass das Junktim von Person und Kaufkraft oder Fähigkeit, einen Verdienst zu haben, nicht zerstört werden darf, ohne dass die Gefahr einer sozialen Infantilisierung die regressive Tendenz des Paranoikers verschärft. Subjektivation läuft immer durch die Beziehung zu Begehren und Kapital bzw. Besitz und Wert hindurch, d.h. daß Subjektivierungsgewinne – und -verluste durch die Konstellierung innerhalb dieser Ströme wahrnehmbar werden. Die Richtung, in die das Geld fließt, ist mindestens ebenso wichtig wie die, in die das Begehren fließt, was natürlich für einen an Lacan nicht nur geschulten, sondern von ihm analysierten Denker eine Grundtatsache ist. Der Kapitalismuskritik des Anti-Ödipus wächst aus dieser Perspektive eine grundsätzliche Bedeutung zu. Der Anti-Ödipus – als welcher in vollendeter Weise Tosquelles selbst gelten darf, wenn er seine Mutterbeziehung und Mutterliebe in einem Interview als Grundlage des gelingenden Lebens herausstreicht – bekommt seine Sous und wird nicht auf die falsche Mangelphantasie festgelegt.    

Das maschinische Phylum

Guattari hat dieses Konzept natürlich sehr komplex auf die beiden Linien des biologischen und des technischen Automatismus bezogen; was sich darin möglicherweise auf Tosquelles bezieht, ist die Überzeugung, dass das Unbewusste nicht nicht erscheint. Es erscheint eben in denjenigen Automatisationsketten, die so konstruiert sind, dass sie der willentlichen Intervention entbehren können. In gewisser Weise ist diese transpersonale, aber materielle Ebene in der Institution, so wie sie Tosquelles versteht, weitgehend ausgebildet. Jedenfalls wäre die Institution selbst ein Ausdruck des Umstands, dass Individuen auf die Art und deren Geschichte bezogen sind, d.h. Ausdruck jener Kollektivierung, die das Phylum selbst transportiert. Das Phylum repräsentiert jedoch auch einen erweiterten Geschichtsbegriff, in dem Kultur, Natur und Technik nicht auseinander gerissen sind. Meiner Meinung nach nimmt der Begriff des Phylum die Leibnizsche Idee von der Verwechselbarkeit des Tieres und der Maschine im Verworrenen auf und projiziert sie auf eine techno-bio-historische Ebene. Außerdem wird die in der Psychoanalyse installierte Äquivalenz zwischen dem Unbewussten und dem Primitivismus bei gleichzeitiger Differenzierung fortgeschrieben.   

Immaterielle Universen

Dieser Begriff scheint mir mit dem Nullpunkt der Psychose insofern in Beziehung zu stehen, als von ihm aus als Funktor die virtuellen Linien der sogenannten Enunziation dirigiert werden. Bei Guattari sind die immateriellen Universen wesentlich mit der Chaosmose verbunden, was soviel bedeutet, das von hier aus Sagenkönnen und Seinkönnen ihren Ausgang nehmen, nicht Sagenmüssen und nicht Seinmüssen, weshalb die Kosmose durch die Chaosmose ersetzt wird. Das ist natürlich sehr spekulativ, aber ich denke, dass auch in diesem Punkt die sich von Freud und Lacan absetzende Bewegung der institutionellen Psychiatrie niedergeschlagen hat. Für mich sichtbar wäre dies in der Art und Weise, wie Tosquelles den Raum der Psychose, sofern der Patient spricht, unbehelligt lässt, als wäre er darin nicht nur autonom – was an sich schon viel ist – sondern sowieso unerreichbar, sofern die Sprache nur eine Dimension des Aussprechlichen ist. Die immateriellen Universen löschen zugleich die Privilegien, die bestimmte Zeichenströme vor anderen beanspruchen könnten. Aus der Perspektive dieses Funktors kann es die volle Anerkennung jener Erzeugungen als Enunziationen geben, die nicht der symbolischen Ordnung entsprechen, wie etwa die Sage der Psychose oder die Sage der Amazonas-Indianer, über die De Castro berichtet.

Fazit

Wenn man versucht, die leitenden Ideen von Tosquelles, so wie sie in meinem kleinen Referat kursorisch zusammengefaßt vorgestellt wurden, mit der theoretischen Arbeit Guattaris abzugleichen, gelangt man zum Schluss mächtigen Einhelligkeit zwischen den beiden. Darüberhinaus erleichtert ganz gewiss die Kenntnis der Ansätze von Tosquelles das Verständnis der nicht gerade einfachen Texte Guattaris entschieden.

Was nun die Leistung angeht, die in Guattaris Beiträgen zu den mit Deleuze gemeinsam verfassten Werken vorliegt, so ist sie aus meiner Sicht geradezu bombastisch. Guattaris Originalität ist bereits im Anti-Ödipus von 1972 dominant. Die große Bedeutung, die die Maschine - über die Bezüge zu Artaud hinausreichend - in ihrer Eigenschaft als psychoanalytischer Neologismus erhält, lässt den Rückschluss auf Guattaris Handschrift direkt zu. Guattaris frühere Schriften kreisen vornehmlich um die Maschine, die er – auch in einer Variation über Pierre Janets Konzept des Automatismus – als Modell des Unbewussten im großen Stile ausbaut.

Es ist natürlich nicht nur die Nomenklatur, die Guattari beisteuert, sondern auch das Thema: die doppelte Stoßrichtung einer Kritik der beiden Testamente der Psychoanalyse, des alten von Freud und des neuen von Lacan, und einer Kapitalismuskritik, beide Intentionen verbunden durch die Figur des Ödipus, durch welche das Buch einen Kultstatus eines Textes von Nietzsche erreichen konnte. 1979 erscheinen gleichzeitig die Mille Plateaux von D&G und die Cartographies schizoanalytiques aus der Feder von Guattari. Die Mille Plateaux profitieren bereits erheblich von der Fusion der Begriffswelten, also von der Belegung der psychiatrischen Neologismen Guattaris durch die philosophische analytisch-poetische Dimension, die Deleuze beisteuert. Das gewisse knöcherne pseudo-wissenschaftliche Verfahren der Cartographies schizoanalytiques, die dem Buch offenbar lange den Durchbruch in Übersetzungen versagt hat, kommt in den Mille Plateaux als sublime, bereits im apollinischen Ton hochaffirmativ vorgetragene philosophische Fremdsprache zum Einsatz, was die Leserschaft positiv verblüfft und begeistert hat. Und zwar in einem solchen Maße, dass man nicht von ungefähr begrüssen durfte, dass in diesem Buch die Philosophie von Grund auf erneuert an den Tag tritt.

Wenn diese meine Eloge auf Guattari nun so herauskommt, als sei Deleuze zu entzaubern als einer, der sich mit fremden Federn schmückte, so ist das absolut nicht meine Absicht. Deleuze hat selbst etwa in „Was ist Philosophie?“ tiefsinnig von der Begriffsarbeit gehandelt, die die Philosophie zu leisten hat. Weshalb und wie er diese produktive Verbindung mit Guattari eingegangen ist, weist mehrfach auf seine Aufmerksamkeit gegenüber dem Problem der Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert, vor allem in dessen zweiter Hälfte, hin.

In den rotierenden Selbst-Erneuerungsversuchen der Philosophie in der synthetischen Schrumpfform der Kulturwissenschaften wird man heute die ewige Frage, ob man sich, die Analyseform betreffend, an Freud oder an Lacan anlehnen solle, ungelöst finden. In Wahrheit liegt darin, betrachtet man die operative Basis, die Guattari der Philosophie schon zugestellt hat, eine larmoyante Rückwärtsliebe. Wir werden uns damit abfinden müssen, dass wir in das dritte Jahrtausend als PhilosophInnen nur in der hybriden Gestalt mit eingebautem psychologischem oder psychiatrischem Steuerelement eintreten können. Seit D&G ist das ein unhintergehbarer fait accompli.

[1] Félix Guattari: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Vorwort von Gilles Deleuze, aus dem Frantösischen von Grete Osterwald, Frankfurt/Main 1972
[2] Zitiert nach : Francois Tosquelles: S.85
[3] Ebda., S.74
[4] Ebda., S.80
[5] Ebda., S.75
[6] Ebda.
[7] Ebda., S.88
[8] Ebda, S.8

Redaktion CD, BH, 23.4.2013