Sigmund Freud (1893f): Charcot

[Der Nachruf erschien erstmals in der Wiener medizinischen Wochenschrift, Band 43, Sp. 1513-1520.
Auch in: GS, Band 1, 243-257 und GW, Band I, 21-35
Das Bild zeigt, wie Charcot, assistiert von Joseph Babinski, an der Salpêtrière die hysterische Patientin Blanche Wittman in Hypnose versetzt.
Gemälde von André Brouillet, 1887.
Quelle: http://www.philosophyforlife.org/wp-content/uploads/2015/03/url.jpg]

Mit J. M. Charcot, den nach einem glücklichen und ruhmvollen Leben am 16. August d. J. ein rascher Tod ohne Leiden und Krankheit ereilte, hat die junge Wissenschaft der Neurologie ihren größten Förderer, haben die Neurologen aller Länder ihren Lehrmeister, hat Frankreich einen seiner ersten Männer allzufrüh verloren. Er war erst 68 Jahre alt, seine körperliche Kraft wie seine geistige Frische schienen ihn im Einklange mit seinen unverhohlenen Wünschen für jene Langlebigkeit zu bestimmen, die nicht wenigen Geistesarbeitern dieses Jahrhunderts zuteil geworden ist. Die stattlichen neun Bände seiner Oeuvres complètes, in denen seine Schüler seine Beiträge zur Medizin und Neuropathologie gesammelt hatten, dazu die Leçons du Mardi, die Jahresberichte seiner Klinik in der Salpêtrière u. a. m., alle diese Publikationen die der Wissenschaft und seinen Schülern teuer bleiben werden, können uns den Mann nicht ersetzen, der noch viel mehr zu geben und zu lehren hatte, dessen Person oder dessen Werken noch niemand genaht war, ohne von ihnen zu lernen.
Er hatte eine rechtschaffene menschliche Freude an seinem großen Erfolge und pflegte sich gern über seine Anfänge und den Weg, den er gegangen, zu äußern. Seine wissenschaftliche Neugierde war frühzeitig durch das reiche und damals völlig unverstandene Material neuropathologischer Tatsachen erregt worden, wie er erzählte, schon als er junger Interne (Sekundararzt) war. Wenn er damals mit seinem Primararzt die Visite auf einer der Abteilungen der Salpêtrière (Versorgungshaus für Frauen) machte, durch all die Wildnis von Lähmungen, Zuckungen und Krämpfen, für die es vor vierzig Jahren keine Namen und kein Verständnis gab, pflegte er zu sagen: “faudrait y retourner et y rester” und er hielt Wort. Als er médecin des hocirc; pitaux (Primararzt) geworden war, trachtete er alsbald in die Salpêtrière zu kommen, auf eine jener Abteilungen, die die Nervenkranken beherbergten, und einmal dort angelangt, verblieb er auch dort, anstatt, wie es den französischen Primarärzten freisteht, im regelmäßigen Turnus Spital und Abteilung und damit auch die Spezialität zu wechseln.
So war sein erster Eindruck und der Vorsatz, zu dem er geführt hatte, bestimmend für seine gesamte weitere Entwicklung geworden. Die Verfügung über ein großes Material an chronisch Nervenkranken gestattete ihm nun, seine eigentümliche Begabung zu verwerten. Er war kein Grübler, kein Denker, sondern eine künstlerisch begabte Natur, wie er es selbst nannte, ein visuel, ein Seher. Von seiner Arbeitsweise erzählte er uns selbst folgendes: Er pflegte sich die Dinge, die er nicht kannte, immer von neuem anzusehen, Tag für Tag den Eindruck zu verstärken, bis ihm dann plötzlich das Verständnis derselben aufging. Vor seinem geistigen Auge ordnete sich dann das Chaos, welches durch die Wiederkehr immer derselben Symptome vorgetäuscht wurde; es ergaben sich die neuen Krankheitsbilder, gekennzeichnet durch die konstante Verknüpfung gewisser Symptomgruppen; die vollständigen und extremen Fälle, die “Typen”, ließen sich mit Hilfe einer gewissen Art von Schematisierung hervorheben, und von den Typen aus blickte das Auge auf die lange Reihe der abgeschwächten Fälle, der formes frustes, die von dem oder jenem charakteristischen Merkmal des Typus her ins Unbestimmte ausliefen. Er nannte diese Art der Geistesarbeit, in der er keinen Gleichen hatte, “Nosographie treiben” und war stolz auf sie. Man konnte ihn sagen hören, die größte Befriedigung, die ein Mensch erleben könne, sei, etwas Neues zu sehen, d. h. es als neu zu erkennen, und in immer wiederholten Bemerkungen kam er auf die Schwierigkeit und Verdienstlichkeit dieses “Sehens” zurück. Woher es denn komme, daß die Menschen in der Medizin immer nur sehen, was sie zu sehen bereits gelernt haben, wie wunderbar es sei, daß man plötzlich neue Dinge — neue Krankheitszustände — sehen könne, die doch wahrscheinlich so alt seien wie das Menschengeschlecht, und wie er sich selbst sagen müsse, er sehe jetzt manches, was er durch 30 Jahre auf seinen Krankenzimmern übersehen habe. Welchen Reichtum an Formen die Neuropathologie durch ihn gewann, welche Verschärfung und Sicherheit der Diagnose durch seine Beobachtungen ermöglicht wurde, braucht man dem Arzte nur anzudeuten. Der Schüler aber, der mit ihm einen stundenlangen Gang durch die Krankenzimmer der Salpêtrière, dieses Museums von klinischen Fakten, gemacht hatte, deren Namen und Besonderheit größtenteils von ihm selbst herrührten, wurde an Cuvier erinnert, dessen Statue vor dem Jardin des plantes den großen Kenner und Beschreiber der Tierwelt, umgeben von der Fülle tierischer Gestalten, zeigt, oder er mußte an den Mythus von Adam denken, der jenen von Charcot gepriesenen intellektuellen Genuß im höchsten Ausmaß erlebt haben mochte, als ihm Gott die Lebewesen des Paradieses zur Sonderung und Benennung vorführte.
Charcot wurde auch niemals müde, die Rechte der rein klinischen Arbeit, die im Sehen und Ordnen besteht, gegen die Übergriffe der theoretischen Medizin zu verteidigen. Wir waren einmal eine kleine Schar von Fremden beisammen, die, in der deutschen Schulphysiologie auferzogen, ihm durch die Beanständung seiner klinischen Neuheiten lästig fielen: “Das kann doch nicht sein,” wendete ihm einmal einer von uns ein, “das widerspricht ja der Theorie von Young-Helmholtz”. Er erwiderte nicht: “Um so ärger für die Theorie, die Tatsachen der Klinik haben den Vorrang” u. dgl., aber er sagte uns doch, was uns einen großen Eindruck machte: “La théorie, c’est bon, mais ça n’empêche pas d’exister.”
Durch eine ganze Reihe von Jahren hatte Charcot die Professur für pathologische Anatomie in Paris inne, und seine neuropathologischen Arbeiten und Vorlesungen, die ihn rasch auch im Auslande berühmt machten, betrieb er ohne Auftrag als Nebenbeschäftigung; für die Neuropathologie war es aber ein Glück, daß derselbe Mann die Leistung zweier Instanzen auf sich nehmen konnte, einerseits durch klinische Beobachtung die Krankheitsbilder schuf und anderseits beim Typus wie bei der forme fruste die gleiche anatomische Veränderung als Grundlage des Leidens nachwies. Es ist allgemein bekannt, welche Erfolge diese anatomisch-klinische Methode Charcots auf dem Gebiete der organischen Nervenkrankheiten, der Tabes, multiplen Sklerose, der amyotrophischen Lateralsklerose usw. erzielte. Oft bedurfte es jahrelangen geduldigen Harrens, ehe bei diesen chronischen, nicht direkt zum Tode führenden Affektionen der Nachweis der organischen Veränderung gelang, und nur ein Siechenhaus, wie die Salpêtrière, konnte gestatten, die Kranken durch so lange Zeiträume zu verfolgen und zu erhalten. Die erste Feststellung dieser Art machte Charcot übrigens, ehe er über eine Abteilung verfügen konnte. Der Zufall führte ihm während seiner Studienzeit eine Bedienerin zu, die an einem eigentümlichen Zittern litt und wegen ihrer Ungeschicklichkeit keine Stelle bekommen konnte. Charcot erkannte ihren Zustand als die von Duchenne bereits beschriebene paralysie choréiforme, von der aber nicht bekannt war, worauf sie beruhe. Er behielt die interessante Bedienerin, obwohl sie im Laufe der Jahre ein kleines Vermögen an Schüsseln und Tellern kostete, und als sie endlich starb, konnte er an ihr nachweisen, daß die paralysie choréiforme der klinische Ausdruck der multiplen cerebrospinalen Sklerose sei.
Die pathologische Anatomie hat für die Neuropathologie zweierlei zu leisten: neben dem Nachweis der krankhaften Veränderung die Feststellung von deren Lokalisation, und wir alle wissen, daß in den letzten beiden Dezennien der zweite Teil der Aufgabe das größere Interesse gefunden und die größere Förderung erfahren hat. Charcot hat auch an diesem Werke in hervorragendster Weise mitgearbeitet, wenngleich die bahnbrechenden Funde nicht von ihm herrühren. Er folgte zunächst den Spuren unseres Landsmannes Türck, der, wie es heißt, ziemlich einsam in unserer Mitte gelebt und geforscht hat, und als dann die beiden großen Neuerungen kamen, die eine neue Epoche für unsere Kenntnis der “Lokalisation der Nervenkrankheiten” einleiteten, die Reizungsversuche von Hitzig-Fritsch und die Markentwicklungsbefunde von Flechsig, hat er in seinen Vorlesungen über die Lokalisation das Meiste und das Beste dazu getan, die neuen Lehren mit der Klinik zu vereinigen und für sie fruchtbar zu machen. Was speziell die Beziehung der Körpermuskulatur zur motorischen Zone des menschlichen Großhirns betrifft, so erinnere ich daran, wie lange die genauere Art und Topik dieser Beziehung in Frage stand (gemeinsame Vertretung beider Extremitäten an denselben Stellen — Vertretung der oberen Extremität in der vorderen, der unteren in der hinteren Zentralwindung, also vertikale Gliederung), bis endlich fortgesetzte klinische Beobachtungen und Reiz- wie Exstirpationsversuche am lebenden Menschen bei Gelegenheit chirurgischer Eingriffe zugunsten der Ansicht von Charcot und Pitres entschieden, daß das mittlere Drittel der Zentralwindungen vorwiegend der Armvertretung, das obere Drittel und der mediale Anteil der Beinvertretung diene, daß also eine horizontale Gliederung in der motorischen Region durchgeführt sei.
Es würde nicht gelingen, die Bedeutung Charcots für die Neuropathologie durch die Aufzählung einzelner Leistungen zu erweisen, denn es hat in den letzten zwei Dezennien überhaupt nicht viele Themata von einigem Belang gegeben, an deren Aufstellung und Diskussion die Schule der Salpêtrière nicht einen hervorragenden Anteil genommen hätte. “Die Schule der Salpêtrière”, das war natürlich Charcot selbst, der mit dem Reichtume seiner Erfahrung, der durchsichtigen Klarheit seiner Diktion und der Plastik seiner Schilderungen unschwer in jeder Schülerarbeit zu erkennen war. Aus dem Kreise von jungen Männern, die er so an sich heranzog und zu Teilnehmern seiner Forschungen machte, erhoben sich dann einzelne zum Bewußtsein ihrer Individualität, gewannen für sich selbst einen glänzenden Namen, und hie und da kam es auch vor, daß einer mit einer Behauptung hervortrat, die dem Meister mehr geistreich als richtig erschien und die er in Gesprächen und Vorlesungen sarkastisch genug bekämpfte, ohne daß das Verhältnis zu dem geliebten Schüler darunter litt. Tatsächlich hinterläßt Charcot eine Schar von Schülern, deren geistige Qualität und bisherige Leistungen eine Bürgschaft bieten, daß die Pflege der Neuropathologie in Paris nicht so bald von der Höhe heruntergleiten wird, zu der Charcot sie geführt hat.
Wir haben in Wien wiederholt die Erfahrung machen können, daß die geistige Bedeutung eines akademischen Lehrers nicht ohnweiters mit jener direkten persönlichen Beeinflussung der Jugend vereinigt sein muß, die sich in der Schöpfung einer zahlreichen und bedeutsamen Schule äußert. Wenn Charcot in diesem Punkte so viel glücklicher war, so mußte man dies den persönlichen Eigenschaften des Mannes zuschreiben, dem Zauber, der von seiner Erscheinung und Stimme ausging, der liebenswürdigen Offenheit, die sein Benehmen auszeichnete, sobald einmal die gegenseitigen Beziehungen das Stadium der ersten Fremdheit überwunden hatten, der Bereitwilligkeit, mit der er seinen Schülern alles zur Verfügung stellte, und der Treue, die er ihnen durch das Leben hielt. Die Stunden, die er auf seinen Krankenzimmern verbrachte, waren Stunden des Beisammenseins und des Gedankenaustausches mit seinem gesamten ärztlichen Stab; er schloß sich da niemals ein; der jüngste Externe hatte Gelegenheit, ihn bei der Arbeit zu sehen und durfte ihn in dieser Arbeit stören, und dieselbe Freiheit genossen die Fremden, die in späteren Jahren niemals bei seiner Visite fehlten. Endlich, wenn am Abend Madame Charcot ihr gastliches Haus einer auserlesenen Gesellschaft öffnete, unterstützt von einer hochbegabten, in der Ähnlichkeit des Vaters aufblühenden Tochter, so standen die nie fehlenden Schüler und ärztlichen Gehilfen ihres Mannes als ein Teil der Familie den Gästen gegenüber.
Das Jahr 1882 oder 83 brachte die endgültige Gestaltung in Charcots Lebens- und Arbeitsbedingungen. Man war zur Einsicht gekommen, daß das Wirken dieses Mannes einen Teil des Besitzstandes der nationalen Glorie bilde, der nach dem unglücklichen Kriege von 1870/71 um so eifersüchtiger behütet wurde. Die Regierung, an deren Spitze Charcots alter Freund Gambetta stand, schuf für ihn einen Lehrstuhl für Neuropathologie an der Fakultät, für welchen er der pathologischen Anatomie entsagen konnte, und eine Klinik samt wissenschaftlichen Nebeninstituten in der Salpêtrière. “Le service de M. Charcot” umfaßte jetzt nebst den früheren mit chronisch Kranken belegten Räumen mehrere klinische Zimmer, in welche auch Männer Aufnahme fanden, eine riesige Ambulanz, die Consultation externe, ein histologisches Laboratorium, ein Museum, eine elektrotherapeutische, eine Augen- und Ohrenabteilung und ein eigenes photographisches Atelier, als ebensoviel Anlässe, um ehemalige Assistenten und Schüler in festen Stellungen dauernd an die Klinik zu binden. Die zwei Stock hohen, verwittert aussehenden Gebäude mit den Höfen, die sie umschlossen, erinnerten den Fremden auffällig an unser Allgemeines Krankenhaus, aber die Ähnlichkeit ging wohl nicht weit genug. “Es ist vielleicht nicht schön hier,” sagte Charcot, wenn er dem Besucher seinen Besitz zeigte, “aber man findet Platz für alles, was man machen will.”
Charcot stand auf der Höhe des Lebens, als ihm diese Fülle von Lehr- und Forschungsmitteln zur Verfügung gestellt wurde. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, ich glaube, immer noch der fleißigste der ganzen Schule. Eine Privatordination, zu der sich die Kranken “aus Samarkand und von den Antillen” drängten, vermochte es nicht, ihn seiner Lehrtätigkeit oder seinen Forschungen zu entfremden. Sicherlich wandte sich dieser Zulauf von Menschen nicht allein an den berühmten Forscher, sondern ebensosehr an den großen Arzt und Menschenfreund, der immer einen Bescheid zu finden wußte und dort erriet, wo der gegenwärtige Zustand der Wissenschaft ihm nicht gestattete zu wissen. Man hat ihm vielfach seine Therapie zum Vorwurf gemacht, die durch ihren Reichtum an Verschreibungen ein rationalistisches Gewissen beleidigen mußte. Allein er setzte einfach die örtlich und zeitlich gebräuchlichen Methoden fort, ohne sich über deren Wirksamkeit viel zu täuschen. In der therapeutischen Erwartung war er übrigens nicht pessimistisch und hat früher und später die Hand dazu geboten, neue Behandlungsmethoden an seiner Klinik zu versuchen, deren kurzlebiger Erfolg von anderer Seite her seine Aufklärung fand. Als Lehrer war Charcot geradezu fesselnd, jeder seiner Vorträge ein kleines Kunstwerk an Aufbau und Gliederung, formvollendet und in einer Weise eindringlich, daß man den ganzen Tag über das gehörte Wort nicht aus seinem Ohr und das demonstrierte Objekt nicht aus dem Sinne bringen konnte. Er demonstrierte selten einen einzigen Kranken, meist eine Reihe oder Gegenstücke, die er miteinander verglich. Der Saal, in welchem er seine Vorlesungen hielt, war mit einem Bilde geschmückt, welches den “Bürger” Pinel darstellt, wie er den armen Irrsinnigen der Salpêtrière die Fesseln abnehmen läßt; die Salpêtrière, die während der Revolution so viel Schrecken gesehen, war doch auch die Stätte dieser humansten aller Umwälzungen gewesen. Meister Charcot selbst machte bei einer solchen Vorlesung einen eigentümlichen Eindruck; er, der sonst vor Lebhaftigkeit und Heiterkeit übersprudelte, auf dessen Lippen der Witz nicht erstarb, sah dann unter seinem Samtkäppchen ernst und feierlich, ja eigentlich gealtert aus, seine Stimme klang uns wie gedämpft, und wir konnten etwa verstehen, wieso übelwollende Fremde dazu kamen, der ganzen Vorlesung den Vorwurf des Theatralischen zu machen. Die so sprachen, waren wohl die Formlosigkeit des deutschen klinischen Vortrags gewöhnt oder vergaßen, daß Charcot nur eine Vorlesung in der Woche hielt, die er also sorgfältig vorbereiten konnte.
Folgte Charcot mit dieser feierlichen Vorlesung, in der alles vorbereitet war und alles eintreffen mußte, wahrscheinlich einer eingewurzelten Tradition, so empfand er doch auch das Bedürfnis, seinen Hörern ein minder verkünsteltes Bild seiner Tätigkeit zu geben. Dazu diente ihm die Ambulanz der Klinik, die er in den sogenannten Leçons du Mardi persönlich erledigte. Da nahm er ihm völlig unbekannte Fälle vor, setzte sich allen Wechselfällen des Examens, allen Irrwegen einer ersten Untersuchung aus, warf seine Autorität von sich, um gelegentlich einzugestehen, daß dieser Fall keine Diagnose zulasse, daß in jenem ihn der Anschein getäuscht habe, und niemals erschien er seinen Hörern größer, als nachdem er sich so bemüht hatte, durch die eingehendste Rechenschaft über seine Gedankengänge, durch die größte Offenheit in seinen Zweifeln und Bedenken die Kluft zwischen Lehrer und Schülern zu verringern. Die Veröffentlichung dieser improvisierten Vorträge aus den Jahren 1887 und 1888, zunächst in französischer, gegenwärtig auch in deutscher Sprache, hat auch den Kreis seiner Bewunderer ins Ungemessene erweitert, und niemals hat ein neuropathologisches Werk einen ähnlichen Erfolg im ärztlichen Publikum erzielt wie dieses.
Ungefähr gleichzeitig mit der Errichtung der Klinik und dem Zurücktreten der pathologischen Anatomie vollzog sich eine Wandlung in Charcots wissenschaftlichen Neigungen, der wir die schönsten seiner Arbeiten danken. Er erklärte nun, die Lehre von den organischen Nervenkrankheiten sei vorderhand ziemlich abgeschlossen, und begann sein Interesse fast ausschließlich der Hysterie zuzuwenden, die so mit einem Schlage in den Brennpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gelangte. Diese rätselhafteste aller Nervenkrankheiten, für deren Beurteilung die Ärzte noch keinen tauglichen Gesichtspunkt gefunden hatten, war gerade damals recht in Mißkredit geraten, der sich sowohl auf die Kranken als auf die Ärzte erstreckte, die sich mit der Neurose beschäftigten. Es hieß, bei der Hysterie ist alles möglich, und den Hysterischen wollte man nichts glauben. Die Arbeit Charcots gab dem Thema zunächst seine Würde wieder; man gewöhnte sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke damals sicher rechnen konnte; sie mußte nicht mehr eine Simulantin sein, da Charcot mit seiner vollen Autorität für die Echtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat. Charcot hatte im kleinen die Tat der Befreiung wiederholt, wegen welcher das Bild Pinels den Hörsaal der Salpêtrière zierte. Nachdem man nun der blinden Furcht entsagt hatte, von den armen Kranken genarrt zu werden, welche einer ernsthaften Beschäftigung mit der Neurose bisher im Wege gestanden war, konnte es sich fragen, welche Art der Bearbeitung auf dem kürzesten Wege zur Lösung des Problems führen würde. Für einen ganz unbefangenen Beobachter hätte sich folgende Anknüpfung dargeboten: Wenn ich einen Menschen in einem Zustande finde, der alle Zeichen eines schmerzhaften Affekts an sich trägt, im Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der Schluß nahe, einen seelischen Vorgang in diesem Menschen zu vermuten, dessen berechtigte Äußerung jene körperlichen Phänomene sind. Der Gesunde wäre dann imstande mitzuteilen, welcher Eindruck ihn peinigt, der Hysterische würde antworten, er wisse es nicht, und das Problem wäre sofort gegeben, woher es komme, daß der Hysterische einem Affekt unterliegt, von dessen Veranlassung er nichts zu wissen behauptet. Hält man nun an seinem Schlusse fest, daß ein entsprechender psychischer Vorgang vorhanden sein müsse, und schenkt dabei doch der Behauptung des Kranken Glauben, der denselben verleugnet, sammelt man die vielfachen Anzeichen, aus denen hervorgeht, daß der Kranke sich so benimmt, als wüßte er doch darum, forscht man in der Lebensgeschichte des Kranken nach und findet in derselben einen Anlaß, ein Trauma, welches geeignet ist, gerade solche Affektäußerungen zu erzeugen, so drängt dies alles zur Lösung, daß der Kranke sich in einem besonderen Seelenzustande befinde, in dem das Band des Zusammenhanges nicht mehr alle Eindrücke oder Erinnerungen an solche umschlinge, in dem es einer Erinnerung möglich sei, ihren Affekt durch körperliche Phänomene zu äußern, ohne daß die Gruppe der anderen seelischen Vorgänge, das Ich, darum wisse oder hindernd eingreifen könne, und die Erinnerung an die allbekannte psychologische Verschiedenheit von Schlaf und Wachen hätte das Fremdartige dieser Annahme verringern können. Man wende nicht ein, daß die Theorie einer Spaltung des Bewußtseins als Lösung des Rätsels der Hysterie viel zu ferne liegt, als daß sie sich dem unbefangenen und ungeschulten Beobachter aufdrängen könnte. Tatsächlich hatte das Mittelalter doch diese Lösung gewählt, indem es die Besessenheit durch einen Dämon für die Ursache der hysterischen Phänomene erklärte; es hätte sich nur darum gehandelt, für die religiöse Terminologie jener dunkeln und abergläubischen Zeit die wissenschaftliche der Gegenwart einzusetzen.
Charcot betrat nicht diesen Weg zur Aufklärung der Hysterie, obwohl er aus den erhaltenen Berichten der Hexenprozesse und der Besessenheit reichlich schöpfte, um zu erweisen, daß die Erscheinungen der Neurose damals dieselben gewesen seien wie heute. Er behandelte die Hysterie wie ein anderes Thema der Neuropathologie, gab die vollständige Beschreibung ihrer Erscheinungen, wies Gesetz und Regel in denselben nach, lehrte die Symptome kennen, welche eine Diagnose der Hysterie ermöglichen. Die sorgfältigsten Untersuchungen, die von ihm und seinen Schülern ausgingen, verbreiteten sich über die Sensibilitätsstörungen der Hysterie an der Haut und den tiefen Teilen, das Verhalten der Sinnesorgane, die Eigentümlichkeiten der hysterischen Kontrakturen und Lähmungen, der trophischen Störungen und der Veränderungen des Stoffwechsels. Die mannigfachen Formen des hysterischen Anfalls wurden beschrieben, ein Schema aufgestellt, welches die typische Gestaltung des großen hysterischen Anfalls in vier Stadien schilderte und die Zurückführung der gemeinhin beobachteten “kleinen” Anfälle auf den Typus gestattete, ebenso die Lage und Häufigkeit der sogenannten hysterogenen Zonen, deren Beziehung zu den Anfällen studiert usw. Mit all diesen Kenntnissen über die Erscheinung der Hysterie ausgestattet, machte man nun eine Reihe überraschender Entdeckungen; man fand die Hysterie beim männlichen Geschlechte und besonders bei den Männern der Arbeiterklasse mit einer Häufigkeit, die man nicht vermutet hatte, man überzeugte sich, daß gewisse Zufälle, die man der Alkohol-, der Blei-Intoxikation zugeschrieben hatte, der Hysterie angehörten, man war imstande, eine ganze Anzahl von bisher unverstanden und isoliert dastehenden Affektionen unter die Hysterie zu subsumieren und den Anteil der Hysterie auszuscheiden, wo sich die Neurose mit anderen Affektionen zu komplexen Bildern vereinigt hatte. Am weittragendsten waren wohl die Forschungen über die Nervenerkrankungen nach schweren Traumen, die “traumatischen Neurosen”, deren Auffassung jetzt noch in Diskussion steht, und bei welchen Charcot das Recht der Hysterie erfolgreich vertreten hat.
Nachdem die letzten Ausdehnungen des Begriffes der Hysterie so häufig zur Verwerfung ätiologischer Diagnosen geführt hatten, ergab sich die Notwendigkeit, auf die Ätiologie der Hysterie einzugehen. Charcot stellte eine einfache Formel für diese auf: als einzige Ursache hat die Heredität zu gelten, die Hysterie ist demnach eine Form der Entartung, ein Mitglied der famille névropathique; alle anderen ätiologischen Momente spielen die Rolle von Gelegenheitsursachen, von agents provocateurs.
Der Aufbau dieses großen Gebäudes fand natürlich nicht ohne heftigen Widerspruch statt, allein es war der unfruchtbare Widerspruch einer alten Generation, die ihre Anschauungen nicht verändert wissen wollte; die Jüngeren unter den Neuropathologen, auch Deutschlands, nahmen Charcots Lehren in größerem oder geringerem Ausmaße an. Charcot selbst war des Sieges seiner Lehren von der Hysterie vollkommen sicher; wollte man ihm einwenden, daß die vier Stadien des Anfalls, die Hysterie bei Männern usw., anderswo als in Frankreich nicht zu beobachten seien, so wies er darauf hin, wie lange er diese Dinge selbst übersehen habe, und wiederholte, die Hysterie sei allerorten und zu allen Zeiten die nämliche. Gegen den Vorwurf, daß die Franzosen eine weit nervösere Nation seien als andere, die Hysterie gleichsam eine nationale Unart, war er sehr empfindlich und konnte sich sehr freuen, wenn eine Publikation “über einen Fall von Reflexepilepsie” bei einem preußischen Grenadier ihm auf Distanz die Diagnose der Hysterie ermöglichte.
An einer Stelle seiner Arbeit ging Charcot noch über das Niveau seiner sonstigen Behandlung der Hysterie hinaus und tat einen Schritt, der ihm für alle Zeiten auch den Ruhm des ersten Erklärers der Hysterie sichert. Mit dem Studium der hysterischen Lähmungen beschäftigt, die nach Traumen entstehen, kam er auf den Einfall, diese Lähmungen, die er vorher sorgfältig von den organischen differenziert hatte, künstlich zu reproduzieren, und bediente sich hiezu hysterischer Patienten, die er durch Hypnotisieren in den Zustand des Somnambulismus versetzte. Es gelang ihm durch lückenlose Schlußfolge nachzuweisen, daß diese Lähmungen Erfolge von Vorstellungen seien, die in Momenten besonderer Disposition das Gehirn des Kranken beherrscht hatten. Damit war zum ersten Male der Mechanismus eines hysterischen Phänomens aufgeklärt, und an dieses unvergleichlich schöne Stück klinischer Forschung knüpfte dann sein eigener Schüler P. Janet, knüpften Breuer u. a. an, um eine Theorie der Neurose zu entwerfen, welche sich mit der Auffassung des Mittelalters deckt, nachdem sie den “Dämon” der priesterlichen Phantasie durch eine psychologische Formel ersetzt hat.
Charcots Beschäftigung mit den hypnotischen Phänomenen bei Hysterischen gereichte diesem bedeutungsvollen Gebiet von bisher vernachlässigten und verachteten Tatsachen zur größten Förderung, indem das Gewicht seines Namens dem Zweifel an der Realität der hypnotischen Erscheinungen ein für allemal ein Ende machte. Allein der rein psychologische Gegenstand vertrug die ausschließlich nosographische Behandlung nicht, die er bei der Schule der Salpêtrière fand. Die Beschränkung des Studiums der Hypnose auf die Hysterischen, die Unterscheidung von großem und kleinem Hypnotismus, die Aufstellung dreier Stadien der “großen Hypnose” und deren Kennzeichnung durch somatische Phänomene, dies alles unterlag in der Schätzung der Zeitgenossen, als Lièbaults Schüler Bernheim es unternahm, die Lehre vom Hypnotismus auf einer umfassenderen psychologischen Grundlage aufzubauen und die Suggestion zum Kernpunkt der Hypnose zu machen. Nur die Gegner des Hypnotismus, die sich damit zufrieden geben, ihren Mangel an eigener Erfahrung durch Berufung auf eine Autorität zu verdecken, halten noch an den Aufstellungen Charcots fest und lieben es, eine aus seinen letzten Jahren stammende Äußerung zu verwerten, die der Hypnose eine jede Bedeutung als Heilmittel abspricht.
Auch an den ätiologischen Theorien, die Charcot in seiner Lehre von der famille névropathique vertrat, und die er zur Grundlage seiner gesamten Auffassung der Nervenkrankheiten gemacht hatte, wird wohl bald zu rütteln und zu korrigieren sein. Charcot überschätzte die Heredität als Ursache so sehr, daß kein Raum für die Erwerbung von Neuropathien übrig blieb, er wies der Syphilis nur einen bescheidenen Platz unter den agents provocateurs an, und er trennte weder für die Ätiologie, noch sonst hinreichend scharf die organischen Nervenaffektionen von den Neurosen. Es ist unausbleiblich, daß der Fortschritt unserer Wissenschaft, indem er unsere Kenntnisse vermehrt, auch manches von dem entwertet, was uns Charcot gelehrt hat, aber kein Wechsel der Zeiten oder der Meinungen wird den Nachruhm des Mannes zu schmälern vermögen, um den wir jetzt — in Frankreich und anderwärts — alle trauern.
Wien, im August 1893.
[CD, 23.9.2015]