Paul Parin: Kurze Biografie

Paul Parin wurde am 20.9.1916 in Polzela, im früheren Österreich-Ungarn, heute Slowenien, als Sohn eines begüterten Großgrundbesitzers geboren. Er wuchs gemeinsam mit zwei Geschwistern in einer  jüdisch-assimilierten Familie auf.
Wegen einer angeborenen schweren Missbildung seines Hüftgelenkes war er als Kind für mehrere Monate von Kopf bis Fuß eingegipst - und hatte doch zugleich eine  einfühlsame Mutter, für die er ein „Glückspilz“ (Parin 1993, S. 16) war:

„Ich bin mit einer Missbildung der Hüftgelenke zur Welt gekommen und habe zeitlebens gehinkt. […] Sprache und Rede waren auch für mich wichtiger als für gesunde Kinder und haben mir während eines ganz anderen Berufslebens so viel bedeutet, dass ich mich im Alter dem Schreiben zuwenden konnte.“ (Parin 1993, S. 128. Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

Parin besuchte bis zum 17. Lebensjahr keine Schule, er erhielt nur Hausunterricht, las aber sehr früh, darunter auch die Schriften Freuds. Als Jugendlicher machte zahlreiche Reisen innerhalb Sloweniens, die seine Neugierde weckten:

„Mit sechzehn kam ich dann erstmals nach Dalmatien, wo ich nach der Hauptsaison, also am Ende des Sommers, meinen Onkel besuchte. Ich erinnere mich nur zu genau, ich hatte damals das Gefühl, noch nie ein richtiges Abenteuer erlebt zu haben. Das trieb mich an wie ein Motor. Das Gefühl habe ich gelegentlich heute noch. Die Neugier zu forschen hat mich seit früher Jugend nie verlassen und mein Leben mitbestimmt.“ (Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

Mit 17 Jahren besuchte er erstmals ein Gymnasiums in Graz und maturierte dort 1934 Abitur. Er erinnerte diese als eine „Nazischule“. Sein Widerstandsgeist, gepaart mit einer erstaunlichen Angstfreiheit, wurde geweckt:

„Meine Art vom Wissen um den Faschismus ging erst ‚durch den Kopf‘, setzte sich fest als Ergebnis einer Analyse von Zeiterscheinungen, zusammengetragen aus Zeitungslektüre, den Geschichtskenntnissen eines Gymnasiasten, den Reden Mussolinis und Hitlers am Radio. Die zweite Art Wissen um den Faschismus stellte sich erst durch die sinnliche Erfahrung her, als ich in Graz Zeuge war, wie die Hakenkreuzler (das war die österreichisch-gemütliche Bezeichnung für die damals illegalen Nationalsozialisten) an unserer Schule in meinem Matura-Jahr 1934 nacheinander drei jüdische Mitschüler totschlugen (während ich, der letzte Nichtarier an dieser Schule, überlebte) und die österreichische Polizei keinen Anlass fand, diese Unfälle aufzuklären.“ (Parin 1980, S. 48. Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

Ab 1934 studierte er Medizin in Graz, Zagreb und ab 1938 in Zürich und promovierte 1943.

„Ich hab‘ mich schon seit 1934 auf die Chirurgie gestürzt, weil ich wusste, es kommt ein Weltkrieg.“ Eine für Paul Parin in ihrer Präzision und Nüchternheit typische Bemerkung bezüglich der Motive seiner ersten Berufswahl: Medizin. Gegen die Nationalsozialisten. Zitiert nach Kaufhold, 2009, haGalil.com).

Parin beteiligte sich bereits als Jugendlicher an antifaschistischen Aktionen:

„Unsere erste Aktion […] wurde, zuerst, ein voller Erfolg. Wir alle waren in Siegesstimmung und tranken Sliwowitz, der uns nicht schmeckte. Wir hatten einige junge Deutsche überfallen, ihnen die weißen Strümpfe ausgezogen, so dass sie barfuß, die Schuhe in der Hand, heimlaufen mussten, während wir die Strümpfe der Landesverräter als Trophäen an Stangen durch das Städtchen trugen.“ (Parin 1980, S. 59. Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

Im Oktober 1944 schloss er sich gemeinsam mit sechs Schweizer Ärzten – darunter auch seine Frau Goldy Parin-Matthèy – aus Protest gegen die tolerierende Haltung seiner Schweizer Regierung gegenüber den Nationalsozialisten den jugoslawischen Partisanen an. Als Ärzte sowie als  „Brüdergemeinde“ -  frei von „trügerischen Illusionen“ (Parin) – wollten sie sich am antifaschistischen Kampf beteiligen.
Vier Jahrzehnte später dokumentierte er seine Erfahrungen in seinen Erzählungen Untrügliche Zeichen von Veränderung. Jahre in Slowenien (1980) und Es ist Krieg und wir gehen hin (1991).
Juni 1946 kehrte er nach Zürich zurück und begann seine psychoanalytische Ausbildung und psychoanaltische Tätigkeit in Zürich. Seine abenteuerliche Rückreise erinnerte er 1986 so:

„Die Reise, von der ich berichte, liegt beinahe vierzig Jahre zurück. Ich fuhr von Prijedor in Nordbosnien nach Belgrad. […] In Triest, das damals von alliierten Truppen besetzt war, gab es einen kurzen Aufenthalt. Dann ging es weiter über Mailand nach Zürich; dort wollte ich meine psychoanalytische Ausbildung beginnen. Der Weg war von Erlebnissen und heftigen Gefühlen begleitet, von denen ich heute die Motive ableite, die mich zur Psychoanalyse gedrängt haben. Stationen der Reise lassen sich als Orte einer Entwicklung beschreiben, die zur Psychoanalyse führt.“ (Parin 2006, S. 13. Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

Von 1954 bis 1971 führten ihn zahlreiche selbst finanzierte Forschungsreisen nach Westafrika, gemeinsam mit Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler, durch welche sie zu Begründern der Ethnopsychoanalyse wurden und zahlreiche ethnopsychoanalytische Studien publizierten, u.a. Die Weissen denken zuviel (Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy, 1963) und Fürchte Deinen nächsten wie Dich selbst  (Parin & Parin-Matthèy, 1971).
Über ihre seinerzeitigen Motive bemerkte Parin:

„Als wir zur ersten Reise nach Afrika aufbrachen, hatten wir keine andere Absicht, als endlich dem grau werdenden Alltag in Zürich zu entkommen. (…) Endlich konnten wir unserer Neugier folgen, euphorisch reisen, in unser Zwischenstromland. Die Reise war ein voller Erfolg.“ (Parin 2001, S. 118). Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).
In den 1970er und 1980er Jahren folgten zahlreiche psychoanalytisch-gesellschaftskritische Studien, die eine breitere Rezeption erfuhren, versammelt in den Bänden Der Widerspruch im Subjekt (1978) und Subjekt im Widerspruch (Parin & Parin-Matthèy, 1986).

Als Motiv seines Engagements nannte er:

„Die Vergangenheit versinkt, und Geschichtslosigkeit droht sich einzustellen, wo immer es Herrschaft und Beherrschte gibt. Ohne eine Kultur, die ihre Kritik gegen die Machtverhältnisse richtet, ist kein Fortschritt möglich.“ (Parin 1990, S. 153. Zitiert nach Kaufhold, 2009, haGalil.com)

Seine Position als „moralischer Anarchist“ (Christa Wolf, 1993) brachte er mit den Worten André Bretons zum Ausdruck:

„Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung. Wir gehören ihr nur in dem Masse an, als wir uns gegen sie auflehnen.“ (Parin 1993a, S. 131) Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

1980 schloss Parin aus Altersgründen seine psychoanalytische Praxis in Zürich.
Es folgten zahlreiche literarische Veröffentlichungen, die durch mehrere Literaturpreise ausgezeichnet werden:
Karakul (1993), Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und andere Erzählungen (1995), Der Traum von Segou (2001), Die Leidenschaft des Jägers (2003), Das Katzenkonzil (2005), Lesereise 1955–2005 (2006).

1997 starb seine Lebensgefährtin Goldy Parin-Matthèy und er litt unter zunehmender Erblindung:

„Als Goldy am 25. April 1997 gestorben war, entschloss ich mich weiterzuleben. Schon seit einigen Jahren hatten wir uns aus dem tätigen Leben zurückgezogen und lebten - glücklich wie früher - mit Lesen und Schreiben beschäftigt in der Welt der Literatur.“ (Parin, 2006. Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

Während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren protestierte er gegen die Unterdrückungsmaßnahmen, gab seine Ehrenmedaille für sein Engagement als Partisan Titos zurück und verfasste  mehrere Studien über die Umwälzungen im ehemaligen  Jugoslawien. 1998 publizierte er in der Schweizer Wochenzeitung (WoZ) er eine öffentliche Erklärung gegen die Abschiebung bosnischer Kriegsflüchtlinge aus der Schweiz:

„Ich schreibe über ‚alleinerziehende Mütter‘ aus Bosnien-Herzegowina und über andere Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien, deren Kinder alle der gleichen Gefahr ausgesetzt sind, wenn sie zurückgeschickt werden. Ich schreibe, um zu warnen und zu bitten. Meine Warnung richtet sich an die Öffentlichkeit und an unsere Behörden. […] Ich möchte nicht noch einmal stummer Zeuge einer unmenschlichen Politik sein, für die sich kommende Generationen entschuldigen und deren wir uns schämen müssen.“ (WoZ, 1998. Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

1992 wurde ihm der Erich-Fried-Preis verliehen. Dazu bemerkte er über die Motive seines psychoanalytischen und politischen Engagements:

„Wenn mir die Ereignisse auf den Leib rücken, kann ich keine Geschichten mehr erzählen. Seit in den südslawischen Ländern ein schrecklicher und schrecklich sinnloser Krieg herrscht, fällt mir kaum etwas anderes ein als Leserbriefe, Aufrufe an Soldaten, sie sollen desertieren, Zeitungsartikel, damit man hinschaut, hilft, und versteht, wie wenigstens dieses menschengemachte Unheil entstanden ist. Die Versuchung, mich ganz in die Lesewelt zurückzuziehen, ist da. Warum schweige ich nicht endlich und verzichte darauf zu schreiben? Weil ich gerne schreibe und weil ich Christa Wolf zustimme, die geschrieben hat: ‚Wer zu verzichten angefangen hat, ist auf Ungerechtigkeit festgelegt‘.“ (Parin 1993, S. 131). Zitiert nach Kaufhold, 2012, haGalil.com).

2006 hielt das von ihm mitbegründeten Psychoanalytischen Seminars Zürich anlässlich seines 90. Geburtstages eine Ehrenveranstaltung ab. Die dort gehaltenen Vorträge wurden in dem von seinem Schüler Emilio Modena (2007) herausgegebenen Band Leidenschaften. Paul Parin zum 90. Geburtstag publiziert.
Paul Parin starb am 18.5.2009 in Zürich.

 

Sekundärliteratur, Quellen:
Kaufhold, Roland (1996): Ein moralischer Anarchist. Der streitbare Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin wird heute 80 Jahre alt, Frankfurter Rundschau, 20.9.1996, S. 7
Kaufhold, Roland (2009a): Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller, Ethnopsychoanalytiker und skeptischen Weltbürger Paul Parin (20.9.1916-18.5.2009), in: Journal für Psychoanalyse Nr. 50, 2009. Hg.: Psychoanalytisches Seminar Zürich (PSZ).
Kaufhold, Roland (2009b): »Ein moralischer Anarchist«. Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller und skeptischen Weltbürger Paul Parin (20.09.1916–18.05.2009), psychosozial Nr. 117 (3/2009), S. 117-126.
Kaufhold, Roland (2009c): Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller, Ethnopsychoanalytiker und skeptischen Weltbürger Paul Parin (20.9.1916-18.5.2009), in: Kinderanalyse 3/2009, 17. Jg., S. 297-303.
Modena, Emilio (Hg.) (2007): Leidenschaften. Paul Parin zum 90. Geburtstag. Berlin (Edition Freitag).
Pletscher, M. (1996): »Mit Fuchs und Katz auf Reisen, zum achtzigsten Geburtstag von Paul Parin«, Filmportrait, 22.09.1996, 3-Sat: 17.10.1996, 45 Min.
Popp, M. & Bergmann, T. (2007): Der Rauch der Träume. Paul Parin – ein Fragment. Dokumentarfilm. Deutschland.
Reichmayr, Johannes (Hg.) (2006): Paul Parin: Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Rütten, U. (1996): Im unwegsamen Gelände. Paul Parin – Erzähltes Leben. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).
Wolf, C. (1993): Ein Weg nach Tabou. »Laudatio« auf den Wissenschaftler und Erzähler Paul Parin. In: psychosozial, 16. Jg. (1993), Heft I (Nr. 53), 119–125.

Links, Quellen:
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/17/parin-4/
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/17/parin-3/
http://www.journal21.ch/ich-bin-weltb%C3%BCrger
http://www.hagalil.com/archiv/2009/05/19/parin/
http://buecher.hagalil.com/2010/01/parin/
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/17/parin-4/
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/17/seelenmord-an-kindern/
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/18/wolf-parin/
http://buecher.hagalil.com/2012/05/parin-4/
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/17/antisemitismus-14/
http://buecher.hagalil.com/2012/05/parin-lesereise/
http://www.hagalil.com/archiv/2012/05/16/parin-2/
http://buecher.hagalil.com/2010/01/parin/
http://www.youtube.com/watch?v=Mo5a1pWu_QI

Verfasst von Roland Kaufhold, bei ΨΑ eingegangen am 11. August 2012
Redaktion: CD, 27.8.2012