Thomas Aichhorn zu Rosa Dworschak

Rosa Dworschak war eine Großnichte des Komponisten Robert Fuchs (1). Ihr Vater war Militärkapellmeister, später Ministerialbeamter. Er spielte und unterrichtete Geige und dirigierte seine eigene Salonkapelle, mit der er auch seine Kompositionen aufführte. Er gab seiner Tochter ihren ersten Musikunterricht. Schon als Jugendliche wurde Rosa Dworschaks Mitglied der Guttempler, einer Organisation zur Bekämpfung der Trunksucht, und organisierte Ausflüge mit Trinkerkindern. Sie besuchte die Vereinigte Fachkurse für Volkspflege, die Ilse Arlt (2) begründet hatte, und bekam 1916 ihre erste Anstellung als Kücheninspektorin im Kriegsflüchtlingslager Gmünd, Niederösterreich. 1917 trat sie eine Stelle am Wiener Jugendamt an, wo sie August Aichhorn kennen lernte.
In einem Interview vom 10. 5. 1986 (3) berichtete sie: „Meine erste Begegnung mit Aichhorn war am 2. 1. 1917, da bin ich ins Jugendamt eingetreten. […] Dann bin ich nach Pottendorf gekommen und zur selben Zeit hat Aichhorn schon die Vorbereitungen gehabt für Hollabrunn. Er hat mich dann schon näher gekannt und hat gesagt, er muß dieses Barackenlager übernehmen, um es verwenden zu können. Es war damals, 1918, noch für Flüchtlinge, ich soll aber mitfahren und ihm dabei helfen Medikamente zu sortieren und anderes. Unterwegs hat er mir Vorträge gehalten und die Schriften von Sigmund Freud vorgelesen. Ich habe gefunden: ein furchtbarer Blödsinn. Ich habe ihm das auch gesagt und er hat in seiner Art - er hatte eine so ruhige Art, er hat nie irgendwie dagegen gesprochen - gesagt: Ja, aber es wird schon was Wahres dran sein! Das habe ich mir gemerkt, es hat auf mich einen großen Eindruck gemacht und ich habe mich dann mehr damit beschäftigt. Dann hat er mir, wie Hollabrunn eröffnet worden ist, gesagt, entweder muß die Baderle-Hollstein (4) oder ich mit hinaus kommen als Fürsorgeleiterin. Ich habe gesagt, nein, ich geh’ von Pottendorf nicht weg und da ist die Trude Baderle gegangen.“
Von 1919 bis 1920 leitete sie das Erholungsheim für Kriegerwitwen und -waisen in Pottendorf, Niederösterreich. Als das Heim geschlossen wurde, kehrte sie ins Wiener Jugendamt zurück und arbeitete als Fürsorgeleiterin in verschiedenen Wiener Bezirksjugendämtern, wo sie Aichhorns engste Mitarbeiterin in der von ihm eingeführten Erziehungsberatung war. „Zur Psychoanalyse führte sie die Einsicht“, schrieb Aichhorn, „daß der Behebung der Verwahrlosung sehr enge Grenzen gesetzt sind, ohne Verwertung der psychoanalytischen Forschung.“
Als Aichhorn ab 1923 als Erziehungsberater in den Wiener Bezirksjugendämtern arbeitete, waren sie einander wieder begegnet. Rosl Dworschak arbeite damals als Fürsorgerin im Jugendamt Ottakring, wo sie auch Anna Freud, die Aichhorn oft begleitet hatte, kennen lernte und sich mit Margarethe Mahler-Schönberger anfreundete, die in einer Schule, der Rosa Dworschak als Fürsorgerin zugeteilt war, die Schulärztin war.
In Ihrer Arbeit Sozialarbeit in vergangenen schwierigen Zeiten berichtet sie über die Zeit des Nationalsozialismus: „Die Befürsorgten erlebten in diesen Zeiten und später in der Kriegszeit weniger Not aber viel Angst. Das Versagen wurde sehr ernst genommen von der herrschenden Gesellschaft. (…) Immer stand dahinter die Schwäche und die Angst vor etwaigen Folgen. Versagen der Kinder in der Schule, kleine Diebstähle oder andere Vergehen konnten zu einer Zerstörung der Familie führen. Besonders stark war die Angst bei denen, die bereits einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren oder bei Eltern, deren Kinder in einem Heim lebten. (…) Die Sozialarbeiter wurden in ihren Berichten vorsichtig, sie vermieden sogar, wenn es ihnen notwendig schien, eine Schulnachfrage zu machen. (…) Der Einzelne galt nichts, sein Nutzen für die Gesellschaft war der einzig gültige Maßstab. (…) Es ist daher verständlich, daß die Zeit nach 1945 (…) auch in beruflicher Hinsicht positiv erlebt wurde.“
Während der Zeit, als sie als Sozialarbeiterin arbeitete, studierte sie bei dem Schönbergschüler Paul Pisk und bei Ferdinand Rebay (5) Komposition. Sie hinterließ zahlreiche Kompositionen, Lieder, Kammermusik, Werke für Orchester und erste Skizzen für eine Märchenoper „Das Feuerlied“ nach einem Libretto des Psychoanalytikers Theon Spanudis.
Nach 1945 war Rosa Dworschak eine der einflussreichsten Fürsorgerinnen und Therapeutinnen in der Verwahrlostenbetreuung und trat maßgeblich für die Modernisierung der Fürsorge ein. Im Herbst 1945 begann sie, zusammen mit Friedl Aufreiter und August Aichhorn, den Kurs Einführung in die Erziehungsberatung für Erziehungsberater des Städtischen Jugendamtes und für Berufsberater des Wiener Arbeitsamtes, aus dem das von 1946 bis zum Wintersemester 48/49 abgehaltene Seminar für Psychoanalytische Erziehungsberatung der WPV hervorging. Mit Hedwig Bolterauer baute sie die Erziehungsberatung - Child Guidance Clinic - der WPV auf. Sie sollte ursprünglich für längere Zeit in die USA gehen, um dort die Arbeit an einer Child Guidance Clinic zu studieren. Der dafür nötige Urlaub wurde ihr nicht bewilligt. 1948 machte sie Studienreise nach Genf und in die Niederlande, 1949 wurde sie, mit einem Vortrag über ihre Erfahrungen während dieser Studienreise, Mitglied der WPV. Im selben Jahr begründete sie die erste öffentliche Wiener Child Guidance Clinic, das Institut für Erziehungshilfe,  an der sie bis zu ihrer Pensionierung 1962 als Erziehungsberaterin und Therapeutin für Kinder und Jugendliche arbeitete. 1950 gründete sie zusammen mit Lambert Bolterauer die „August-Aichhorn-Gesellschaft“, die die Aufgabe hatte, Themen der Psychoanalyse in öffentlichen Vorträgen zu verbreiten. Sie war eine der Initiatorinnen des Kurses für psychiatrische Fürsorgerinnen und unterrichtete an einer Schule für Sozialarbeit. Noch während ihrer beruflichen Arbeit und auch nachdem sie pensioniert worden war, regte sie in vielen Lehrgängen und Vorträgen in den deutschsprachigen Ländern Sozialarbeiter dazu an, sich mit der Case-Work-Methode vertraut zu machen. Auch nach ihrer Pensionierung blieb sie bis ins hohe Alter als Vortragende und Supervisorin für Sozialarbeiter, Bewährungshelfer und Erzieher tätig.
Die Liste ihrer veröffentlichten Arbeiten umfasst etwa 24 Titel, ihr 1969 veröffentlichtes Buch Der Verwahrloste und seine Helfer, aus der Praxis des Sozialarbeiters ist von ihrem Interesse an den theoretischen Fragen des Verstehens und den praktischen Hilfsmöglichkeiten in Bezug auf Verwahrlosung und Kriminalität getragen. Sie zeigt auf, daß auch beste Kenntnisse nicht zu befriedigenden praktischen Ergebnissen führen können, wenn nicht im Helfer auf Grund seiner persönlichen Reife schöpferisch-intutive Kräfte wirksam sind.
Im Juni 1971 schreibt ihr K. R. Eissler über ihr Buch: „Ich wollt es rasch überfliegen + Ihnen meinen Eindruck übermitteln. Ihre Sprache hat mich aber so gefesselt, dass ich es genau gelesen habe. Ihre Sprache ist sehr anheimelnd + anziehend, man fühlt sich in ihr sehr wohl. Sie erinnert sehr an Gottfried Keller. Man merkt dies besonders an den klinischen Berichten. Gewöhnlich schreiben Autoren zu viel oder zu wenig, wenn sie klinisches Material darstellen. Ihre Art ist bestechend dadurch, dass man sich das Tatsächliche lebhaft vorstellen kann, niemals das Gefühl hat, man müsse mehr wissen, um Ihren Konklusionen folgen zu können oder ungeduldig wird, weil Unnötiges berichtet wird. Eine solche Kongruenz zwischen dargestelltem + Erschlossenen habe ich bei keinem anderen Autor empfunden. Die Kunst Ihrer Sprache erstreckt sich auch auf das Theoretische. Sie stellen Bekanntes so originell dar + treten dabei in den Hintergrund, dass man Bekanntes vermeint zum ersten Male zu hören. […] Sie haben dem Andenken Aichhorns einen großen Dienst erwiesen. Sie haben seine Lehre schöner dargestellt als es ihm je gelungen ist. Sie haben sie weitergeführt + bereichert. Es tut mir weh, dass er das kleine Buch nicht lesen kann, es hätte ihn so gefreut. Wir alle, die von Aichhorn so viel gelernt haben und ihm so viel schulden, sind Ihnen zu Dank verpflichtet, denn Sie haben hier etwas geleistet, was die Pflicht von uns allen ist. Die meisten wandten sich anderen Erkrankungsarten zu. Wer hat den Idealismus bei den Verwahrlosten zu bleiben. Nur wenige wie Sie. So haben Sie dazu beigetragen, das schlechte Gewissen vieler seiner Schüler zu mäßigen. Auch dafür danke ich Ihnen sehr“ (NRD).
Rosa Dworschak antwortet ihm: „Lieber Dr. Eissler! Können Sie überhaupt ahnen, wie sehr mich Ihr Brief freut? Ich habe ihn mehr als einmal gelesen und jedes Mal ist es mir, als hätten nur Sie völlig verstanden, warum dieses Buch geschrieben wurde. Als Aichhorn starb, hatte ich das Gefühl, nun bliebe mir nur mehr die Identifizierung mit ihm, ein gemeinsames Weiterleben auf seinem Arbeitsgebiet. Damals habe ich begonnen, Vorträge zu halten. Ich war in mehr als dreißig deutschen Städten und habe zu Fürsorgerinnen gesprochen, ich raufte mich mit der deutschen Art herum und konnte mich besser mit den Norddeutschen verständigen. Das Hilfsmittel war das gemeinsame Interesse an der Arbeit. Und dann trieb es mich dazu, niederzuschreiben, was ich durch Aichhorn, durch die Psychoanalyse überhaupt und durch meine praktische Arbeit gelernt hatte. […]
Sicher kommen Sie zum Kongreß nach und werden mitten in dem Trubel stecken. [1971 hat der 27. Kongress der IPV in Wien stattgefunden. Anna Freud war damals zum ersten Mal seit 1938 wieder in Wien]. Die Vorbereitungen allein müssen in einem Ausmaß erfolgen, daß mir die Teilnehmer jetzt schon unheimlich sind. Anna Freud tut mir leid, ganz wird sie sich dem nicht entziehen können. Vielleicht, und das hoffe ich, kann ich Sie doch begrüßen und Ihnen persönlich nochmals danken für Ihren Brief“ (NRD).
In einem Nachruf schrieb Lizzi Mirecki: „Kaum ein anderer verstand wie sie, die selbst schöpferisch begabt war, das eigenständige, intuitive Handeln im anderen zu erkennen und zu fördern. Dem Helfer sowie dem Hilfsbedürftigen konnte sie ein Maß an Sicherheit vermitteln, das ihn befähigte, sein Handeln zu überdenken. Da man sich wegen seiner Handlungsweise nicht mehr schämen mußte, konnte man die eigene Impulsivität und die durch eigenes Vorurteil oder Erlebnis bedingte Befangenheit eingestehen. Immer regte sie zur Reflexion des eigenen Handelns an bzw. half sie, einem Unerklärliches zu erklären. Dazu bediente sie sich einer ähnlichen Geschichte, um der Betroffenheit des Nichtsahnenden Zeit und Raum zu lassen.“

Anmerkungen:

    (1) Robert Fuchs wird am 15. Februar 1847 als jüngstes von dreizehn Kindern in der kleinen weststeirischen Gemeinde Frauental an der Laßnitz geboren. Er wird zuerst Lehrer in Graz und lebt dann von 1865 bis zu seinem Tod in Wien. Er studiert am Wiener Konservatorium Komposition bei Felix Otto Dessoff. Als Abschlussstück seines Studiums präsentiert er 1867 bereits eine Sinfonie. 1875 bis 1912 ist er Professor für Theorie am Wiener Konservatorium. Berühmte Schüler sind Leo Fall, Richard Heuberger, Gustav Mahler, Erich Wolfgang Korngold, Richard Strauss, Hugo Wolf, Jean Sibelius, Franz Schmidt, Franz Schreker und Alexander von Zemlinsky. In den Jahren 1894 bis 1905 ist er außerdem Organist der Wiener Hofkapelle. Er stirbt vier Tage nach seinem 80. Geburtstag, angeblich an den Folgen der Anstrengungen seiner Geburtstagsfeier. Er erhält 1886 den Beethovenpreis. Robert Fuchs schrieb im Laufe seines Lebens 2 Opern („Die Königsbraut“, 1889 und „Die Teufelsglocke“, 1893), 5 Sinfonien, 5 Orchesterserenaden, 4 Streichquartette, ein Klavierkonzert, 3 Klaviersonaten, 2 Cellosonaten, eine Violasonate, eine Kontrabasssonate, 6 Violinsonaten, Klaviertrios und Streichtrios. Außerdem verfasste er Stücke für Orgel, Lieder, Kirchenmusik, Kammermusik und andere Stücke für verschiedenste Besetzungen. Die erste seiner fünf Serenaden schrieb er im Jahr 1874, mit der er berühmt wurde und die ihm zu seinem Spitznamen „Serenaden-Fuchs“ verhalf. Johannes Brahms lobte und förderte Robert Fuchs in weiterer Folge. Mit den beiden Sinfonien aus den Jahren 1886 und 1887 konnte er seinen Popularität fortführen, während er mit seinen beiden Opern bei weitem nicht so erfolgreich war. Heute ist der Komponist (zu Unrecht) weitgehend in Vergessenheit geraten.
    Fuchs, Johann Nepomuk, * 5. Mai 1842 in Frauenthal (Steiermark) † 5. Okt. 1899 in Vöslau bei Wien, Bruder von Robert Fuchs. Werke: Cingara, die Gnomenkönigin romantisch-komische Oper 3 Akte (1864-1866)
    (2) Ilse von Arlt (1876-1960) hatte 1912 in Wien die „Vereinigten Fachkurse für Volkspflege“ als erste Fürsorgeschule Österreich-Ungarns gegründet. 1938 wurde ihr Lebenswerk von den Nationalsozialisten zerstört, die Schule geschlossen, ihre Bücher eingestampft und ihr privater Besitz beschlagnahmt. Zudem erhielt sie Schreibverbot. Nach Kriegsende konnte sie die Schule 1945 nur für drei Jahre wieder eröffnen, um sie aufgrund großer finanzieller Schwierigkeiten endgültig zu schließen (vgl. Staub-Bernasconi 1996).
    (3) Elisabeth Brainin, Margarete Grimm und Vera Ligeti
    (4) Paul Amadeus Pisk (1893-1990) promovierte 1916 bei Guido Adler, im Jahr darauf begann er privaten Unterricht bei A. Schönberg in Mödling zu nehmen. Im Verein für musikalische Privataufführungen war er als Vorstandsmitglied, Sekretär und Pianist tätig. Er unterrichtete Musiktheorie, war einer der Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und 1920 – 1928 war er Mitherausgeber der Musikblätter des Anbruch. 1936 emigrierte er in die USA. Er unterrichtete an der University of Redlands, California, an der University of Texas in Austin und an der Washington University. Schließlich hat er sich in Los Angeles niedergelassen, wo er unterrichtete und komponierte. Er war ein viel beachteter Musikkritiker und hinterließ 36 Werke, Streichquartette, Volkstänze und Werke für Klavier und Chor. 
    (5) Ferdinand Rebay: Geboren 1880 in Wien, Pianist, Klavierpädagoge, Chormeister, Sängerknabe am Stift Heiligenkreuz, ab 1901 Studium Komposition (Robert Fuchs [ein Onkel R. Dworschaks]) und Klavier am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde (heute Universität für Musik und darstellende Kunst) Wien. 1904 Abschluss mit Auszeichnung, Silbermedaille der Gesellschaft der Musikfreunde. Privatlehrer für Klavier und Theorie, Lehrer Staatsprüfungskurse, Klavierschule Schwender. Klavierauszüge für Breitkopf und Härtel, Schott (Korngold-Opern). 1904-20 Chormeister Wiener Chor-Verein, 1915-20 Chormeister des Schubertbunds, ab 1921 Klavierunterricht Akademie (heute Universität) für Musik und darstellende Kunst Wien, 1929 Lehrtätigkeit Didaktische Methoden, Unterrichtsliteratur, 1933 Mitglied Disziplinarkommission. 1938 Zwangsweise Nichterneuerung des Vertrags, erst 1945 wieder Klavierklasse Hauptfach, 1946 Ruhestand.  Verstorben 1953 Wien.

Thomas Aichhorn, 2008
Redaktion: CD, 15.6.2013